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Feenmond

für Sarina


Ich wußte, daß sie kommen würde an diesem Abend. Ich hatte es gewußt, noch bevor sie ihren Entschluß gefaßt hatte, unten in dem kleinen Dorf, abgelegen in einem Nebental.
Die Luft war mild an diesem Spätsommerabend, Hunde bellten in den kleinen Höfen, dort, wo die kärglichen Felder der Siedlung begannen; eigentlich war es ein Laut des Heimkommens, nicht des Fortgehens, dort unten, wo die langen, goldenen Strahlen der Septembersonne nicht mehr hinreichten und mit der Abendkühle schon der erste Dunst aus den noch dichtbelaubten Talwäldern aufstieg.
Der Felsen, den ich mir zum Sitzplatz erkoren hatte, war noch warm vom Licht des Tages. Ich genoß das tiefstehende Licht und den Zauber, den es über die Kämme der bewaldeten Hügel für kurze Zeit ausgoß. Es war schön, wieder einmal hier zu sein.
Ein Knacken verriet, daß jemand eilig den Weg von der Quelle heraufkam, mit ungeschickten Schritten, erregt und leise vor sich hinschimpfend. Blätter raschelten, ein Steinchen kollerte. Dann sah ich sie, den Trotz in ihrem dem Boden zugewandten, von schwarzen Haaren umwallten Gesicht.
Wie ich, dachte ich. Sie erinnert mich so sehr an mich.
Sie brauchte noch eine Weile, stand schon beinahe vor mir, ehe sie ihr wütendes Gemurmel abbrach und erschreckt zu mir aufsah.
"Oh." Es stand eher Überraschung als Furcht in ihrem Blick.
"Ich... ich wußte nicht, daß noch jemand hier ist."
"Keine Angst." Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf. "Ich werde Dir nichts tun, Mädchen."
Fast war es, als könne ich in ihren skeptischen Augen ablesen, was sie sah. Da saß an einem Spätsommerabend, zu einer Zeit, in der eigentlich niemand mehr allein im Wald sein sollte, eine grauhaarige alte Frau in einem langen schwarzen Kleid einfach so am Wegesrand und schien auf sie gewartet zu haben.
"Was tut Ihr hier", fragte die junge Frau mit einem Stirnrunzeln.
"Oh", antwortete ich, "ich war Beeren sammeln hier im Wald. Muß wohl ein wenig von meinem üblichen Weg abgekommen sein." Wie zur Bestätigung hob ich das kleine, halbgefüllte Körbchen, das ich bei mir trug.
"Und Du, mein Kind?" Ich wartete einen Augenblick, ehe ich hinzufügte: "Du siehst nicht glücklich aus."
"Ach..." Sie wandte sich halb zurück, so daß die gelben Sonnenstrahlen das Profil ihres Gesichtes hervorhoben. Ein leichter Hauch des Abendwindes trug die herben Gerüche des nahenden Herbstes heran und spielte in ihren langen, schwarzen Haaren. Die weiße Stirn runzelte sich erneut.
"Meine Familie...", begann sie, stockte dann aber, als wisse sie nicht, wie sie gegenüber mir als einer Fremden beginnen solle.
"Ich kann es mir schon denken", half ich ihr auf die Sprünge. "Meinungsverschiedenheiten. Du tust nicht das, was Du der Meinung Deiner Familie nach tun solltest."
"Sie sagen, ich soll nicht soviel in den Wald gehen", platzte meine junge Gesprächspartnerin endlich heraus, "nicht in den Wald und besonders nicht zu der alten Linde oben auf dem Berg, wo der Stein liegt. Sie sagen, ich soll mich um das kümmern, was für eine fast erwachsene junge Frau wie mich wichtig ist. Um Heirat, Kinder und solche Dinge. Pah."
Wütend verschränkte die Sprecherin die Arme vor der Brust.
"Das scheint Dich nicht sehr zu interessieren", vermutete ich.
"Ich bin lieber hier. Ich habe keine Lust, für einen der einfältigen Kerle da unten zu putzen, zu flicken und alle zwei Jahre ein Kind zu bekommen, solange, bis ich zu alt bin, um mich noch um etwas anderes als das Innere einer Bauernkate zu kümmern."
"Die meisten Menschen leben heutzutage aber so", gab ich mit einem Schmunzeln zu bedenken.
"Ich wäre nicht glücklich damit." Leiser setzte sie hinzu: "Manche von den Jungs im Dorf sind ja vielleicht ganz nett. Aber so... langweilig. Als wenn es nichts Wichtiges außer ihren Pflugochsen auf der Welt gäbe. Und ausgerechnet mit dem Trottel vom Karghof wollen meine Eltern mich verkuppeln."
"Das kommt mir bekannt vor", antwortete ich, "ich hatte in meiner Jugend auch Meinungsverschiedenheiten mit meiner Mutter, weil ich mich zu sehr für den Wald interessiert habe. Und die Feen", setzte ich kühner hinzu.
"Ihr habt... Ihr wißt...", stotterte meine junge Gesprächspartnerin überrascht.
"Natürlich."
"Alle im Dorf sagen, daß ich mir das einbilde und daß ich nicht so viel in den Wald gehen soll. Und schon gar nicht zu der alten Linde oben."
"Ich kenne die alte Linde auf dem Berg", erklärte ich mit einem wissenden Lächeln. "Und ich kenne auch den flachen grauen Fels, der an ihren Wurzeln liegt. Früher war er als der 'Feenstein' bekannt, aber schon in meiner Jugend war er den Leuten in der Gegend unheimlich. Auch zu mir haben meine Verwandten gesagt, ich solle dort nicht hingehen, weil der Platz verwunschen sei und bei Vollmond die Feen dort tanzten. Ich bin natürlich trotzdem hingegangen, so wie Du."
Die schwarzhaarige Frau lächelte erleichtert.
"Ihr seid die erste, die genauso 'verrückt' ist wie ich, Alte", sagte sie, und der Blick ihrer dunklen Augen wurde tief.
Einen Moment lang schwieg sie, und nur das leise Rauschen der Bäume war zu hören. Über dem gegenüberliegenden Talrand stand die Sonne wie eine riesige glühende Goldmünze.
"Es gibt sie wirklich, nicht wahr", flüsterte sie mit fast kindlicher Stimme.
"Ja, es gibt sie wirklich", nickte ich.
"Warum glaubt uns nur niemand", seufzte der sinnlich geschwungene Mund in dem hellen Gesicht.
"Weißt Du, Mädchen", setzte ich zu einer längeren Erklärung an, "früher wären empfindsame Frauen, so wie Du und ich, frühzeitig als besonders sensitiv erkannt worden, und man hätte uns in die Lehre zu einer Wehmutter, einem Kräuterweib oder einer Weisen Frau gegeben. Aber heute gibt es diese Frauen nicht mehr, die die Geheimnisse der Natur und die Wesen der Anderen Welt kennen. Und daher müssen Mädchen, wie Du eins bist und ich einst war, lernen, gegen ihre Natur zu leben, wenn sie bei ihresgleichen bleiben wollen. Oder sie müssen allein leben, gemieden von allen, die sie für wunderlich halten."
"Seid Ihr gegangen, alte Frau? Seid Ihr fortgegangen?"
"Ja, das bin ich. Ich bin fortgegangen, um in den Wäldern bei den Feen zu leben. Und ich tue es noch", bestätigte ich.
"Das erinnert mich an Gerüchte, die in unserer Familie umgehen. Niemand spricht offen davon, aber es soll vor langer Zeit einmal eine Schwester meiner Urgroßmutter oder Ururgroßmutter gegeben haben, die von zuhause weggelaufen ist. Meine Mutter hat, als sie wütend auf mich war, mich einmal angeschrien, ich sei genau wie diese verlorene Schwester."
"So", schmunzelte ich.
Die Sonne begann nun hinter den bewaldeten Gipfeln im Westen zu verschwinden, und es wurde merklich kühler. Doch meine Gesprächspartnerin machte keine Anstalten, sich auf den Heimweg zu machen.
"Habt Ihr sie je selbst gesehen", fragte sie beinahe schüchtern, "die Feen, meine ich."
"Ja, das habe ich, und ich sehe sie noch recht häufig. Ich lebe bei ihnen. Sie sind sehr freundlich zu mir."
"Ihr lebt bei ihnen im Wald? So richtig, und Ihr könnt sie sehen und mit ihnen sprechen? Einen Augenblick lang wurde die junge Frau unsicher. Respektvoll machte sie einen Schritt zurück. "Seid Ihr gar selbst eine... "
Ich lachte gutmütig. "Nein, ich bin keine Fee. Aber ich lebe bei ihnen, seit ich jung war. Ich bin fortgegangen, weil ich keine Bauersfrau werden wollte, genau wie Du. Ich ging bei Vollmond zum Feenstein, und die Feen, die dort in den silbernen Strahlen tanzten, nahmen mich freundlich bei sich auf. Ich war nie so glücklich wie in jener Nacht."
"Ihr meint... man kann zu ihnen gehen, wenn man lieber bei ihnen im Wald sein will, und sie treiben keinen Schabernack mit einem und locken mich nicht in die Irre, wie in den Märchengeschichten?"
"Das tun sie nicht und das haben sie nie getan, jedenfalls nicht mit Menschen, die reinen Herzens sind", erklärte ich, "und ich denke, das bist Du. Früher allerdings haben sie mit groben einfältigen Kerlen, die glaubten, durch einen Zauber reich oder schön werden zu können, ganz gern ihre Späße getrieben. Aber sie sind es müde, glaube ich, denn heute gibt es zuviele dummdreiste Tröpfe in der Welt, und deshalb gehen sie den meisten Menschen einfach aus dem Weg."
"Und die glauben dann, es gibt gar keine Feen", schloß die Schwarzhaarige.
"So wird es wohl sein. Man sieht sie nicht, also gibt es sie nicht."
Die Frau lachte ein helles, mädchenhaftes Lachen, zum erstenmal, seit ich sie getroffen hatte. "Wie dumm."
Dann sah sie mich traumverloren an, und ich sah die Sehnsucht in ihrem Herzen, als sie mich fragte: "Und Ihr glaubt wirklich, daß ich auch zu den Feen kommen kann und zu Euch, in die Wälder?"
"Du kannst kommen, wann immer Du willst", antwortete ich wahrheitsgemäß, "wann immer Du reinen Herzens zum Feenstein kommst, wenn der Vollmond am Himmel steht, wirst Du willkommen sein."
Hinter ihren schwarzen Haaren verblaßten die letzten Sonnenstrahlen wie eine Krone am Himmel, aber das Leuchten in den Augen der jungen Frau aus dem Dorf blieb.

Nachdem sie gegangen war, verweilten meine Gedanken noch eine Weile bei dem, was ich zu ihr gesagt hatte. Längst hatten sich in der Dämmerung das Beerenkörbchen und auch das schwarze Kleid wieder in die Nebelstreifen aufgelöst, die sie in Wirklichkeit gewesen waren.
Oh, ich hatte mit keiner Silbe gelogen, bei dem, was ich gesagt hatte. Ich lebte wirklich bei den Feen, und sie waren wirklich freundlich zu mir. Es war ein Leben, das ich um nichts in der Welt mehr würde eintauschen wollen.
Aber ich erinnerte mich auch noch deutlich daran, wie ich in jener Vollmondnacht zu ihnen gegangen war, vor über hundert Jahren, um mit ihnen bei der alten Linde das erste Mal zu tanzen, und ich erinnerte mich sehr gut daran, wie die Leute aus dem Dorf mich gefunden hatten, am Morgen, im ersten fahlen Licht eines eiskalten Februartages nach einer gnadenlosen klaren Frostnacht.
Sie hatten den Schmied aus dem Dorf holen müssen, mit einer Eisenstange, um meinen glashart gefrorenen Körper von dem Stein loszubrechen, und sie hatten mir meine vereisten Augen nicht schließen können, als sie mich auf den Boden legten, meine Augen, die mit reifüberzuckerten Wimpern noch immer sehnsüchtig in Richtung des verblassenden untergehenden Vollmondes geblickt hatten.

© 2002 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.



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