"Ich wollte noch einmal mit Dir reden, bevor ich fahre", suchte ich einen neuen
Anfang, "wollte Dir ein paar Dinge sagen, die schon längst hätten ausgesprochen
werden müssen zwischen uns."
Vier Jahre, dachte ich, vier Jahre geht das nun schon so. Warum sagt man die
wirklich wichtigen Dinge eigentlich immer erst, wenn es zu spät ist.
"Ich gehe in Wirklichkeit fort wegen Dir." Die Worte platzten mit ungewollter
Heftigkeit aus mir heraus.
"Ich muß weg, weil ich das nicht mehr ertrage mit Dir, die Distanz, die so nah
ist, Du bist die Frau, die mir am nächsten steht, aber wir sind nicht zusammen.
Und solange ich in Deiner Nähe bin, wird sich das nicht ändern. Ich fühle mich
in so seltsamer Weise an Dich gekettet, bin unfrei, aber ohne Sicherheit. Ich
ertrage das nicht mehr. Nicht so."
"Ich dachte, das Thema hätten wir durch." Katharina sagte es mit betont
gleichgültiger Stimme. "Du hast es halt nicht, das gewisse Etwas. Kann man
nichts machen."
"Ich will Dir mal was sagen." Mit leichter Panik registrierte ich, daß mir
meine so sorgsam vorbereitete Rede mehr und mehr entglitt, mein Temprament ins
Wallen geriet. "Wir haben genug Dinge zusammen erlebt, daß ich weiß, daß Du
nicht die kühle Schöne bist, für die Du Dich gibst. Ich weiß um Dein
Innenleben, Deine Verletzlichkeit. Deine Träume. Es ist eine ganze Menge
'rübergekommen bei den zahllosen Weinflaschen, die wir zusammen leergesumpft
haben. ich habe sie gesehen, die kleinen Signale und Gesten, die mehr über Dich
sagen, als Du gerne möchtest."
Die schwarzgekleidete Frau antwortete mit sorgfältig dosiertem Zynismus. "Es
kann natürlich nicht sein, daß Du Dir das nur einbildest", sagte sie mit einem
Blick, der jeden außer mir zu Eis gefroren hätte.
"Ich mag zwar eine Träumerin sein, aber meine Intuition trügt mich selten", gab
ich leiser zurück, "und ich habe sie gesehen,
Deine Träume. Ich weiß, daß sie
dasind. Daran ändert auch Dein rationales Gefasel von wegen 'Wahre Liebe gibt
es ja sowieso nicht' kein bißchen. Denkst Du nicht, ich habe nicht gesehen, was
abgeht bei Deinen zahllosen Affairen?"
"Ich verstehe." Die sorgfältig nachgezogenen schmalen Augenbrauen in dem weißen
Gesicht hoben sich um eine besserwisserische Spur. "Du bist sauer, weil Du
nicht zum Zug gekommen bist. Du bist nun mal nicht mein Typ, meine Liebe."
"Ja, ich gebe zu, daß ich eifersüchtig war, selbst wenn ich selbst eine Kiste
am Laufen hatte", entfuhr es mir mit einem leichten Stich im Herzen. Meine
Gefühle begannen sich Bahn zu brechen.
"Glaubst Du, ich habe nicht begriffen, was da abgeht? Die jungen Mädels, die Du
Dir geangelt hast, nie länger als für drei Wochen, bloß nichts Festes, weil es
ja sowieso keine wahre Liebe gibt?"
"Jaaah", antwortete sie gedehnt, "Du wirst es nicht für möglich halten, aber
auch ich habe sexuelle Bedürfnisse." Der präzise rotgeschminkte Mund zog sich
zu einem noch schmaleren Strich zusammen.
"Es geht doch gar nicht um Sex." Langsam brachte ihre sorgfältig zur Schau
getragene Selbstbeherrschung mich innerlich zur Weißglut. "Die jungen Dinger,
die Du flachgelegt hast, waren alle derselbe Typ, diese Kleinen mit kurzen
roten Haaren, wie Deine sogenannte 'Große Liebe', die es doch angeblich nicht
gibt, wie Johanna, die Dich damals so fertiggemacht hat. Glaub nicht, daß ich
das vergessen hätte, Du hast sehr oft davon erzählt, wenn Du voll warst, viel
öfter, als Dir wahrscheinlich lieb war. Ich weiß ganz genau, wie sehr sie Dich
verletzt hat."
Fast unmerklich zuckte sie zusammen bei diesen Worten. Erregt sprach ich
weiter, konnte den Wortstrom nicht mehr aufhalten, den ich so lange in meinem
Kopf aufgestaut hatte.
"Und darum fickst Du jetzt diese unschuldigen kleinen Dinger, Katharina. Nicht,
weil sie so geil aussehen oder Du so wild darauf bist, Spaß zu haben. Nein, was
Du willst, ist Rache, Rache, für das, was Johanna Dir angetan hat, darum wirfst
Du sie nach ein paar Tagen immer wieder raus, zerstörst ihre Träume, wie Deine
zerstört worden sind, verletzt sie, wie Du verletzt worden bist, tust ihnen das
an, was Johanna Dir angetan hat. Du läufst Amok, Katharina, und nichts
sonst."
Täuschte ich mich, oder begann der rotgeschminkte Mund leicht zu zittern?
"Glaub' mir, ich weiß, wovon ich rede", schleuderte ich in das weiße Gesicht,
"es sind immer die Falschen, die die Rechnung bezahlen müssen. Johanna ist
irgendwo, wahrscheinlich glücklich. Du wirst sie nie mehr erreichen mit Deinen
Aktionen. Und Deine Affairen läßt Du genauso zertrümmert zurück, wie Du selbst
es bist. Ich weiß es so genau, Katharina. Ich kenne sie genau, die Angst,
wieder verletzt zu werden und wieder und wieder und wieder. Ich trage sie
genauso in mir wie Du. Nur schließe ich sie nicht so ein, stürze mich immer
wieder mit vollen Segeln in meine Beziehungen, verliebe mich mit all meinen
Träumen und Empfindungen in eine Frau, die dann nach drei Monaten mein Herz in
den Fleischwolf wirft. Ich bin halt so blöd, mich immer wieder fertigmachen zu
lassen. Nicht wie Du. Du ziehst Dich zurück unter Deine Eiskruste, in der der
letzte Funken Leben noch schwach glüht, wo die letzten Deiner Träume noch
lauern unter dem Panzer, dem eiskalten Panzer, mit dem Du Deine Angst besiegst.
Alle Ängste besiegst außer der einen Angst, wieder Angst haben zu müssen. Und
darum behauptest Du auch, daß es keine wahre Liebe gibt, weil Du den Panzer
nicht öffnen kannst, denn Liebe bedeutet Nähe."
Katharina stand noch immer da, reglos wie eine Ikone, meine Ikone,
selbstbeherrscht und verschlossen.
"Manchmal denke ich, wenn es irgendwo Götter gibt, dann haben sie uns beide
füreinander bestimmt", sagte ich, wobei meine Stimme langsam wieder ruhiger
wurde, "wir sind uns so ähnlich, wir zwei, und wir kommen irgendwie nicht
voneinander los. Irgendwann, als ich mal wieder heimlich in Dich verknallt war,
habe ich auch richtig Angst bekommen. Angst, weil ich aus Deinen
Johanna-Erzählungen wußte, wie anhänglich Du bist, wenn Du in einer richtigen
Beziehung steckst. Ich dachte mir, wenn wir zwei zusammen sind, dann kommen wir
nie wieder voneinander los, und das war ein Schock, obwohl ja sowas etwas ist,
wovon ich immer geträumt habe. Ja, Katharina, ich liebe Dich, auf eine
ganz eigenartig vergiftete Weise, vergiftet von denen, die uns nicht zu
schätzen wußten. Wir waren füreinander bestimmt, meine Liebe, und haben alle
Chancen, die uns gegeben wurden, vertan, oder sie wurden uns von Leuten, die
rücksichtsloser als wir waren, vor der Nase weggeschnappt.
Und so ist alles, was uns geblieben ist, je ein Trümmerhaufen zerbrochener
Träume, Deiner eingemauert, meiner stetig weiter wachsend, weil ich nie draus
lernen werde, und unter den Trümmern kauernd das kleine zitternde nackte Tier
der Angst, wieder und wieder verletzt zu werden, bis auch der letzte Traum
verbrannt ist. Wir können nicht mehr zueinander, Katharina. Und deshalb muß ich
fort von hier."
Die schlanke Frau kramte in ihrer Tasche nach Zigaretten. Sie sah nach unten,
so daß ich ihr Gesicht nicht wahrnehmen konnte.
"Meine Güte, wie oft habe ich darauf gewartet, daß in einem schwachen
Moment Deine Schale sich nur einen winzigen Spalt öffnet, daß nur für
eine Sekunde die wahre Katharina zu sehen ist, die Frau, die ich in
Wirklichkeit liebe. Geliebt habe. All die Jahre, all die Tagträume, die ich
hatte, die Hoffnung, die immer wiederkam, und die ich nicht töten konnte.
Hoffnung ist so entsetzlich zäh. Ich glaube, ich hatte sogar Angst davor, immer
wieder diese schreckliche Hoffnung aufkeimen zu sehen. Ach, Katharina. Angst
und Trümmer und Angst und Trümmer und darauf die zählebigen schwarzen Rosen
der Hoffnung und kein Ende. Und deshalb muß ich fort."
Sie stand wieder reglos da, die unangezündete Zigarette in der Hand und blickte
zur Seite, in einer seltsam nicht-aufrechten Haltung, die sie sonst nicht zur
Schau trug.
"Ich wollte, daß Du das weißt." Ohne daß ich es wollte, klang meine Stimme nach
dem heftigen Gefühlsausbruch sehr müde. "Ich weiß nicht, vielleicht hätte ich
Dir all das früher sagen sollen, nicht erst jetzt, wenn es zu spät ist. Ich
bin nun mal nicht so eine Heldin in Gefühlsdingen. Vielleicht ist das auch der
Grund, daß ich jetzt fliehe."
Unsere Blicke kreuzten sich. Ich versank in ihren blauen Augen. Feuer und Eis,
dachte ich, wie oft denn noch, wird das denn nie enden.
Mühsam um Beherrschung kämpfend, fügte ich hinzu: "Ich fahre schon morgen. Mein
Entschluß steht fest. Und ich werde nicht zurückkommen aus Berlin, höchstens,
um meine Sachen zu holen." Eine Träne fand den Weg über meine Wange, als ich
flüsterte: "Und wenn der Zug über die Brücke fährt, werde ich Deinen Ring aus
dem Fenster werfen."
Warum weine ich denn, rasten meine Gedanken, ich sollte doch froh sein, daß es
endlich vorbei ist, und meine Beine, weich in den Knien, machten ohne mein
Zutun einen Schritt auf Katharina zu, ich nahm sie in die Arme, preßte sie an
mich, schluchzte, während mein Inneres in einem Strudel zerfetzt wurde, Bilder
aufstiegen, oft geträumte, von ihr und mir in erotischer Umarmung, Dinge, die
nie passiert waren, Gesichter unserer Bekannten, die sagen, na das wurde aber
auch Zeit, daß ihr endlich zusammenkommt, nie gelebtes Glück jenseits der
Realität.
Und wieder schlugen Hoffnung und Verzweiflung ihre goldenen und stählernen
Klauen in mein geschundenes Herz, ließen mich als heulendes Elend
zusammensacken in den Armen meiner Ikone Katharina, und ich konnte ihr Gesicht
nicht mehr sehen, um zu lesen, ob ich mich jetzt in ihrer kühlen Sicht der
Dinge vollkommen lächerlich gemacht hatte. Nur der eine Gedanke, nein, nicht
mehr, ich will nicht mehr, laß mich doch endlich in Ruhe, raste durch das
Labyrinth meines aussetzenden Verstandes, der wie wahnsinning an der
unsichtbaren Kette zerrte, die mich an sie fesselte.
Ihr schlanker Körper hielt mich in den Armen, still und sanft, bis ich nicht
mehr weinte. Dann hörte ich ihre Stimme leise und tonlos sagen:
"Bitte geh' nicht..."
© 2000 Diane Neisius. Erstveröffentlichung unter dem Titel "Wenn der
Zug über die Brücke fährt" im Literaturkreis
Cafe Kreuzberg, Göttingen.