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Das letzte Einhorn

"Mama, Du weinst ja", sagte Victoria, die Stimme voll von kindlicher Anteilnahme. Noch immer schnitt das, was sie mir erzählt hatte, in mein Herz, versetzte mich zurück in die Zeit, als ich wie sie ein Kind gewesen war, am Beginn der Pubertät, an der Grenze zwischen den Welten.
"Was ist denn", wollte sie wissen. Ich schluchzte leise, drückte sie, meine einzige Tochter, fest an mich.
Die Zeit hat die Dinge kompliziert werden lassen für mich, dachte ich, während die kleine Hand behutsam über mein kurzgeschnittenes Haar strich. Der Enthusiasmus, die wilden Jahre der Jahrtausendwende waren vorüber, hatten Wirtschaftskrise und Ernüchterung Platz machen müssen, in der konservative Werte plötzlich wieder an Boden gewonnen hatten, und das machte das Leben für eine alleinstehende Frau mit Kind nicht eben einfacher.
Victoria war alles, was ich hatte, war meine einzige Freude in den grauen Straßenschluchten dieser Stadt, die abweisend wie alle Städte war, überbevölkert und verkommen seit dem großen ökologischen Kollaps. Es gab nur noch Städte wie diese, nichts anderes mehr wo Menschen leben konnten, in diesem Land nicht, in Europa nicht, weltweit nicht.
Und Reisen zu den Weltraumkolonien würden die meisten Menschen sich niemals leisten können, selbst wenn das Leben an Bord der die Erde umkreisenden Metallbehälter besser gewesen wäre.
Es gab keine Hoffnungen, keine Träume mehr. Und eben darum weinte ich, weil meine kleine Tochter, der Stern meines Lebens, der einzige Stern den ich während meines Lebens in der verpesteten Luft der Großstadt noch zu sehen bekommen würde, mir von einem Traum erzählt hatte.
"Ist das schlimm, sowas zu träumen", fragte sie leise und fast entschuldigend, während sie sich tröstend an mich drückte, "wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es nicht gesagt."
"Nein", erwiderte ich mit noch immer zugeschnürtem Hals, "es ist nicht schlimm, von einem weißen Pferd mit einem Horn zu träumen. Es ist nur... ich habe als Kind auch davon geträumt, bis zu einem bestimmten Tag, und die Erinnerung daran kam so plötzlich, weißt Du."
"Ist denn was Schlimmes passiert an dem Tag?" Wie unschuldig ihre Stimme klang, die Stimme eines blonden kleinen Mädchens, das selbst Pferde nur aus Bildern im Lernprogramm des Internet kannte, geschweige denn ein Einhorn oder andere Traumwesen.
"Ich habe das nicht verstanden damals", antwortete ich wahrheitsgemäß, "ich war noch klein, und ich hätte mich nie getraut, mit meiner Mutter darüber zu reden. Ich habe es niemals jemand erzählt, auch Deinem Vater nicht, als er noch bei uns war."
"Willst Du es mir erzählen?" Die unschuldigen Kinderaugen bekamen einen Ausdruck von Ernst, der neu für mich war. Ich holte tief Luft und sah mich um in der plastikverkleideten winzigen Küche, die beinahe die Hälfte unseres Lebensraumes ausmachte.
"Ich weiß, daß Du manchmal auch im Schlaf oder Traum weinst. Ich habe es gehört, in der Nacht. In ganz vielen Nächten." Victoria sagte es leiser, als fürchte sie, mich zu kompromittieren. "Du kannst es mir ruhig sagen, Mama. Ich bin nicht mehr so klein, weißt Du."
"Ich habe nie mehr geträumt seit damals", erwiderte ich nachdenklich, "nie mehr, selbst als alles noch nicht so schlimm war."
"Warum weinst Du dann?"
"Weil ich dachte... ich dachte..."
Neue Tränen schossen mir in die Augen, die harten Augen einer früh gealterten, illusionslosen Frau. Und dann brach alles aus mir heraus.

*

Selbst als ich Kind war, war das Leben nicht für alle Menschen leicht. Gewiß, alles deutete auf eine rosige Zukunft hin, das Internet war gerade erst erfunden worden und alle sprachen davon, daß diese Erfindung alle reich und glücklich machen würde. Es gab noch Platz, weil nicht alle Menschen in den Städten wohnen mußten, und außerhalb der Städte konnten Kinder wie ich in den Wäldern spielen. Wälder, das war, wenn ganz viele Bäume ganz dicht zusammenstanden, und sie so viele Blätter hatten, daß es darunter richtig ein bißchen dunkel war. So etwas gab es.
Ich war ein Kind, das nicht wie die anderen war. Ich träumte viel, nicht nur im Schlaf, auch am Tag stellte ich mir Träume vor, in denen ich mit den Tieren im Wald spielte. Selbst als die anderen Mädchen schon anfingen, sich für Jungs zu interessieren, heimlich in den Pausen in den Ecken rauchten oder die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Es war die Zeit, als die Schulen noch richtig zum Hingehen waren und nicht per Video Relay Chat wie heute.
Aber ich machte ihr Getue nicht mit. Konsequenterweise fanden mich die anderen ziemlich blöd.
Also hatte ich auch keine Beste Freundin, mit der ich mich zum Spielen treffen konnte, und fuhr auf dem klapprigen Fahrad meines Vaters von der Hochhaussiedlung am Stadtrand, die auch damals schon nicht mehr neu war und nicht eben zu den besten Vierteln der Stadt gehörte, in den Wald, wo ich mit Freunden spielte, die nur ich sehen konnte. Ich machte mir nie Gedanken, ob alles das nur Einbildung war, es war eine Welt außerhalb der Welt, nur mir zugänglich und den Wesen in meinem Geist. Dort lebte ich, war ein Mädchen der Wälder, und wenn ich abends heim mußte in die schmuddelige Wohnsiedlung mit ihren nach Urin stinkenden Treppenhäusern, dann blieb mein Geist bei den Bäumen. Es gab nichts in den Betonklötzen, was mich interessiert hätte, nicht die geprügelten Nachbarskinder mit den ständig besoffenen Eltern, die man durch die dünnen Wände die halbe Nacht brüllen hörte, die Halbstarken-Banden Jugendlicher aller möglichen zugewanderten Nationalitäten, die in den Hauseingängen lauerten und denen man aus dem Weg gehen mußte, nicht die debilen Alten auf den muffigen Korridoren, die vor sich hinbrabbelten und von denen ab und zu welche vom Sozialdienst aus ihren zugemüllten Wohnungen geholt wurden.
Nur eine Frau gab es in der Hochhaussiedlung, die anders war und vor der alle Angst hatten, weil sie so düster aussah und einen so stechenden Blick hatte. Nie sah man sie anders als in ihren langen Kleidern mit straff aufgesteckten schwarzen Haaren, und die Gerüchte sagten, sie sei eine Zigeunerin und stamme aus Polen oder Rußland. Sie wohnte mit ihrer Katze unter uns, im vierten Stock, und immer kam ein komischer Geruch durch die Ritzen ihrer Tür, wenn man daran vorbeiging.
Aber alles das war nicht meine Welt. Wann immer ich konnte, entfloh ich auf Vaters altem Fahrrad den Hänseleien und Gemeinheiten der gleichaltrigen Kinder und älteren Jugendlichen, um in mein Reich auf meiner Waldlichtung zu fliehen, mit den Waldfrauen in der Sonne zu tanzen, die es nur in meiner Einbildung gab, in der erdigen Kühle einer hohlen Wurzel das unterirdische Schloß eines Zwergenkönigs zu sehen, der mich zu sich einlud, oder mich auf die duftende Wiese zu legen, um mit Schmetterlingen und Lerchen um die Wette um die Wolken zu fliegen.
Ich sammelte Kieselsteine im Bach, und für mich waren es die schönsten Geschmeide und funkelnde Goldstücke, und einige davon schenkte ich dem Zwergenkönig in seinem Wurzelschloß, der mir dafür ein morsches Rindenstück gab, auf dem der Weg zu einer geheimnisvollen Stätte tief im Wald beschrieben war. Vielleicht gab es andere Schätze dort oder ein Zauberer oder weiser Drachen wohnte dort, und eines Sommers in den Ferien, als ich früh von zu Hause losgefahren war, machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich war lange unterwegs auf den holperigen Wegen, und die Tannen dufteten harzig in der Sommerhitze. Noch nie war ich allein so weit von zu Hause fortgewesen. Schließlich wies mich das Rindenstück, das in meiner Tasche langsam zu zerkrümeln begann, auf einen Wildwechsel, der zwischen dichten weiß blühenden Büschen verschwand. Ich versteckte das Fahrrad und folgte dem niedrigen Weg in das Halbdunkel.
Es war ganz schön unwegsam, ehe ich auf eine Lichtung trat, die schöner war als alles, was ich mir bis dahin vorgestellt hatte.
Hohes, saftig-grünes Gras wiegte sich im warmen Sommerwind, und Kräuter in allen Farben waren dazwischengesprenkelt; der Boden war weich und moosig und federte angenehm unter den Schritten, und in der Mitte gab es einen kleinen, geheimnisvoll-dunklen Tümpel, in dem sich der blaue Himmel mit den ziehenden Sommerwolken spiegelte, als sei der Wasserspiegel ein Tor in eine andere Welt. Kein Laut war zu hören als das Rascheln der Birken am Waldrand ringsum, das leise herüberklang und beinahe klang wie ein Raunen und leise lockende Stimmen. Ich stand bezaubert da, und ich wußte, dies war der Ort meiner Wahl, mein Ort, mein Heim, hier gehörte ich her, mit Herz und Geist, solange ich denken und fühlen könnte.
Ich mußte unbedingt dem Zwergenkönig danken, suchte nach einem Geschenk für ihn und fand auch einen knorrigen halbvermoderten Wurzeltrieb, der bestimmt ein mächtiger Zauberstab war.
Die Zeit stand still, hier schien immer ein sanfter und warmer Sommermittag zu sein, licht und sorgenfrei fern von allem Wirklichen. Ich rief die Waldfrauen zu mir, und wie durch einen verborgenen unterirdischen Kanal tauchte auch die Bachnymphe, die mir immer ihre Kiesel schenkte, in dem kleinen dunklen Tümpel auf. Ja, selbst der Zwergenkönig trat grinsend mit seinem Gefolge unter einer krummgewachsenen Erle hervor. Und wie er sich über den schönen Zauberstab freute!
Doch plötzlich wurden alle meine Freunde still und blickten zum gegenüberliegenden Waldrand. Selbst der Wind schlief für einen Moment ein. Und dann trat es auf die Lichtung.
Ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich da war oder ich geträumt habe an jenem Sommernachmittag. Meine Freunde, das wußte ich, konnte nur ich sehen und alle anderen nicht, also war es egal, ob sie wirklich waren oder nur meine Einbildung. Für mich waren sie Bestandteil meiner Welt. Aber auf der Lichtung erschien ein Einhorn, weiß und so wirklich, daß ich hätte schwören können, es sei wirklich da und alle anderen hätten es ebenfalls sehen können müssen, nicht nur ich.
Es stand da im hellen Sonnenlicht, weiß und wunderbar schön, mit lang herabwallender Mähne und einem Horn auf der Stirn, das fahl glänzte wie ein zu Eis gewordener Strahl Mondlicht. Die klugen dunklen Augen blickten zu mir herüber, als wollten sie mich begrüßen.
Dann, so lautlos, wie es gekommen war, verschwand es wieder.
Ich habe nicht gezählt, wie viele Tage ich in diesem wunderbaren Sommer auf jener Lichtung verbrachte, allein oder mit den Waldfrauen, und manchmal besuchte mich auch die Nymphe. Aber das Einhorn sah ich nicht mehr, auch wenn ich manchmal glaubte, seinen gütigen Blick durch die Blätter des Waldrandes zu spüren.
Nur nachts sah ich es, wenn im Schlaf meine Gedanken zurückflogen, um im Mondlicht mit den Elfen um den kleinen Tümpel zu tanzen, dann galoppierte es ausgelassen über die Wiese, hüpfte und wälzte sich im hohen, duftenden Gras, oder es lagerte still und verträumt neben dem dunklen Teichspiegel, unter dem die Sterne zu sehen waren.
Unbeschwert waren meine Tage und Nächte, bis zu jener schicksalhaften Nacht, in der plötzlich der Frieden gestört wurde.
Ich saß am Tümpel, im Traum ebenso durchsichtig wie die Elfen, mit denen ich tanzte, und erzählte ihnen und dem friedlich ruhenden Einhorn eine Geschichte aus den Wurzelhallen des Zwergenkönigs, von den Schätzen, die seine Zwerge unter der Erde herstellten, als plötzlich ein dunkler Schatten am Mond vorbeizog. Ein kühler Lufthauch wehte, und das Einhorn blickte unruhig auf, als schon etwas großes Schwarzes auf die nächtliche Lichtung herabstieß. Ich sah nicht, was es war, nur entsetzliche Klauen oder Zähne düster glänzen, und das Einhorn sprang auf, einen hohen spitzen Ton der Furcht ausstoßend. Es rannte zum Waldrand, und das schwarze Wesen hinterher, und ich hörte die Schreie und das Brechen und Splittern von Holz noch, als ich schon von meinem eigenen Schreien in meinem Bett aufwachte.
Schweißgebadet war ich, das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich hatte entsetzliche Angst. Weinend tappte ich durch die dunkle leere Wohnung, denn meine Eltern waren nicht zuhause, öffnete mit tränenblinden Augen Türen, ohne zu denken, denn ich hatte fürchterliche Angst, daß dem Einhorn irgend etwas Schlimmes passiert war. Unversehens fand ich mich auf dem Korridor wieder, als auch schon die Wohnungstür hinter mir ins Schloß fiel.
Da stand ich nun weinend im dunklen Treppenhaus und fühlte mich so verloren wie noch nie in meinem Leben. Wenn nur dem Einhorn nichts passiert war! Erst allmählich wurde mir klar, daß ich nur im Schlafanzug und mit nackten Füßen im kalten Treppenhaus stand und nicht mehr in die Wohnung zurückkonnte. Das Gefühl der Verlorenheit steigerte sich bis ins Unermeßliche.
Mein Schluchzen hallte durch die leeren muffigen Korridore, als plötzlich das Licht anging. Eine Tür klappte, irgendwo unten, der Ort war nicht genau auszumachen durch das Echo. Jemand kam die Treppe herauf, ich konnte nicht erkennen, wer es war vor Tränen und Blendung durch das unerwartet helle Treppenhauslicht.
"Warum weinst Du denn", sagte eine warme und weiche Stimme. Statt einer Antwort drückte ich mich schutzsuchend an die Gestalt, die ihren Arm um mich legte, mich tröstete.
"Nana, es wird doch alles gut", flüsterte sie mir zu, streichelte meinen Kopf, als sei sie meine Mutter.
Das Treppenhauslicht erlosch, sie schaltete es wieder ein, drückte mich schützend an sich. Erst langsam beruhigte ich mich, meine Augen gewöhnten sich an das Licht, ich blickte auf, um zu sehen, wer sich da überhaupt um mich kümmerte, mitten in der Nacht im Treppenhaus.
Es war die Zigeunerin.
Ich erschrak ein bißchen, hatte das überhaupt nicht erwartet, ihre Stimme hatte so voller Wärme geklungen und sie hatte überhaupt keinen russischen Akzent, wie ich mir das immer vorgestellt hatte.
"Du mußt keine Angst haben", sagte sie voller Anteilnahme, "hast Du schlimm geträumt?"
Ich nickte nur, verunsichert durch die Situation. Das Treppenhauslicht erlosch erneut. Sie schaltete es wieder ein, sah sich um.
"Und dann bist Du aus der Wohnung gelaufen und die Tür ist zugefallen", vermutete sie nach einem Blick den leeren Korridor entlang.
Ich nickte wieder, eingeschüchtert durch ihre Präsenz.
"Wo wohnst Du denn", fragte sie leise, und ihre Stimme bekam wieder diesen tröstenden warmen Klang, dem ich mich nicht verschließen konnte.
"Meine Eltern sind nicht da", schluchzte ich. Meine Nase lief.
"Die kommen sicher auch wieder zurück. Willst Du solange mit zu mir kommen? Du wirst durch erkälten sonst, mit nackten Füßen hier auf dem Steinboden", erklärte sie. Aufmerksam blickte sie mich aus ihren dunklen Augen an, die nun gar nicht mehr stechend oder unheimlich zu sein schienen.
Unschlüssig stand ich da, ehe ich stumm nickte, meine Hand in ihre legte und hinter ihr her die Treppe nach unten tapste.

Ihre Wohnung war eine andere Welt, wie meine geheime Waldlichtung es war, voller Bücherregale, altertümlicher Bilder und Kerzenleuchter. Auf einem besonderen Tischchen stand eine goldene Frauenfigur zwischen zwei Kerzen, die sehr gütig aussah und eine besondere Bedeutung zu haben schien, aber mein Blick blieb wie gebannt an den gerahmten Bildern der Wände hängen, während meine Gastgeberin in der Küche polterte, um zu dieser nächtlichen Stunde eine Tasse Kakao für mich zu kochen.
Ich kannte diese Bilder. Sie zeigten alles das, was ich aus meiner Vorstellung kannte, Elfen, Waldfrauen, eine Nymphe an einem Meeresstrand; da war ein Drache im Flug zu sehen und andere mir unbekannte Wesen, geheimnisvoll und fremdartig, aber auch irgendwie vertraut. Alle Wesen, von denen ich immer geglaubt hatte, sie existierten nur in meiner Welt, waren hier versammelt, gemalt, modelliert aus Ton und Wachs. So wie ich sie sah, mußten auch andere sie sehen können.
Und es gab ein Einhorn.
Ich sah die kleine weiße Figur in dem Moment, in dem die schwarzhaarige Frau mit meiner Kakaotasse in der Hand durch die Tür in das kleine Wohnzimmer trat, und der Anblick des Wesens rief mir schlagartig den schrecklichen Traum ins Gedächtnis zurück. Ich weinte wieder.
"Na, was ist denn", hörte ich die mittlerweile vertraute Stimme, "Du mußt Dich nicht vor dem Einhorn erschrecken. Einhörner sind sehr freundlich und tun niemand etwas zuleide, ganz besonders kleinen Mädchen nicht, weißt Du."
"Ich weiß", preßte ich heraus, während mir Rotz und Tränen über das Gesicht rannen.
"Hast Du von dem Einhorn geträumt? Ich träume manchmal auch von ihm, ganz selten. Es gibt nicht mehr viele Einhörner, mußt Du wissen. Es ist das letzte seiner Art."
"Ich habe solche Angst, daß etwas passiert ist", heulte ich weiter, und dann, Stück für Stück, erzählte ich von dem Traum, von der Lichtung, von meiner Welt, ohne zu überlegen, welchen Schatz ich da einer wildfremden Frau anvertraute.
Sie hörte mir zu, mit einem aufmerksamen Ausdruck in ihren unergründlichen dunklen Augen, und es wirkte keine Sekunde so, als lausche sie den Hirngespinsten eines hysterischen Kindes, sondern sei sehr vertraut mit derlei Geschehnissen. Schließlich sagte sie:
"Solche Träume kündigen manchmal wichtige Dinge an. Es kann gut sein, daß ich selbst auch so etwas geträumt hätte, heute Nacht, wenn Du nicht zu mir gekommen wärest, aber auch so ist es gut. Wir werden nachsehen, morgen oder übermorgen."
"Sie können herausfinden, ob das nur ein Traum wahr?" Ein bißchen beruhigt und neugierig schlürfte ich meinen Kakao.
"Was ist Traum, was ist Wirklichkeit?" Sie lachte ein elfenhaftes Lachen, das ungewohnt an ihrem so strengen Äußeren war. "Die Grenze zwischen unserer Welt und der anderen ist nicht scharf, auch wenn die meisten Menschen sie nicht sehen wollen, weil sie nicht an das glauben, was man nicht anfassen oder nachmessen kann. Trotzdem träumen sie, wandern in den Nächten an die Orte, nach denen ihre Seele sicht sehnt, auch wenn sie sich nach dem Aufwachen an nichts mehr zu erinnern glauben. Es gibt nur wenige, die sich erinnern wollen, die sehen wollen, so wie Du."
"Also gibt es das alles wirklich?" Langsam trockneten die Tränen auf meinen Wangen, während ich die warme Tasse umklammert hielt.
"Es ist eben eine andere Art von Wirklichkeit, eine, die man nur mit dem Herzen sehen kann und nicht mit den Augen. Und die meisten um uns herum haben ein blindes Herz", erklärte sie, die Hände im Schoß gefaltet.
"Und das Einhorn?", wollte ich wissen.
"Ich kann das herausfinden. Wenn Du mir die Lichtung zeigst, werde ich spüren können, ob es noch da ist."
"Man muß lange mit dem Fahrrad fahren", gab ich zu bedenken.
"Ich werde mir eins leihen", antwortete sie bestimmt.

Es dauerte noch Tage, bis ich mich entschloß, dieser fremden Frau wirklich meine Lichtung zu zeigen. Und ich fragte mich in dieser Zeit nicht, wieso gerade sie Gewißheit über mein Einhorn zu erlangen in der Lage war. Ich glaubte ihr einfach, daß sie es konnte, vielleicht auch gerade weil sie an meine Welt geglaubt hatte. Trotzdem war es eine schwere Überwindung.
Der Tag in den Ferien, an dem ich mit ihr losfuhr, war sehr warm und schwül, und der Fahrtwind in den Wäldern war angenehm kühl. Es war lustig zu sehen, wie die Zigeunerin ihre weiten Röcke raffen mußte, um überhaupt auf das Fahrrad zu kommen, und hernach der Fahrtwind die weiten Stoffbahnen flattern ließ.
Der Weg war weit, und in der warmen Luft gerieten wir gehörig ins Schwitzen, ehe wir die dichten Tannenschonungen erreichten, hinter denen sich meine Lichtung befand. Meine Begleiterin war offensichtlich die Anstrengung nicht gewohnt und geriet ziemlich außer Atem.
Schließlich hielt ich vor dem kleinen, etwas versteckten Pfad an, der zu meinem Heiligtum führte.
"Hier ist es", sagte ich nicht ohne ein Zögern. Die Frau nickte nur und verstaute ihr Fahrrad hinter den Bäumen am anderen Wegrand. Dann wartete sie, fast schien es mir, respektvoll, um mir den Vortritt zu lassen. Dergleichen war ungewohnt für mich, da ich bisher von Erwachsenen immer nur als versponnenes kleines Mädchen behandelt worden war, und bestärkte mich in meinen Entschluß. Also ging ich tapfer voran zwischen die Büsche.
Als wir auf die Lichtung traten, sagte sie immer noch nichts, sondern sah mich nur voller Erstaunen an. Unschlüssig blieb ich stehen, wußte ich doch nicht, was jetzt geschehen sollte noch wie ich mich an diesem Ort in Begleitung von jemand anderem verhalten sollte. Aber die Frau sog nur prüfend die Luft ein, breitete die Arme aus uns wandte mit geschlossenen Augen der Sonne das Gesicht zu. Sie lächelte entrückt, und ihre Miene wurde seltsam alterslos, beinahe hätte sie eine Spielkameradin von mir oder den Waldfrauen sein können.
Eine endlose Weile stand sie so da. Manchmal formte ihr Mund lautlose Sätze. Ich trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, wußte aber nicht recht, was ich tun oder sagen sollte. Also beobachtete ich sie nur.
Dann, irgendwann, ließ eine kühle Windbö mich frösteln. Mit Erstaunen registrierte ich, daß dicke graue Wolken aufgezogen waren und die Sonne zu bedecken begannen. Es mußte eine Menge Zeit vergangen sein. Der Wind wurde stärker.
"Es wird regnen", sagte die Zigeunerin, und dann sah sie mich sehr glücklich an. "Aber trotzdem, das ist ein wunderbaren Ort hier. Danke, daß Du ihn mir gezeigt hast."
Die Worte klangen aufrichtig. Ich wunderte mich noch mehr, denn noch nie hatte eine Erwachsene sich bei mir, einem kleinen Mädchen, aus ganzem Herzen für etwas bedankt. So nickte ich nur etwas verschämt.
"Ich denke, wir sollten nicht lange bleiben, wenn wir nicht naß werden wollen. Aber ich will noch nach dem Einhorn schauen." Mit diesen Worten begann sie in ihrer Tasche zu kramen, und zog schließlich einen geschnitzten hölzernen Stab mit einem Glitzerstein an der Spitze daraus hervor.
Wieder zerrten kühle Windböen an ihren langen Röcken, ließen den Stoff flattern.
Und dann geschah plötzlich das, was ich in meiner Unschuld am wenigsten erwartet hätte und das alles veränderte. Eine unbekannte Gestalt trat hinter den Büschen am Tümpel hervor. Ich war entsetzt! Ein Eindringling, jemand, den ich nicht hergeführt hatte, auf meiner Lichtung!
Der Mann trat ein paar Schritte auf uns zu. Mich beachtete er überhaupt nicht, aber wie er sich bewegte, eine Silouette vor einem weiß blühenden Busch, erinnerte er mich einen Augenblick lang an den Schatten in meinem Traum. Zu der Zigeunerin sagte er:
"Du hättest nicht herkommen sollen, Maria."
"Jankrel", antwortete sie überrascht, "es hätte mir klar sein sollen, daß Du und Deine Spießgesellen ihre gierigen Finger hier im Spiel haben."
"Diese Sache ist zu groß für Dich, kleines Hexchen. Nimm Dein Kind und verschwinde von hier." Wie auf Kommando waren noch zwei weitere Gestalten am Waldrand aufgetaucht und kamen langsam auf uns zu. Ein Donner grollte leise in der Ferne, während der Wind immer zerrender wurde. Die Wolken schienen sich zu einem handfesten Gewitter zusammenziehen zu wollen.
Die Zigeunerin, die (wie ich nun wußte) Maria hieß, machte ein paar entschlossene Schritte, ging eilig halb um den Tümpel herum, dessen von kleinen Wellen zerfurchtes Wasser in dem abnehmenden Licht pechschwarz wirkte, stellte sich direkt neben dem Wasser auf den kleinen Wildwechsel, an dessen Ende das Einhorn stets aus dem Wald erschienen war. Ängstlich rannte ich zu ihr, wollte nicht allein mit den drei Unbekannten bleiben.
"Nein, Jankrel", antwortete sie schließlich streng. "Du wirst hier verschwinden. Wir sind gewarnt worden und werden Deine Machenschaften hier nicht dulden." Es donnerte wieder in der Ferne. Der Himmel verdüsterte sich mehr und mehr.
Ich verstand gar nicht mehr, wovon all diese Leute sprachen. Hatte das mit meinem Traum zu tun oder nicht? Was taten die hier auf meiner Lichtung? Konnten sie sich nicht woanders streiten und mich in Frieden lassen?
"Ich sagte doch, das ist zu groß für Dich. Verschwinde und stör uns nicht." Die tiefe Stimme des Anführers der drei Männer verhieß nichts Gutes.
"Und ich sagte, verschwinde Du und laß Deine Finger von dieser Entität. Ich werde nicht zulassen, daß Du etwas derart Reines absorbiertst." Maria klang nicht weniger entschlossen, nicht zu weichen.
Ich begann zu weinen. Meine schöne Lichtung, mein Reich, alles machten sie mir kaputt, und niemand, auch die Zigeunerin nicht, schien sich noch für mein Einhorn zu interessieren. Ich wollte weglaufen, traute mich allein aber nicht an den Männern vorbei. Ein Blitz gabelte sich im bleigrauen Licht über dem Waldrand, und diesmal war der Donner richtig laut. Der kalte Wind trug die ersten großen Regentropfen heran.
"Reinheit", schnaufte unser Gegenüber verächtlich, "immer dieses Gefasel von Licht und Reinheit. Es ist Energie, viel Energie, und die ist für die da, die damit umzugehen wissen. Verschwinde und nimm Deine komischen Moralvorstellungen mit, Maria, oder Du wirst es bereuen."
"Nein, Jankrel. Diesmal nicht. Du wirst nicht an mir vorbeikommen", erwiderte sie.
"Fort mit Dir, Hexe!", brüllte der Mann verächtlich in den Sturm.
"Du kannst hier nicht durch!", erwiderte die Frau mit gefährlich ruhiger Stimme. Drohend standen die beiden sich gegenüber. Der Himmel spie einen weiteren Blitz aus, taghell erleuchtete er die Lichtung und zog eine ohrenbetäubenden Knall hinter sich her, und dann schienen die Wolken herabzustürzen, Regen und Hagel prasselten hernieder und immer neue Blitze zuckten gleißend durch den schwarzen Himmel. Ich schrie vor Angst, lief, was ich konnte durch das Prasseln und Donnern, entlang an naß peitschenden Zweigen und reißenden Dornen, durch klatschende Schlammpfützen, raffte mein Fahrrad aus dem Gebüsch und trat in die Pedale, was ich nur konnte, um dem Inferno zu entkommen, das dort in meinem ehemaligen Paradies tobte. Der Regen mischte sich mit dem Salz meiner Tränen, und als ich auf dem glatten schlammigen Weg ins Rutschen geriet und hinfiel, auch mit dem Geschmack von Blättern und Erde, aber alles das nahm ich kaum wahr, weil jedes Donnern, jeder Blitz wie ein Messer in mein Herz schnitt, meine Lichtung mehr zerstörte, entweihte und besudelte, weil ich wußte, daß dort jetzt Erwachsene standen und sich um irgendetwas, das ich nicht verstand, stritten. Auf meiner Lichtung, an meinem Ort. In meinem blutenden Herz.

Ich schaffte es irgendwann nach Hause, nahm kaum etwas wahr von den Strafpredigten und den Schlägen meiner Eltern, die mich dort erwarteten, weil ich nicht rechtzeitig vor dem Gewitter zuhause gewesen war. Ich war innerlich wie tot, schlief in dieser Nacht wie in allen folgenden traumlos.
In den Wald ging ich nicht mehr, und auch die Zigeunerin sah ich nie mehr. Irgendwann hieß es, Verwandte hätten ihre Sachen abgeholt, weil sie in einem Krankenhaus sei, andere wollten wissen, sie sei gestorben oder verrückt geworden. Aber all das interessierte mich nicht mehr. Ich dachte nur daran, daß ich das Einhorn nicht mehr sah, wahrscheinlich nie mehr sehen würde, und an den Schmerz in meiner Seele, in der sich nur noch die Ruinen meiner geheimen Welt befanden.
Und so wurde ich wie alle anderen, rauchte heimlich auf dem Schulhof und tuschelte über die Jungs, um mein Herz zu betäuben, und weinte manchmal lautlos vor dem Einschlafen, weil ich mich wie eine Verräterin fühlte.

*

"Ach, Mama." Meine kleine Tochter legte ihre Ärmchen um mich und drückte mich ganz fest. "Du bist weggelaufen und hast ja nie nachgesehen, ob das Einhorn noch da war."
Victoria sprach die Worte mit einer tröstenden Bestimmtheit, die mich ein bißchen erschreckte.
"Aber wenn ich jetzt davon träume, dann ist es noch da. Die bösen Männer haben es nicht gekriegt. Du mußt nie mehr weinen abends im Bett."
Was sagt mir meine kleine Tochter da eigentlich, dachte ich verwirrt. Ich bin eine erwachsene Frau mit einer zerstörten Zukunft. Was denke ich über diese Kindergeschichten nach.
Aber mein Mund antwortete nur: "Ja", und in meinem Inneren lichtete sich die Dunkelheit von zwanzig Jahren in einem Augenblick. Vor dem Küchenfenster schien die Sonne ein winziges Schlupfloch durch die ewige Dunstglocke über der grauen Stadt gefunden zu haben.
In ihrem Licht flatterte ein Schmetterling.
Der erste seit Jahren.

© 2001 Diane Neisius. Erstveröffentlichung auf dem "Symposium für die Göttin", Bielefeld 2001



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