Selbst als ich Kind war, war das Leben nicht für alle Menschen leicht. Gewiß,
alles deutete auf eine rosige Zukunft hin, das Internet war gerade erst
erfunden worden und alle sprachen davon, daß diese Erfindung alle reich und
glücklich machen würde. Es gab noch Platz, weil nicht alle Menschen in den
Städten wohnen mußten, und außerhalb der Städte konnten Kinder wie ich in den
Wäldern spielen. Wälder, das war, wenn ganz viele Bäume ganz dicht
zusammenstanden, und sie so viele Blätter hatten, daß es darunter richtig ein
bißchen dunkel war. So etwas gab es.
Ich war ein Kind, das nicht wie die anderen war. Ich träumte viel, nicht nur
im Schlaf, auch am Tag stellte ich mir Träume vor, in denen ich mit den Tieren
im Wald spielte. Selbst als die anderen Mädchen schon anfingen, sich für Jungs
zu interessieren, heimlich in den Pausen in den Ecken rauchten oder die Köpfe
zusammensteckten und tuschelten. Es war die Zeit, als die Schulen noch richtig
zum Hingehen waren und nicht per Video Relay Chat wie heute.
Aber ich machte ihr Getue nicht mit. Konsequenterweise fanden mich die anderen
ziemlich blöd.
Also hatte ich auch keine Beste Freundin, mit der ich mich zum Spielen treffen
konnte, und fuhr auf dem klapprigen Fahrad meines Vaters von der
Hochhaussiedlung am Stadtrand, die auch damals schon nicht mehr neu war
und nicht eben zu den besten Vierteln der Stadt gehörte, in den Wald, wo ich
mit Freunden spielte, die nur ich sehen konnte. Ich machte mir nie Gedanken,
ob alles das nur Einbildung war, es war eine Welt außerhalb der Welt, nur mir
zugänglich und den Wesen in meinem Geist. Dort lebte ich, war ein Mädchen der
Wälder, und wenn ich abends heim mußte in die schmuddelige Wohnsiedlung mit
ihren nach Urin stinkenden Treppenhäusern, dann blieb mein Geist bei den
Bäumen. Es gab nichts in den Betonklötzen, was mich interessiert hätte, nicht
die geprügelten Nachbarskinder mit den ständig besoffenen Eltern, die man
durch die dünnen Wände die halbe Nacht brüllen hörte, die Halbstarken-Banden
Jugendlicher aller möglichen zugewanderten Nationalitäten, die in den
Hauseingängen lauerten und denen man aus dem Weg gehen mußte, nicht die
debilen Alten auf den muffigen Korridoren, die vor sich hinbrabbelten und von
denen ab und zu welche vom Sozialdienst aus ihren zugemüllten Wohnungen geholt
wurden.
Nur eine Frau gab es in der Hochhaussiedlung, die anders war und vor der alle
Angst hatten, weil sie so düster aussah und einen so stechenden Blick hatte.
Nie sah man sie anders als in ihren langen Kleidern mit straff aufgesteckten
schwarzen Haaren, und die Gerüchte sagten, sie sei eine Zigeunerin und stamme
aus Polen oder Rußland. Sie wohnte mit ihrer Katze unter uns, im vierten
Stock, und immer kam ein komischer Geruch durch die Ritzen ihrer Tür, wenn man
daran vorbeiging.
Aber alles das war nicht meine Welt. Wann immer ich konnte, entfloh ich auf
Vaters altem Fahrrad den Hänseleien und Gemeinheiten der gleichaltrigen Kinder
und älteren Jugendlichen, um in mein Reich auf meiner Waldlichtung zu fliehen,
mit den Waldfrauen in der Sonne zu tanzen, die es nur in meiner Einbildung
gab, in der erdigen Kühle einer hohlen Wurzel das unterirdische Schloß eines
Zwergenkönigs zu sehen, der mich zu sich einlud, oder mich auf die duftende
Wiese zu legen, um mit Schmetterlingen und Lerchen um die Wette um die Wolken
zu fliegen.
Ich sammelte Kieselsteine im Bach, und für mich waren es die schönsten
Geschmeide und funkelnde Goldstücke, und einige davon schenkte ich dem
Zwergenkönig in seinem Wurzelschloß, der mir dafür ein morsches Rindenstück
gab, auf dem der Weg zu einer geheimnisvollen Stätte tief im Wald beschrieben
war. Vielleicht gab es andere Schätze dort oder ein Zauberer oder weiser
Drachen wohnte dort, und eines Sommers in den Ferien, als ich früh von zu
Hause losgefahren war, machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich war lange
unterwegs auf den holperigen Wegen, und die Tannen dufteten harzig in der
Sommerhitze. Noch nie war ich allein so weit von zu Hause fortgewesen.
Schließlich wies mich das Rindenstück, das in meiner Tasche langsam zu
zerkrümeln begann, auf einen Wildwechsel, der zwischen dichten weiß blühenden
Büschen verschwand. Ich versteckte das Fahrrad und folgte dem niedrigen Weg in
das Halbdunkel.
Es war ganz schön unwegsam, ehe ich auf eine Lichtung trat, die schöner war
als alles, was ich mir bis dahin vorgestellt hatte.
Hohes, saftig-grünes Gras wiegte sich im warmen Sommerwind, und Kräuter in
allen Farben waren dazwischengesprenkelt; der Boden war weich und moosig und
federte angenehm unter den Schritten, und in der Mitte gab es einen kleinen,
geheimnisvoll-dunklen Tümpel, in dem sich der blaue Himmel mit den ziehenden
Sommerwolken spiegelte, als sei der Wasserspiegel ein Tor in eine andere Welt.
Kein Laut war zu hören als das Rascheln der Birken am Waldrand ringsum, das
leise herüberklang und beinahe klang wie ein Raunen und leise lockende
Stimmen. Ich stand bezaubert da, und ich wußte, dies war der Ort meiner Wahl,
mein Ort, mein Heim, hier gehörte ich her, mit Herz und Geist, solange ich
denken und fühlen könnte.
Ich mußte unbedingt dem Zwergenkönig danken, suchte nach einem Geschenk für
ihn und fand auch einen knorrigen halbvermoderten Wurzeltrieb, der bestimmt
ein mächtiger Zauberstab war.
Die Zeit stand still, hier schien immer ein sanfter und warmer Sommermittag zu
sein, licht und sorgenfrei fern von allem Wirklichen. Ich rief die Waldfrauen
zu mir, und wie durch einen verborgenen unterirdischen Kanal tauchte auch die
Bachnymphe, die mir immer ihre Kiesel schenkte, in dem kleinen dunklen Tümpel
auf. Ja, selbst der Zwergenkönig trat grinsend mit seinem Gefolge unter einer
krummgewachsenen Erle hervor. Und wie er sich über den schönen Zauberstab
freute!
Doch plötzlich wurden alle meine Freunde still und blickten zum
gegenüberliegenden Waldrand. Selbst der Wind schlief für einen Moment ein.
Und dann trat es auf die Lichtung.
Ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich da war oder ich geträumt habe an
jenem Sommernachmittag. Meine Freunde, das wußte ich, konnte nur ich sehen und
alle anderen nicht, also war es egal, ob sie wirklich waren oder nur meine
Einbildung. Für mich waren sie Bestandteil meiner Welt. Aber auf der Lichtung
erschien ein Einhorn, weiß und so wirklich, daß ich hätte schwören können, es
sei wirklich da und alle anderen hätten es ebenfalls sehen können müssen,
nicht nur ich.
Es stand da im hellen Sonnenlicht, weiß und wunderbar schön, mit lang
herabwallender Mähne und einem Horn auf der Stirn, das fahl glänzte wie ein zu
Eis gewordener Strahl Mondlicht. Die klugen dunklen Augen blickten zu mir
herüber, als wollten sie mich begrüßen.
Dann, so lautlos, wie es gekommen war, verschwand es wieder.
Ich habe nicht gezählt, wie viele Tage ich in diesem wunderbaren Sommer auf
jener Lichtung verbrachte, allein oder mit den Waldfrauen, und manchmal
besuchte mich auch die Nymphe. Aber das Einhorn sah ich nicht mehr, auch wenn
ich manchmal glaubte, seinen gütigen Blick durch die Blätter des Waldrandes zu
spüren.
Nur nachts sah ich es, wenn im Schlaf meine Gedanken zurückflogen, um im
Mondlicht mit den Elfen um den kleinen Tümpel zu tanzen, dann galoppierte es
ausgelassen über die Wiese, hüpfte und wälzte sich im hohen, duftenden Gras,
oder es lagerte still und verträumt neben dem dunklen Teichspiegel, unter dem
die Sterne zu sehen waren.
Unbeschwert waren meine Tage und Nächte, bis zu jener schicksalhaften Nacht,
in der plötzlich der Frieden gestört wurde.
Ich saß am Tümpel, im Traum ebenso durchsichtig wie die Elfen, mit denen ich
tanzte, und erzählte ihnen und dem friedlich ruhenden Einhorn eine Geschichte
aus den Wurzelhallen des Zwergenkönigs, von den Schätzen, die seine Zwerge
unter der Erde herstellten, als plötzlich ein dunkler Schatten am Mond
vorbeizog. Ein kühler Lufthauch wehte, und das Einhorn blickte unruhig auf,
als schon etwas großes Schwarzes auf die nächtliche Lichtung herabstieß. Ich
sah nicht, was es war, nur entsetzliche Klauen oder Zähne düster glänzen, und
das Einhorn sprang auf, einen hohen spitzen Ton der Furcht ausstoßend. Es
rannte zum Waldrand, und das schwarze Wesen hinterher, und ich hörte die
Schreie und das Brechen und Splittern von Holz noch, als ich schon von meinem
eigenen Schreien in meinem Bett aufwachte.
Schweißgebadet war ich, das Herz klopfte mir bis zum Hals, und ich hatte
entsetzliche Angst. Weinend tappte ich durch die dunkle leere Wohnung, denn
meine Eltern waren nicht zuhause, öffnete mit tränenblinden Augen Türen, ohne
zu denken, denn ich hatte fürchterliche Angst, daß dem Einhorn irgend etwas
Schlimmes passiert war. Unversehens fand ich mich auf dem Korridor wieder, als
auch schon die Wohnungstür hinter mir ins Schloß fiel.
Da stand ich nun weinend im dunklen Treppenhaus und fühlte mich so verloren
wie noch nie in meinem Leben. Wenn nur dem Einhorn nichts passiert war! Erst
allmählich wurde mir klar, daß ich nur im Schlafanzug und mit nackten Füßen im
kalten Treppenhaus stand und nicht mehr in die Wohnung zurückkonnte. Das
Gefühl der Verlorenheit steigerte sich bis ins Unermeßliche.
Mein Schluchzen hallte durch die leeren muffigen Korridore, als plötzlich das
Licht anging. Eine Tür klappte, irgendwo unten, der Ort war nicht genau
auszumachen durch das Echo. Jemand kam die Treppe herauf, ich konnte nicht
erkennen, wer es war vor Tränen und Blendung durch das unerwartet helle
Treppenhauslicht.
"Warum weinst Du denn", sagte eine warme und weiche Stimme.
Statt einer Antwort drückte ich mich schutzsuchend an die Gestalt, die ihren
Arm um mich legte, mich tröstete.
"Nana, es wird doch alles gut", flüsterte sie mir zu, streichelte meinen Kopf,
als sei sie meine Mutter.
Das Treppenhauslicht erlosch, sie schaltete es wieder ein, drückte mich
schützend an sich. Erst langsam beruhigte ich mich, meine Augen gewöhnten sich
an das Licht, ich blickte auf, um zu sehen, wer sich da überhaupt um mich
kümmerte, mitten in der Nacht im Treppenhaus.
Es war die Zigeunerin.
Ich erschrak ein bißchen, hatte das überhaupt nicht erwartet, ihre Stimme
hatte so voller Wärme geklungen und sie hatte überhaupt keinen russischen
Akzent, wie ich mir das immer vorgestellt hatte.
"Du mußt keine Angst haben", sagte sie voller Anteilnahme, "hast Du schlimm
geträumt?"
Ich nickte nur, verunsichert durch die Situation. Das Treppenhauslicht erlosch
erneut. Sie schaltete es wieder ein, sah sich um.
"Und dann bist Du aus der Wohnung gelaufen und die Tür ist zugefallen",
vermutete sie nach einem Blick den leeren Korridor entlang.
Ich nickte wieder, eingeschüchtert durch ihre Präsenz.
"Wo wohnst Du denn", fragte sie leise, und ihre Stimme bekam wieder diesen
tröstenden warmen Klang, dem ich mich nicht verschließen konnte.
"Meine Eltern sind nicht da", schluchzte ich. Meine Nase lief.
"Die kommen sicher auch wieder zurück. Willst Du solange mit zu mir kommen? Du
wirst durch erkälten sonst, mit nackten Füßen hier auf dem Steinboden",
erklärte sie. Aufmerksam blickte sie mich aus ihren dunklen Augen an, die nun
gar nicht mehr stechend oder unheimlich zu sein schienen.
Unschlüssig stand ich da, ehe ich stumm nickte, meine Hand in ihre legte und
hinter ihr her die Treppe nach unten tapste.
Ihre Wohnung war eine andere Welt, wie meine geheime Waldlichtung es war,
voller Bücherregale, altertümlicher Bilder und Kerzenleuchter. Auf einem
besonderen Tischchen stand eine goldene Frauenfigur zwischen zwei Kerzen, die
sehr gütig aussah und eine besondere Bedeutung zu haben schien, aber mein
Blick blieb wie gebannt an den gerahmten Bildern der Wände hängen, während
meine Gastgeberin in der Küche polterte, um zu dieser nächtlichen Stunde eine
Tasse Kakao für mich zu kochen.
Ich kannte diese Bilder. Sie zeigten alles das, was ich aus meiner Vorstellung
kannte, Elfen, Waldfrauen, eine Nymphe an einem Meeresstrand; da war ein
Drache im Flug zu sehen und andere mir unbekannte Wesen, geheimnisvoll und
fremdartig, aber auch irgendwie vertraut. Alle Wesen, von denen ich immer
geglaubt hatte, sie existierten nur in meiner Welt, waren hier versammelt,
gemalt, modelliert aus Ton und Wachs. So wie ich sie sah, mußten auch andere
sie sehen können.
Und es gab ein Einhorn.
Ich sah die kleine weiße Figur in dem Moment, in dem die schwarzhaarige Frau
mit meiner Kakaotasse in der Hand durch die Tür in das kleine Wohnzimmer trat,
und der Anblick des Wesens rief mir schlagartig den schrecklichen Traum ins
Gedächtnis zurück. Ich weinte wieder.
"Na, was ist denn", hörte ich die mittlerweile vertraute Stimme, "Du mußt Dich
nicht vor dem Einhorn erschrecken. Einhörner sind sehr freundlich und tun
niemand etwas zuleide, ganz besonders kleinen Mädchen nicht, weißt Du."
"Ich weiß", preßte ich heraus, während mir Rotz und Tränen über das Gesicht
rannen.
"Hast Du von dem Einhorn geträumt? Ich träume manchmal auch von ihm, ganz
selten. Es gibt nicht mehr viele Einhörner, mußt Du wissen. Es ist das letzte
seiner Art."
"Ich habe solche Angst, daß etwas passiert ist", heulte ich weiter, und dann,
Stück für Stück, erzählte ich von dem Traum, von der Lichtung, von meiner
Welt, ohne zu überlegen, welchen Schatz ich da einer wildfremden Frau
anvertraute.
Sie hörte mir zu, mit einem aufmerksamen Ausdruck in ihren unergründlichen
dunklen Augen, und es wirkte keine Sekunde so, als lausche sie den
Hirngespinsten eines hysterischen Kindes, sondern sei sehr vertraut mit derlei
Geschehnissen. Schließlich sagte sie:
"Solche Träume kündigen manchmal wichtige Dinge an. Es kann gut sein, daß ich
selbst auch so etwas geträumt hätte, heute Nacht, wenn Du nicht zu mir
gekommen wärest, aber auch so ist es gut. Wir werden nachsehen, morgen oder
übermorgen."
"Sie können herausfinden, ob das nur ein Traum wahr?" Ein bißchen beruhigt und
neugierig schlürfte ich meinen Kakao.
"Was ist Traum, was ist Wirklichkeit?" Sie lachte ein elfenhaftes Lachen, das
ungewohnt an ihrem so strengen Äußeren war. "Die Grenze zwischen unserer Welt
und der anderen ist nicht scharf, auch wenn die meisten Menschen sie nicht
sehen wollen, weil sie nicht an das glauben, was man nicht anfassen oder
nachmessen kann. Trotzdem träumen sie, wandern in den Nächten an die Orte,
nach denen ihre Seele sicht sehnt, auch wenn sie sich nach dem Aufwachen an
nichts mehr zu erinnern glauben. Es gibt nur wenige, die sich erinnern wollen,
die sehen wollen, so wie Du."
"Also gibt es das alles wirklich?" Langsam trockneten die Tränen auf meinen
Wangen, während ich die warme Tasse umklammert hielt.
"Es ist eben eine andere Art von Wirklichkeit, eine, die man nur mit dem
Herzen sehen kann und nicht mit den Augen. Und die meisten um uns herum haben
ein blindes Herz", erklärte sie, die Hände im Schoß gefaltet.
"Und das Einhorn?", wollte ich wissen.
"Ich kann das herausfinden. Wenn Du mir die Lichtung zeigst, werde ich spüren
können, ob es noch da ist."
"Man muß lange mit dem Fahrrad fahren", gab ich zu bedenken.
"Ich werde mir eins leihen", antwortete sie bestimmt.
Es dauerte noch Tage, bis ich mich entschloß, dieser fremden Frau wirklich
meine Lichtung zu zeigen. Und ich fragte mich in dieser Zeit nicht, wieso
gerade sie Gewißheit über mein Einhorn zu erlangen in der Lage war. Ich
glaubte ihr einfach, daß sie es konnte, vielleicht auch gerade weil sie an
meine Welt geglaubt hatte. Trotzdem war es eine schwere Überwindung.
Der Tag in den Ferien, an dem ich mit ihr losfuhr, war sehr warm und schwül,
und der Fahrtwind in den Wäldern war angenehm kühl. Es war lustig zu sehen,
wie die Zigeunerin ihre weiten Röcke raffen mußte, um überhaupt auf das
Fahrrad zu kommen, und hernach der Fahrtwind die weiten Stoffbahnen flattern
ließ.
Der Weg war weit, und in der warmen Luft gerieten wir gehörig ins Schwitzen,
ehe wir die dichten Tannenschonungen erreichten, hinter denen sich meine
Lichtung befand. Meine Begleiterin war offensichtlich die Anstrengung nicht
gewohnt und geriet ziemlich außer Atem.
Schließlich hielt ich vor dem kleinen, etwas versteckten Pfad an, der zu
meinem Heiligtum führte.
"Hier ist es", sagte ich nicht ohne ein Zögern. Die Frau nickte nur und
verstaute ihr Fahrrad hinter den Bäumen am anderen Wegrand. Dann wartete sie,
fast schien es mir, respektvoll, um mir den Vortritt zu lassen. Dergleichen
war ungewohnt für mich, da ich bisher von Erwachsenen immer nur als
versponnenes kleines Mädchen behandelt worden war, und bestärkte mich in
meinen Entschluß. Also ging ich tapfer voran zwischen die Büsche.
Als wir auf die Lichtung traten, sagte sie immer noch nichts, sondern sah mich
nur voller Erstaunen an. Unschlüssig blieb ich stehen, wußte ich doch nicht,
was jetzt geschehen sollte noch wie ich mich an diesem Ort in Begleitung von
jemand anderem verhalten sollte. Aber die Frau sog nur prüfend die Luft ein,
breitete die Arme aus uns wandte mit geschlossenen Augen der Sonne das Gesicht
zu. Sie lächelte entrückt, und ihre Miene wurde seltsam alterslos, beinahe
hätte sie eine Spielkameradin von mir oder den Waldfrauen sein können.
Eine endlose Weile stand sie so da. Manchmal formte ihr Mund lautlose Sätze.
Ich trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, wußte aber nicht recht,
was ich tun oder sagen sollte. Also beobachtete ich sie nur.
Dann, irgendwann, ließ eine kühle Windbö mich frösteln. Mit Erstaunen
registrierte ich, daß dicke graue Wolken aufgezogen waren und die Sonne zu
bedecken begannen. Es mußte eine Menge Zeit vergangen sein. Der Wind wurde
stärker.
"Es wird regnen", sagte die Zigeunerin, und dann sah sie mich sehr glücklich
an. "Aber trotzdem, das ist ein wunderbaren Ort hier. Danke, daß Du ihn mir
gezeigt hast."
Die Worte klangen aufrichtig. Ich wunderte mich noch mehr, denn noch nie hatte
eine Erwachsene sich bei mir, einem kleinen Mädchen, aus ganzem Herzen für
etwas bedankt. So nickte ich nur etwas verschämt.
"Ich denke, wir sollten nicht lange bleiben, wenn wir nicht naß werden wollen.
Aber ich will noch nach dem Einhorn schauen." Mit diesen Worten begann sie in
ihrer Tasche zu kramen, und zog schließlich einen geschnitzten hölzernen Stab
mit einem Glitzerstein an der Spitze daraus hervor.
Wieder zerrten kühle Windböen an ihren langen Röcken, ließen den Stoff
flattern.
Und dann geschah plötzlich das, was ich in meiner Unschuld am wenigsten
erwartet hätte und das alles veränderte. Eine unbekannte Gestalt trat hinter
den Büschen am Tümpel hervor. Ich war entsetzt! Ein Eindringling, jemand, den
ich nicht hergeführt hatte, auf meiner Lichtung!
Der Mann trat ein paar Schritte auf uns zu. Mich beachtete er überhaupt nicht,
aber wie er sich bewegte, eine Silouette vor einem weiß blühenden Busch,
erinnerte er mich einen Augenblick lang an den Schatten in meinem Traum.
Zu der Zigeunerin sagte er:
"Du hättest nicht herkommen sollen, Maria."
"Jankrel", antwortete sie überrascht, "es hätte mir klar sein sollen, daß Du
und Deine Spießgesellen ihre gierigen Finger hier im Spiel haben."
"Diese Sache ist zu groß für Dich, kleines Hexchen. Nimm Dein Kind und
verschwinde von hier." Wie auf Kommando waren noch zwei weitere Gestalten am
Waldrand aufgetaucht und kamen langsam auf uns zu. Ein Donner grollte leise in
der Ferne, während der Wind immer zerrender wurde. Die Wolken schienen sich zu
einem handfesten Gewitter zusammenziehen zu wollen.
Die Zigeunerin, die (wie ich nun wußte) Maria hieß, machte ein paar
entschlossene Schritte, ging eilig halb um den Tümpel herum, dessen von
kleinen Wellen zerfurchtes Wasser in dem abnehmenden Licht pechschwarz wirkte,
stellte sich direkt neben dem Wasser auf den kleinen Wildwechsel, an dessen
Ende das Einhorn stets aus dem Wald erschienen war. Ängstlich rannte ich zu
ihr, wollte nicht allein mit den drei Unbekannten bleiben.
"Nein, Jankrel", antwortete sie schließlich streng. "Du wirst hier
verschwinden. Wir sind gewarnt worden und werden Deine Machenschaften hier
nicht dulden." Es donnerte wieder in der Ferne. Der Himmel verdüsterte sich
mehr und mehr.
Ich verstand gar nicht mehr, wovon all diese Leute sprachen. Hatte das mit
meinem Traum zu tun oder nicht? Was taten die hier auf meiner Lichtung?
Konnten sie sich nicht woanders streiten und mich in Frieden lassen?
"Ich sagte doch, das ist zu groß für Dich. Verschwinde und stör uns nicht."
Die tiefe Stimme des Anführers der drei Männer verhieß nichts Gutes.
"Und ich sagte, verschwinde Du und laß Deine Finger von dieser Entität. Ich
werde nicht zulassen, daß Du etwas derart Reines absorbiertst." Maria klang
nicht weniger entschlossen, nicht zu weichen.
Ich begann zu weinen. Meine schöne Lichtung, mein Reich, alles machten sie mir
kaputt, und niemand, auch die Zigeunerin nicht, schien sich noch für mein
Einhorn zu interessieren. Ich wollte weglaufen, traute mich allein aber nicht
an den Männern vorbei. Ein Blitz gabelte sich im bleigrauen Licht über dem
Waldrand, und diesmal war der Donner richtig laut. Der kalte Wind trug die
ersten großen Regentropfen heran.
"Reinheit", schnaufte unser Gegenüber verächtlich, "immer dieses Gefasel von
Licht und Reinheit. Es ist Energie, viel Energie, und die ist für die da, die
damit umzugehen wissen. Verschwinde und nimm Deine komischen
Moralvorstellungen mit, Maria, oder Du wirst es bereuen."
"Nein, Jankrel. Diesmal nicht. Du wirst nicht an mir vorbeikommen", erwiderte
sie.
"Fort mit Dir, Hexe!", brüllte der Mann verächtlich in den Sturm.
"Du kannst hier nicht durch!", erwiderte die Frau mit gefährlich ruhiger
Stimme. Drohend standen die beiden sich gegenüber. Der Himmel spie einen
weiteren Blitz aus, taghell erleuchtete er die Lichtung und zog eine
ohrenbetäubenden Knall hinter sich her, und dann schienen die Wolken
herabzustürzen, Regen und Hagel prasselten hernieder und immer neue Blitze
zuckten gleißend durch den schwarzen Himmel. Ich schrie vor Angst, lief, was
ich konnte durch das Prasseln und Donnern, entlang an naß peitschenden Zweigen
und reißenden Dornen, durch klatschende Schlammpfützen, raffte mein Fahrrad
aus dem Gebüsch und trat in die Pedale, was ich nur konnte, um dem Inferno zu
entkommen, das dort in meinem ehemaligen Paradies tobte. Der Regen mischte
sich mit dem Salz meiner Tränen, und als ich auf dem glatten schlammigen Weg
ins Rutschen geriet und hinfiel, auch mit dem Geschmack von Blättern und Erde,
aber alles das nahm ich kaum wahr, weil jedes Donnern, jeder Blitz wie ein
Messer in mein Herz schnitt, meine Lichtung mehr zerstörte, entweihte und
besudelte, weil ich wußte, daß dort jetzt Erwachsene standen und sich um
irgendetwas, das ich nicht verstand, stritten. Auf meiner Lichtung, an meinem
Ort. In meinem blutenden Herz.
Ich schaffte es irgendwann nach Hause, nahm kaum etwas wahr von den
Strafpredigten und den Schlägen meiner Eltern, die mich dort erwarteten, weil
ich nicht rechtzeitig vor dem Gewitter zuhause gewesen war. Ich war innerlich
wie tot, schlief in dieser Nacht wie in allen folgenden traumlos.
In den Wald ging ich nicht mehr, und auch die Zigeunerin sah ich nie mehr.
Irgendwann hieß es, Verwandte hätten ihre Sachen abgeholt, weil sie in einem
Krankenhaus sei, andere wollten wissen, sie sei gestorben oder verrückt
geworden. Aber all das interessierte mich nicht mehr. Ich dachte nur daran,
daß ich das Einhorn nicht mehr sah, wahrscheinlich nie mehr sehen würde, und
an den Schmerz in meiner Seele, in der sich nur noch die Ruinen meiner
geheimen Welt befanden.
Und so wurde ich wie alle anderen, rauchte heimlich auf dem Schulhof und
tuschelte über die Jungs, um mein Herz zu betäuben, und weinte manchmal
lautlos vor dem Einschlafen, weil ich mich wie eine Verräterin fühlte.
"Ach, Mama." Meine kleine Tochter legte ihre Ärmchen um mich und drückte mich
ganz fest. "Du bist weggelaufen und hast ja nie nachgesehen, ob das Einhorn
noch da war."
Victoria sprach die Worte mit einer tröstenden Bestimmtheit, die mich ein
bißchen erschreckte.
"Aber wenn ich jetzt davon träume, dann ist es noch da. Die bösen Männer haben
es nicht gekriegt. Du mußt nie mehr weinen abends im Bett."
Was sagt mir meine kleine Tochter da eigentlich, dachte ich verwirrt. Ich bin
eine erwachsene Frau mit einer zerstörten Zukunft. Was denke ich über diese
Kindergeschichten nach.
Aber mein Mund antwortete nur: "Ja", und in meinem Inneren lichtete sich die
Dunkelheit von zwanzig Jahren in einem Augenblick.
Vor dem Küchenfenster schien die Sonne ein winziges Schlupfloch durch die
ewige Dunstglocke über der grauen Stadt gefunden zu haben.
In ihrem Licht flatterte ein Schmetterling.
Der erste seit Jahren.
© 2001 Diane Neisius. Erstveröffentlichung auf dem "Symposium für die Göttin", Bielefeld 2001