Die kleine Stadt in den Bäumen war noch hell erleuchtet von magischem Glanz
und Irrlichtern, als der Späher aufgeregt hindurchrannte. Viele der Feen, die
noch mit den Vorbereitungen für das Frühlingsfest beschäftigt waren, sahen ihm
erstaunt nach, denn der Feenwald war sonst ein eher beschaulicher Ort, in dem
es nicht viel Grund zur Eile gab. Der Zauber der Feenkönigin über den Bäumen
war stark und hielt die meisten ziehenden Menschenstämme oder wilden Trolle
fern.
Umso erstaunlicher war es, daß der Späher nun bei den Wachen am Fuß der großen
Buche, in der die Königin mit ihrem Prinzgemahl wohnte, lautstark Einlaß
begehrte. Einige neugierige kleine Feen kamen eifrig näher heran, um etwas
mehr von dem unerhörten Vorfall mitzubekommen. Aber der erregte Wortwechsel
war schon vorbei, der aufgeregte Späher längst eingelassen, als die Menge sich
um den gewaltigen silberrindigen Stamm versammelte, und die Wachen ließen
niemand mehr hinauf zu dem Königspalast in den Ästen.
Die Königin der Feen war eine freundliche Frau, aber auch sie mochte nicht
gern zu dieser Zeit gestört werden. Schließlich hatte sie noch eine Menge
Vorbereitungen für das Frühlingsfest zu treffen.
"Ich hoffe, daß es auch wirklich wichtig ist", sagte sie zu ihrer Zofe, "und
seid bitte so gut, auch meinen Mann zu benachrichtigen, für den Fall, daß es
wirklich wichtig ist." Es ist nämlich bei den Feen so, daß die Königin und der
Prinz gemeinsam regieren und alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam treffen;
in allem, was Zauber und Magie anging (also ehrlich gesagt bei den meisten
Dingen) hatte allerdings die Königin das letzte Wort, während der Prinz die
Schar der Feenkrieger führte, falls der Wald mit Waffengewalt verteidigt
werden mußte.
Kaum daß die Königin ihren Stickrahmen niedergelegt hatte, stürmte auch schon
der aufgeregte Späher in das hoch in den Baumästen gelegene Gemach, gefolgt
von der Zofe und dem Hauptmann der Palastwache.
"Ich bitte um Vergebung, Majestät", keuchte er außer Atem, während er sich
ehrerbietig auf ein Knie niederließ, "aber uns droht eine schreckliche Gefahr.
Ein Drachen ist am Nordrand des Waldes angekommen, ganz in der Nähe des
Flußufers."
"Ein Drachen." Die Königin stand auf und wandte sich ab, bemüht, sich ihre
Sorge nicht anmerken zu lassen. Sie brauchte keine Magie anzuwenden, um zu
wissen, daß der Späher nicht log oder übertrieb (so etwas war den Feen ohnehin
fremd), denn seine grüne Tunika war eingerissen, und an der Bogensehne hing
noch ein abgebrochenes Ästchen. Er mußte sich sehr beeilt haben.
"Ein Drachen also?", sagte sie gefaßt und drehte sich wieder dem Besucher zu,
die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die weiße Spinnseide ihres Kleides
raschelte leise bei der Bewegung. "Groß, nehme ich an."
"Sehr groß, Majestät", bestätigte der Späher. "Ich hielt es für sehr wichtig."
"Das ist es. Ihr habt recht gehandelt, Euch zu beeilen." Die Königin gab dem
Hauptmann ein Zeichen. "Richtet bitte auch meinem Gemahl aus, daß es wichtig
ist und wir uns in der Schreibstube beraten. Und Ihr, wackerer Späher, folgt
mir."
Neuigkeiten dieser Art finden immer ihre eigenen Wege, um sich zu verbreiten,
und so kam es, daß noch während die Beratung in der hellerleuchteten
Königsbuche stattfand, die ersten Gerüchte über den Drachen zu der wartenden
Menge am Fuß des Stammes durchgedrungen waren. Viele der Feen bekamen Angst,
denn Drachen waren alte und starke Wesen, deren Magie mächtig war, unter
Umständen gar der einer Feenkönigin überlegen. Und man hatte schon viele
Geschichten gehört über die Taten der Drachen, über Zwergenfestungen, die sie
zerstört hatten, um Schätze zu rauben, über grünende Wälder, die sie mit ihrem
Feuer verbrannt hatten, über die legendäre weiße Feenstadt in den verlorenen
Landen weit, weit jenseits der Berge, deren Fall sie bewirkt hatten in den
Kriegen zwischen den Urkräften der Welt, ganze Zeitalter zurück in der
Vergangenheit.
Jedes Feenkind wußte genau, was ein Drachen war und was er anrichten konnte,
auch wenn die meisten Feen aus diesem Wald noch nie einen gesehen hatten. Denn
es gab (glücklicherweise, dachten die gebildetsten unter ihnen) nicht mehr
allzuviele davon.
Deshalb lief ein achtungsvolles Seufzen durch die Menge, als man bemerkte, wie
die Palastwache sich sammelte, Feenkrieger aus allen Teilen der Baumstadt
gerüstet mit Pfeilen, Bogen, Bronzeschwerten und -speeren herankamen und sich
um den Hauptmann der Wache scharten, der inzwischen wieder vom Königsbaum
herabgekommen war. Und weit oben, auf der Plattform zwischen den beleuchteten
Ästen war der weiße Federbusch auf dem glänzenden Silberhelm des Prinzen zu
sehen.
Umso größer war das Erstaunen, als die Königin selbst zuerst auf eine
niedrigere Plattform hinaustrat, um zum Feenvolk zu sprechen, eingehüllt in
ihre weiße Zauberrobe und mit der goldenen Blätterkrone auf dem Kopf, umgeben
von sanftem magischen Glanz und ein paar Irrlichtern, wie das bei solchen
Ansprachen der Brauch war.
"Hört mich, Feenvolk des Zauberwaldes", sagte sie nun mit ihrer klaren Stimme
in die laue Frühlingsnacht, "es ist etwas Bemerkenswertes geschehen. Ein
starkes und altes magisches Wesen hat unseren Wald erreicht. Es ist ein
Drachen, und ich habe ihn in meinem Zauberspiegel angesehen, obwohl ich wußte,
daß dadurch auch er mich sehen kann. Aber immerhin weiß ich jetzt: der
Drachen kommt nicht hierher. Entweder kann oder will er nicht in unseren Wald
hinein, und das bedeutet, daß ihr alle zunächst sicher seid."
Was die Königin für sich behielt, war natürlich, daß es sich bei dem Abwarten
des Drachen auch um eine List handeln konnte. Aber sie wußte auch, daß kein Ort
der Welt jemals Sicherheit vor allen denkbaren Gefahren bot, nicht einmal der
Zauberwald; und die Sorge um die Feen war ihr angetragen, und sie wollte
wenigstens, daß die Bewohner des Waldes sich für den Augenblick sicher fühlten
und keine Angst leiden mußten.
"Aber das bedeutet auch, daß wir nachsehen müssen, was er von uns will",
setzte die Königin ihre Ansprache fort, "und daher werden der Prinz und ich,
begleitet von der Kriegerschar, zum Waldrand gehen. Ich weiß, ihr wollt sagen,
daß das zu gefährlich für mich ist. Aber denkt daran, daß Drachen mächtige
Magie in sich tragen, und daß möglicherweise nur ich seine ganzen Zauber
abweisen kann."
Und sie dachte im Stillen bei sich: wenn ich es nicht schaffe, dann ist ohnehin
alles umsonst gewesen und es ist egal, ob ich hier in meiner Buche oder
draußen am Waldrand verbrannt werde.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Zug nach Norden zusammengestellt war,
denn es gab eine Menge Verwirrung - Feen können nun einmal in ihrer Art nicht
gut Ordnung halten, und natürlich wollte auch jeder mit dabeisein, denn mehr
als alles andere sind Feen neugierig. So zog also, der Morgen war nicht
mehr allzu fern, beinahe das ganze Volk, angeführt von der Königin und dem
Prinzgemahl, zum Ruheplatz des Drachen.
Als man den Waldrand erreichte, dämmerte schon der kommende Tag. Und viele
der Feenkrieger packten beklommen die Griffe ihrer Bronzeschwerter fester, als
sie durch die letzten Bäume des Waldes die dunkle Silouette des Drachen groß
wie einen kleinen Hügel gegen den Morgennebel im Flußtal erspähten.
Der Prinz mahnte flüsternd zur Ruhe und daß man doch endlich die
verräterischen Irrlichter löschen sollte, aber die Königin sagte nur:
"Er weiß, daß wir hier sind, auch ohne daß er uns sieht. Er spürt unsere
Anwesenheit so wie ich seine."
Und wirklich hob sich jetzt der mächtige schmale Kopf des Ungeheuers, und für
einen Augenblick sah man die langen gebogenen Hörner gegen den fahlen Himmel,
ehe seine blau glühenden Augen direkt zur ihnen herübersahen.
Je mehr das Tageslicht zunahm, desto mehr Sorgen stiegen in dem Prinzen der
Feen auf. Erst jetzt war zu sehen, wie alt und gefährlich der Besucher war,
mit dicken, harten Silberschuppen, die bestimmt nicht so einfach mit den
Bronzewaffen der Krieger zu durchdringen waren, schwarzen Schwingen, die breit
genug schienen, um eine ganze Baumkrone zu umspannen, und langen, glänzend
schwarzen, gebogenen und entsetzlich scharfen Klauen an den Füßen und
Flügelspitzen, die bestimmt schreckliche Wunden reißen konnten. Und die
glühenden Augen bedeuteten doch bestimmt, daß dieser Drachen Feuer in seinem
Herzen trug, das er speien konnte. Und Magie konnte er wirken. Der Prinz war
ein wirklich tapferer Krieger, aber das war nicht der Gegner, den er sich für
sich und vor allem seine Königin wünschte.
Denn diese sagte nun mit leiser Stimme: "Ich werde allein zu ihm gehen."
Der Drachen erhob sich langsam und reckte seine steifen Gliedmaßen, als die
weißgekleidete Gestalt aus dem im Nebel versinkenden morgendlichen Waldrand
langsam auf ihn zukam. Er spürte, daß sie fast alle gekommen waren, aber daß
diese Fee hier das Herz des ganzen Volkes war. Also sagte er in der
Feensprache: "Ich grüße Euch, Königin Goldhaar."
Die Feenkönigin staunte nicht schlecht, als sie den Drachen reden hörte.
"Ihr könnt sprechen?", entfuhr es ihr, noch ehe sie recht wußte, was sie sagen
sollte.
"Natürlich kann ich das", antwortete der Drachen, "ich bin weit genug
herumgekommen in der Welt, um auch die Feensprache erlernt zu haben."
"Was wollt Ihr von uns?"
"Das ist ein wenig schwierig", erklärte er mit seinem fauchenden Akzent, "ich
spüre, wie viele von euch große Angst vor mir haben, obwohl ich doch bis jetzt
recht friedlich geblieben bin. Vielleicht sollte ich mir auch eine andere
Gestalt geben, eine kleinere, in der Ihr nicht so zu mir heraufbrüllen und ich
nicht so zu Euch hinunterflüstern muß."
"Das könnte unser Gespräch vereinfachen", bestätigte die Königin.
Viele der am Waldrand versteckten Feen hatten die schlimmsten Befürchtungen,
als sie plötzlich die Welle von Magie spürten, die der Drachen aussandte. Aber
als die kleine weiße Gestalt vor dem massigen Körper ganz ruhig stehenblieb
und nur dieser sich veränderte, waren die meisten erleichtert. Die Krieger
ließen die gespannten Bogen wieder sinken und nahmen die schußbereiten Pfeile
von der Sehne.
Denn der Drachen wurde kleiner, die gedrungene Gestalt richtete sich auf,
schrumpfte mehr und mehr ein, wurde feenähnlicher, bis sie in etwa die Größe
der vor ihr wartenden Königin erreicht hatte.
Diese musterte die nun vor ihr stehende Gestalt mit plötzlichem Verstehen,
erkannte den wohlgeformten nackten Frauenkörper, an dem einzig noch die
ledrigen schwarzen Schwingen auf dem Rücken und die blauglühenden,
mandelförmigen Augen im Gesicht an die Drachengestalt erinnerten. Nicht mehr
eine einzige Schuppe war auf der hellen Haut zu sehen, all das Silber war in
die hüftlangen Haare geflossen.
"Eine Tochter der Nacht", sagte mehr zu sich selbst, "Schwester aus der
Dunkelheit, was willst Du denn hier?"
Die Drachenfrau musterte ihr Gegenüber ebenso. Sie hätten in der Tat
Schwestern sein können, silbern und golden, schwarz und weiß, so wie Sonne
und Mond oder der Tag und die Nacht gegensätzlich sind und doch
zusammengehören.
"Ich bin weit gereist, durch die Nacht und die Kälte und die einsamen Gegenden
auf dieser Welt", sagte sie, "und ich bin müde. Ich suche ein Heim."
"Du willst bei uns bleiben? Im Zauberwald?", fragte die Königin erstaunt.
"Ja", antwortete die Drachenfrau knapp. Nach einer Pause erklärte sie: "Seht
einmal, ich bin freiwillig hierher auf diese blaue Welt gekommen, auf der
alles so voller Licht und Leben ist. Ich mag das Grün der Blätter, die Stimmen
der Tiere, den Wind in meinem Gesicht. Ich bin lange gewandert, um diesen Ort
zu finden, und ich war lange glücklich hier. Aber jetzt beginnt sich etwas zu
ändern. Die Welt wird alt, und die Plätze voller Licht und Leben werden
weniger. Seht Euch doch selbst an, ihr habt Euch mit einem ganzen Feenvolk in
diesen Wald zurückgezogen, um wenigstens hier noch das Licht der Welt, als sie
jung war, zu bewahren. Ist es nicht so?"
"Ich habe noch nie einen Drachen getroffen, der das Licht in seinem Herzen
trug", entgegnete die Fee mißtrauisch, "und es ist nur zu bekannt, daß
euresgleichen sehr listig ist."
"Ich weiß, daß viele meiner Schwestern aus der äußeren Dunkelheit in die Welt
herabgestiegen sind, um zu herrschen oder Berge von Gold und Edelsteinen zu
erobern. Aber ich bin das nicht. Ich weiß, daß Du die Macht hast, allen Wesen
in die Herzen zu schauen, Königin Goldhaar; ich verstelle mich nicht. Sieh in
mein Herz, wenn Du willst." Sie schloß die glühenden Augen und senkte den
silberhaarigen Kopf.
Und die Königin zog die Macht des Zauberwaldes in ihrem Geist zusammen und
wob einen Zauberschleier daraus, den sie über die schwarzgeflügelte
Frauengestalt warf, die sich nicht dagegen wehrte. Ihre Geister berührten
sich, sie sahen einander ins Herz, und die Fee erkannte die Sehnsucht nach dem
Licht in dem glühenden Drachenherzen, gleich den Motten, die des nachts immer
wieder die Irrlichter umschwirrten, bis sie erschöpft zu Boden fielen. Eine
ganze Weile standen die Frauen so da, gefangen in den Zauberschleiern, ehe der
Geist der Königin sich von der Drachenfrau löste und sie leise und stockend
sagte: "Es stimmt. Auch wenn ich es noch nie gesehen habe, es stimmt. Aber
warum kommst Du gerade zu uns?"
"Kennt Ihr nicht Eure eigenen Legenden?", kam die traurige Gegenfrage, "mit
den Feen kamen das Licht, die Liebe und die Schönheit in die Welt. Und jetzt
gibt es nicht mehr viele Gegenden, in denen noch Feen leben. Ein einsamer
Meeresstrand, ein verstecktes Tal jenseits der Berge; der Wald stromauf auf
der anderen Seite des Flusses. Mehr Feen gibt es nicht mehr außer ein paar
vereinzelten Quell- oder Baumnymphen. Und Ihr, weiße Königin, seid die
weiseste und mächtigste von allen, die noch geblieben sind."
"Ich weiß, wie wenige wir sind und daß eines Tages alle Feen hierher zu mir
kommen werden. Umso mehr muß ich diesen Wald schützen vor allen möglichen
Gefahren."
"Ich könnte Euch unterstützen dabei." Die blauleuchtenden Augen öffneten sich
wieder.
"Du gehörst nicht hierher, Tochter der Äußeren Finsternis", antwortete die
Feenkönigin, und ihr war nicht wohl dabei, denn sie hatte die Sehnsucht in
der Seele ihrer dunklen Schwester gesehen, "ich glaube Dir ja, denn ich habe in
Dein Herz gesehen. Aber mein Volk kann Dir nicht ins Herz blicken und wird Dir
mißtrauen. Sie werden immer den Drachen in Dir sehen, und sie wissen, was die
Drachen angerichtet haben in den vergangenen Zeitaltern, allem voran die
Zerstörung der Weißen Stadt. Sie werden nicht vergessen, was geschehen ist und
Dich dafür verantwortlich machen. Und das bedeutet, daß es Unfrieden und Angst
geben wird, wenn Du da bist, auch wenn keine Schuld auf Dir lastet. Unfrieden
und Angst sind aber das Letzte, was ich dem Feenvolk hier zumuten will - die
gibt es draußen schon genug, und wenigstens in diesem Wald müssen Frieden und
Licht gewahrt bleiben als einem der wenigen Rückzugsplätze. Du kannst nicht
bleiben, um des Lichtes willen, das auch Du liebst."
Die Schultern der Drachenfrau sackten mutlos nach unten. "Ich biete Euch doch
meine Macht zu Diensten an", machte sie einen kläglichen letzten Versuch, "die
Urkräfte sind noch nicht völlig zur Ruhe gekommen und werden sich
möglicherweise noch einen letzen Kampf liefern. Ich würde den Wald verteidigen
helfen, sogar als Dienerin."
"Ich weiß, daß es noch einen Kampf geben wird. Die schwarzen Zauberer sind
weit im Osten gesehen worden, und auch der Feuergeist wird wieder unruhig.
Aber in dieser Auseinandersetzung wird sich die letzte Magie entladen, die
noch in der Welt steckt, und danach wird unsere Zeit vorbei sein, egal, wie
das Kräftemessen ausgeht. Das Zeitalter der Menschen wird unwiderruflich
anbrechen", erklärte die weißgekleidete Herrin der Feen mit schicksalhaft
ruhiger Stimme. "Und darum sind Orte wie dieser Wald umso kostbarer. Ich kann
Dich nicht hineinlassen, solange auch nur ein einziges Feenkind Zweifel an Dir
hegt, so leid es mir tut."
"Ich verstehe", kam die geflüsterte Antwort, und die Königin sah, daß Tränen
die Wangen unter den glühenden Augen netzten.
Ich wußte gar nicht, daß Drachen weinen können, dachte sie und hätte am
liebsten ihre silberhaarige Schwester in die Arme genommen, um sie zu trösten.
Aber sie legte ihr nur die schmale goldschimmernde Hand auf die nackte
Schulter.
"Die Zeit mag es ändern", sagte sie, als ein plötzliches Gesicht über sie kam,
denn Feenköniginnen verfügen über die Gabe der Weissagung.
"Ich werde warten", antwortete die Drachenfrau.
Also blieb die Drachenfrau am Ufer des Flusses, wo die Wellen murmelten, und
sie hörte das Singen und sah die Lichter der Feen immer nur von weitem. Aber
als der letzte Kampf der uralten Schöpferkräfte losbrach, verwandeltete sie
sich noch einmal in ihre Drachengestalt, und sie rang mit einem der schwarzen
Zauberer über dem Fluß, als die wilden Trolle und die Kobolde der Berghöhlen
den Feenwald auf Geheiß des Feuergeistes angriffen. Der Zauberer staunte
nicht schlecht, als er sah, mit wem er es da zu tun bekam, und obwohl er dem
Drachen schwere Blessuren zufügte, brach dieser schließlich der
Riesenfledermaus, auf der der Zauberer ritt, den Hals und warf diesen in den
Fluß.
Und nachdem alles das ebenso wie die ruhmvolleren Kämpfe an anderen Orten
überstanden und der Feuergeist zur Ruhe geschickt worden war, trafen der
Drachen und die Feenkönigin noch einmal am Flußufer zusammen. Rauch trieb über
das Wasser von den Feuern, in denen die Leichen der Kobolde verbrannt wurden
und gab der Luft einen schalen Geschmack.
"Wird das Euer Volk überzeugen, Goldhaar", fragte der Drachen, während er
vorsichtig seine silberschuppige Seite betastete, über die sich jetzt tiefe
Schrammen zogen.
"Noch nicht", antwortete sie mit Trauer in der Stimme, "es gibt noch immer
Zweifel an Dir, so sehr Du Dich auch für uns eingesetzt hast. Viele hängen
an der Vergangenheit und der Weißen Stadt und wollen nicht vergeben noch
vergessen. Aber die Zeit ändert sich jetzt spürbar. Immer mehr löst sich alles
feenhafte aus dem normalen Lauf der Tage und Wochen. Schon jetzt werden wir
sogar den Menschen, die mit uns befreundet sind, immer unheimlicher. Der Punkt
ist nicht mehr fern, an dem mein Reich hier sich endgültig von dieser Welt
ablösen wird und zur Anderen hinübertreibt. Dann wird hier nur ein ganz
normaler Wald ohne Zauber zurückbleiben."
"Ich verstehe", gab die fauchende Stimme tonlos zurück, während die Krallen
weiter vorsichtig die Wunde zwischen den Schuppen betasteten.
"Kurz bevor es soweit ist, werden viele andere Wesen der alten Zeit
hierherkommen, um mit uns zu reisen", erklärte die Königin, "die Welt gehört
jetzt den Menschen und wird zu grau und zu kalt für uns. Vielleicht wird dann
auch endlich Platz für Dich sein im Feenreich. Aber wenn nicht, werde ich ein
Tor zwischen den Welten bereithalten für Dich bis zu dem Tag, an dem Dich alle
willkommen heißen können. Das verspreche ich Dir. Ich habe Deine Sehnsucht und
Einsamkeit gesehen, dunkle Schwester, und ich weiß, daß Du zu uns gehörst,
obwohl Du eine Tochter der Äußeren Finsternis bist."
"Ich werde warten und wachen", antwortete der Drachen da zum zweiten Mal, und
er rollte sich am Flußufer zusammen und wartete, wartete Jahre und Jahrzehnte
und Jahrhunderte, wartete geduldig, solange, bis er am Ende schließlich zu
Stein wurde.
Und es wird erzählt, daß er da liegen wird, bis die Feenkönigin ihn endlich
in ihr Reich ruft, und daß man an der Seite des schwarzen Steins noch immer
die tiefe Schramme sehen kann, die der Drachen sich einst bei seinem Kampf mit
dem Zauberer über dem Fluß zugezogen hat.
Später, nachdem alle ihrer kleinen Nachkommen sicher und warm in den Betten
verstaut waren, stand die Frau noch sinnend am Fenster. Das Feuer war
inzwischen heruntergebrannt und ließ den kleinen Wohnraum beinahe im Dunkel
ertrinken. Draußen glitzerten die Sterne in einer Pracht, die sie nur in
Winternächten besitzen, über den verschneiten Dächern.
Sie dachte über die Großmutter aus dem Dorf nach und wieviel sich in der
Zwischenzeit verändert hatte. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatten aus dem
heimatlichen Dorf eine graue Siedlung zwischen Eisenbahn und Fabrik werden
lassen, die sie nur noch selten besucht hatte, nachdem sie zum Arbeiten in die
Stadt gegangen war. Die Landwirtschaft hatte nie jemand reich gemacht, aber
selbst noch in ihrer Jugend reichte sie kaum mehr aus, um davon satt zu werden.
Dann wurde die Eisenbahn durch die grünen Felder gebaut, und immer mehr Leute
aus dem Dorf arbeiteten nicht mehr als Bauern. Viele gingen fort in die Stadt,
so wie sie.
Was war aus der Großmutter im Dorf geworden? Mit einiger Bestürzung
registrierten ihre Gedanken, daß sie es nicht wußte. Irgendwann war ein
studierter Doktor aus der Stadt dagewesen, bei dem alle ihre Wehwehchen
behandeln ließen und der den Frauen bei Geburten half. Und die Kinder mußten
in die Schule gehen.
Sie wird einfach gestorben sein, dachte die Frau, die nun selbst eine richtige
Großmutter war, hoffentlich war es, bevor das Dorf so häßlich wurde und die
Eisenbahn und die Fabrik mit ihrem Rauch alles grau machten. Sie hatte die
warmen Farben der gemütlichen alten Bauernkaten so gern und die frische Luft
und den Geruch der Wiesen und Felder.
Fast schämte sie sich, daß sie nicht wußte, wann die alte Frau, die sie als
Kind so liebgehabt hatte, von ihr gegangen war. Ein einziges Mal nur hatte sie
die schwingenden schwarzen Röcke und die silbergrauen Haare noch zu sehen
geglaubt, hier in der Stadt, als sie selbst schon eine Weile verheiratet
gewesen war. Aber das war eigentlich undenkbar, die Großmutter war schon
Jahrzehnte vorher eine alte Frau gewesen.
Eigentlich hatte sie nie jemand anders als als alte Frau gekannt.
Da erzählt man den Kindern Märchen und wird selbst noch ganz kindisch dabei,
sagten die langsam fließenden Gedanken in dem greisen Hirn, von Drachen und
Engeln und Steinen und Großmüttern, die schon lange tot sein müssen.
Nun, die Großmutter aus dem Dorf hätte wirklich gut selbst ein Engel sein
können. Nie war sie böse, und sie liebte alles, was lebte und selbst die
unbelebten Dinge noch mit einer Inbrunst, die ihresgleichen suchte.
Ja, sie hätte wirklich ein Engel sein können, dachte die alte Frau und schloß
die müden Augen.
Und so sah sie nicht die helle Sternschnuppe, die in diesem Moment über den
Winterhimmel zog und eine golden glitzernde Spur hinter sich ließ.
© 2001 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.