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Die Wahrheit über Flugsalbe


Es gibt oder besser gab sie tatsächlich, eine echte Flugsalbe. Genaugenommen war es nicht wirklich Salbe, aber frau konnte damit fliegen. Ich habe das durch einen jener Träume erfahren, die einer manchmal von den launigen Geisterinnen des Ortes in ihrer unergründlichen Weisheit geschickt werden, und zwar nach der Halloween-Party unseres örtlichen Frauenzentrums. Die geneigte Leserin möge sich daher mich vorstellen, wie ich im Nachthemde mit vor Schlaf verquollenen Augen und noch Traum-umnebelten Gedanken an meinem PC sitze, um jene bedeutsamen Wahrheiten tapsig in die Tastatur zu tippen, die soviele Dinge in der weiblichen Historie in einen ganz anderen Licht erscheinen lassen.

Zunächst die wissenschaftlichen Fakten. Es gibt (oder besser gab) eine bestimmte Art eines Nachtschattengewächses, dessen Namen ich hier aus verständlichen Gründen leider nicht nennen kann, dessen stark duftende weiße Blüten zweimal im Jahr, wenn nämlich der Winkel zwischen dem galaktischen Magnetfeld und der allgemeinen Flußkonstanten des Sonnenwinds einen ganz gewissen Wert erreicht, ein seltenes Alkaloid zu produzieren beginnen, das Menschen und ähnlich grazilen Geschöpfen wahrhaftig das Fliegen ermöglicht. Wie es der Zufall will, ist das genau in jenen zwei Nächten der Fall, die bei den alten Keltinnen Beltain und Samhain hießen und die wir heutigen Walpurgis und Halloween (oder Allerheiligen, in frommeren Gegenden) nennen.

Der Sage nach soll in homerischer Zeit zuerst der Griechin Hippolytia von Kos das natürliche Fliegen aufgefallen sein. Hippolytia war allerdings weder, wie frau aufgrund des Namens vermuten möchte, eine namhafte Philosophin oder geehrte Weise jener zauberhaften Insel, sondern eine einfache Bäuerin, die durch das verzweifelte Quieken eines schwebenden Ferkels um den Schlaf gebracht wurde.

Übrigens soll auch die große Sappho von jenem Flugkraut Gebrauch gemacht haben, wobei jedoch das stets argwöhnische Patriarchat der Zeit die Lüge verbreitete, die Dichterin benutze es ausschließlich, um über dem Altar der Aphrodite schwebend ehrbare athenische Jungfrauen zu verführen.

In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich der Gebrauch des Flugkrauts langsam unter den Weisen Frauen, Hexen und Priesterinnen, denn das schnelle nächtliche Reisen machte schon damals einige wichtige Dinge des Lebens (wie beispielsweise Affairen) genauso unproblematisch wie heute. Ein bedeutendes Hindernis für die frühzeitige Erfindung des allgemeinen Luftverkehrs über Europa war allein die Tatsache, daß es den notwendigen Treibstoff nur zweimal im Jahr gab. Es mag daher keine Historikerin wirklich verwundern, daß unter den Alchmistinnnen der ausgehenden Antike intensiv daran gearbeitet wurde, den Wirkstoff zu konservieren, während sich ihre männlichen Kollegen solchen Belanglosigkeiten wie dem Goldmachen zuwandten.

Niemand Geringeres als Maria die Jüdin war es, die schließlich entdeckte, daß das Alkaloid sich in kleinen Mengen in Alkohol löste und - was noch wichtiger war - auch konservierte. Frau konnte also die in den richtigen Nächten gesammelten Blüten recht einfach in Weingeist einlegen, um von da an stets den Treibstoff für nächtliche Flüge vorrätig zu haben. Das Problem war nur, daß die durchschnittliche Besenreiterin trinkfest wie eine Irin sein mußte, um nach der notwendigen Dosis des Flugschnapses überhaupt noch zu ihrem Besen kriechen zu können. Alkohol am Besenstiel wurde zu einem ernsten Problem über dem nächtlichen Europa.

Dabei war das nicht alles. Das Alkaloid aus den duftenden weißen Blüten förderte in nicht unerheblicher Weise auch die Libido, weswegen das Flugdestillat sich zunehmend auch unter jenen eher angepaßten Frauen einer gewissen Beliebtheit erfreute, die einen Besen ausschließlich als Instrument zum Hausputz ansahen. Da nun auch Hexen ebenso oft lesbisch sind wie alle anderen Frauen, möge sich die geneigte Leserin für einen Augenblick den Sex mit einer Liebsten vorstellen, die einen halben Meter über dem Bett schwebt und derartig betrunken ist, daß sie nur noch lallen kann.

Die nächtlichen Exzesse am Himmel des mittelalterlichen Europa nahmen zu. Die Kombination von Alkohol, rasantem Flugstil und Erotik ließ die Sitten des weiblichen Volkes zunehmend verlottern, und es kam in der Folge zu schweren Unfällen wie der Massenkarambolage von Wyfern im Jahre 1152, bei der nicht weniger als 333 Besen auf einen Schlag zu Bruch gegangen sein sollen, nicht eingerechnet blaue Flecken, Beulen und verstauchte Knöchel, und abgesehen davon, daß in der Folge etwa 100 Hexen mit einem Brummschädel wochenlang zu Fuß durch England nach Hause unterwegs waren. Und keine Geringere als die berühmte Schwarze Anna soll als volltrunkene Junghexe kopfunter an ihrem Besen hängend in vollem Flug an einen Baum geknallt sein, woraufhin sie beschloß, ihrem Leben einen anderen Sinn zu geben und sich der Erforschung von Lebkuchenrezepten zu widmen. Auf ihren tragischen Tod durch die Hand zweier fehlsozialisierter Jugendlicher im 16. Jahrhundert möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen.

Und, was auch immer der Fremdenverkehrsverband Oberharz heute behaupten mag, der Brocken hat seinen Namen in Wirklichkeit davon, daß er nach der Walpurgisnacht 1521 derartig vollgekotzt war, daß... aber lassen wir die unappetitlichen Details.

Die Beauftragten für Moral und Lebensführung in der Katholischen Kirche, stets besorgt um Gesundheit und Wohlergehen ihrer Schäfchen, begannen das Geschehen mit einer gewissen Sorge zu betrachten. Die Hexenverfolgungen der Inquisition setzten ein, die in diesem Licht gesehen doch nur eine gutgemeinte Antidrogenkampagne waren. Aufgegriffene Hexen wurden zu ihrem eigenen Besten in die Entziehungskliniken gebracht. Nur mit den anschließenden Reha-Maßnahmen ist etwas schiefgelaufen, aber das liegt wohl daran, daß es damals noch keine Krankenkassen gab, die die hätten bezahlen können.

Das Problem des Für und Wider des Flugkrautkonsums und seiner Begleiterscheinungen löste sich schließlich auf die für uns Menschen ganz charakteristische Weise. Weil nämlich, ob verboten oder nicht, in den betreffenden Nächten alle auffindbaren weißen Blüten des betreffenden Nachtschattengewächses zur Herstellung von Flugschnaps gesammelt wurden, nahm die Verbreitung der Pflanze immer mehr ab, bis schließlich im 19. Jahrhundert die letzten Exemplare ausstarben. Nun, vermutlich hätten uns die nüchternen (Männer-)Geister der Aufklärung ohnehin erklärt, daß ihrer Auffassung von Ursache und Wirkung nach das Fliegen allein aufgrund Drogenkonsumes sowieso völlig unmöglich sei. Und uns an Herrn Freud & Co. zwecks Untersuchung unser Kindheitstraumata überwiesen.

Der neuzeitlichen Hexe ist also leider das Fliegen nicht mehr möglich. Aber es wäre doch schön, nicht wahr? Die zeitgenössischen Pharmakonzerne (denen frau ja auch nicht immer nur Schlechtes nachsagen soll) hätten sicher einen Weg gefunden, den Alkohol durch weniger berauschende Substanzen zu ersetzen. Frau stelle sich nur vor, einfach den Besen oder Stabsauger aus dem Schrank zu holen, eine kleine Pille einzuwerfen und dann durch die mondlichtdurchflutete Nacht zur Fernbeziehung zu brausen - und das, ohne sich Gedanken um verspätete Anschlußzüge oder Staus auf der Autobahn machen zu müssen. Es bleibt uns leider versagt.

Nun, immerhin kennen wir jetzt die Wahrheit.


(c) 2006 ~Diane Neisius. Erstveröffentlichung.



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