Auf den Tag genau eine Woche später befand sich der Kommissar dick
eingemummelt in seinen Wollumhang auf dem Weg über den weiten Zitadellenplatz.
Die Mittagsdämmerung ließ schon nach, und es begann wieder zu schneien. Es war
jetzt die Jahreszeit, in der die Sonne den Horizont im Süden nur mehr für
Minuten schnitt; bald würde sie überhaupt nicht mehr aufgehen. Die Polarnacht
brach an, und das war eine deutliche Mahnung für den Zivilpolizisten, mit
seinen Ermittlungen voranzukommen. Bis zum "Fest der schwachen Sonne" in der
Mitte der Polarnacht, an dem die feierliche Eröffnung der Oper stattfinden
sollte, dauerte es nicht mehr allzulang.
Gork schaute sich auf der großen freien Fläche, deren Schneewehen von
zahllosen Trampelpfaden übersät waren, unauffällig um. Es war nicht viel
Verkehr, und das war nicht ungewöhnlich. Wer in Ithiljar lebte, mied freie
Flächen. Doch der Halbork hatte kalte Füße und wollte so schnell wie möglich
den Gildensitz erreichen, wo er Dinchan weiter zu bearbeiten gedachte.
Der Baumeister war von ihm mit Absicht ausgesucht worden für sein
Schikanemanöver. Dinchan war erst seit kurzem Mitglied bei Mamurat, und er
hatte lange darauf warten müssen. Das wies darauf hin, daß er keine mächtigen
Verbündeten oder Patrone hatte, ein Umstand, der ihn verletzlich für solche
Intrigen wie diese machte. Mit Adelsclanen oder Orden der Eiselfen legte man
sich besser nicht an, und mit ihren Schützlingen auch nicht, wenn man keinen
Ärger wollte. Aber Dinchan schien alles das nicht zu sein.
Unwillkürlich wanderte der Blick des halborkischen Kommissars bei diesen
Gedanken durch das zunehmende Schneetreiben hin zu dem bereits erleuchteten
protzigen Säulenportal des monumentalen Gir-Tempels. Auch das war eine
Organisation, der man besser nicht ins Gehege kam. Zwar wurde in dem Tempel
kein Gott verehrt, schließlich schienen sich Eiselfen selbst für Götter oder
etwas noch besseres zu halten. Aber auch sonst schien niemand so genau zu
wissen, mit was außer einem sehr eigenwilligen Totenkult sich die
Schwarzkuttenträger dort beschäftigten.
Aber das wollte Gork auch gar nicht so genau wissen. Es war gefährlich, ihnen
im Weg zu stehen, das war eine für das Überleben wichtige Information, und
sonst zählte in dieser Stadt nichts. Er schnaufte und stapfte entschlossen
weiter, vorbei an der Statue des Schattenlords, Vrash, mitten auf dem weiten
weißen Platz, der in der grauen Dämmerung ertrank. Genaugenommen war es nicht
Vrash, sondern ein idealisiertes Portrait eines Eiselfen in dramatischer Pose,
und in Gorks Jugend war es noch das Standbild des Provinzpräfekten gewesen.
Aber im Zug der politischen Umwälzungen in weiter Ferne hatte man eiligst das
silberne Schild am Fuß der Statue ausgewechselt. Das neue war etwas zu klein,
wie der schwärzliche Rand auf dem Marmor verriet.
Auch das war Alltag in Ithiljar.
Als der vermummte Halbork schließlich das Gildengebäude im Menschenviertel
erreichte, war es schon wieder dunkel. Es schneite jetzt stärker, aber
zwischen den eckigen mehrstöckigen Häusern war so viel Verkehr, daß der Schnee
von Stiefeln und Wagenrädern längst zu gefrierendem dreckigen Matsch
zertrampelt war.
Fast alle Häuser und Handwerksstände waren von gelblich blakenden Tranfunzeln
erleuchtet, so daß der Weg zur Gilde nicht schwer zu finden gewesen war. In
der Empfangshalle des Gebäudes zog er das Medaillon, das ihm als Ausweis
diente, unter den Schichten seiner Kleidung hervor und hielt es dem Pförtner
entgegen.
"Zivilpolizei. Ich möchte den Baumeister Dinchan sprechen", brummelte er
undeutlich.
Offenbar zollte man ihm Respekt, obwohl er ein Halbork war. Kurze Zeit später
eilte ein Bote durch die hohe staubige Eingangshalle, und nicht allzulange
darauf kam der Gesuchte schnellen Schrittes auf Gork zu.
"Seid gegrüßt", preßte er heraus, offensichtlich in Verlegenheit.
"Ich komme wegen...", begann der Kommissar mit lauter Stimme zu sprechen, aber
sein Gegenüber fiel ihm auffällig rasch ins Wort.
"Ich denke, das können wir draußen besprechen", sagte der Baumeister und schob
Gork durch die Tür wieder hinaus ins Schneegestöber.
Der arme Dinchan hatte wirklich eine Odyssee von einer Archiv-Außenstelle zur
nächsten hinter sich. Kommissar Gork hörte nicht zu, während sein Opfer über
arrogante Kanzleibeamte klagte, die ihn kreuz und quer durch die Stadt gehetzt
hatten, sondern blickte gleichgültig durch das Fenster aus geölter Haut nach
unten in den engen Innenhof, wo Müll verbrannt wurde. Der Gestank mischte sich
mit dem unverwechselbaren Aroma der daneben befindlichen Aborte, die
offensichtlich von zuvielen Menschen benutzt wurden. Um auch die anderen Sinne
nicht leer ausgehen zu lassen, kreischten im Hof die Kinder, die in einem
draußen befindlichen Abfallhaufen eine Ratte aufgestöbert hatten und zu fangen
versuchten. Und zwei Stockwerke weiter oben begann ein Ehepaar einen
handfesten Krach auszufechten, bei dem offenbar nicht nur Worte, sondern auch
Becher und Möbelstücke flogen. Es war eine gänzlich andere Umgebung als in
einem der Orkviertel.
"Könnten wir uns nicht anders einigen", flehte der Baumeister schließlich.
Gork merkte erst bei diesen Worten auf. "Ich besitze nicht soviel, aber ich
könnte euch vielleicht auf andere Weise dienlich sein. Ich habe Verbindungen
zu Handwerkern..."
Aha, jetzt kam also der erste zaghafte Bestechungsversuch. Der Kommissar
beschloß, vorerst hart zu bleiben, obwohl das natürlich genau das war, worauf
er es abzielte. Deshalb war er Dinchan auch so bereitwillig in die kleine
Wohnung im dritten Hinterhof des Wohnblockes gefolgt, in dem sie sich
unbelauscht unterhalten konnten. Die Räume gehörten irgendeinem Verwandten
oder Diener Dinchans.
"Ich sehe nicht, was das mit Eurer fehlenden Steuerquittung zu tun hat."
"Ich dachte, Ihr könntet vielleicht, nun, etwas entgegenkommend sein...". Der
Angehörige der Gilde war noch immer vorsichtig.
"Ach so." Der Halbork beschloß, sich nicht länger dumm zu stellen. "Ich
brauche aber keinen Handwerker."
"Vielleicht etwas anderes..."
"Hm." Gork tat, als denke er nach. Natürlich hatte er sich längst
zurechtgelegt, was er von Dinchan verlangen wollte, denn nur darum hatte er
die ganze Geschichte ja eingefädelt. "Vielleicht etwas anderes, was sich zu
Geld machen läßt."
Der Baumeister sollte ruhig denken, daß es dem halborkischen Zivilbeamten nur
ums Geld ging.
"Sagt, an was ihr denkt", antwortete der Mensch hastig.
"Informationen."
"Informationen? Ihr scheint mich zu überschätzen. Ich bin nur ein kleiner
Baumeister. Ich erfahre nichts Wichtiges."
Gork drehte sich abrupt vom Fenster weg ins Innere des düsteren kleinen
Raumes. "Ihr seid Mitglied in einer ziemlich exklusiven Gilde", stellte er
fest.
"Ihr wollt Interna von Mamurat wissen?", fragte sein Gegenüber ungläubig. "Das
wird aber ziemlich nutzlos für Euch sein."
"Das laßt meine Sorge sein. Haltet die Ohren offen und findet heraus, was Eure
Gildenbrüder so treiben. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß Informationen
darüber nicht nur mir dienlich sein können, sondern Euch selbst auch. Gewinnt
Einfluß! Steigt auf in der Gildenhierarchie! Habt Ihr denn keinen Ehrgeiz,
Mensch?"
Der Angesprochene war sichtlich verdattert. "Und meine Steuerquittung?"
"Die Akte ist irgendwie ganz unten in den Stapel auf meinem Schreibtisch
geraten", bemerkte Gork, "und da wird sie auch bleiben, wenn Ihr mich
zufriedenstellend beliefert und niemand von unserer kleinen Abmachung
erfährt."
"Ach so." Der menschliche Baumeister wirkte niedergeschlagen. "Na, dann... ich
habe wohl keine andere Wahl."
Nein, dachte der Kommissar, die hast Du nicht.
Vier Tage später ereignete sich ein Zusammenstoß im östlichen Menschenviertel.
Ein untersetzter Ork oder Halbork rannte um eine Hausecke und direkt in einen
schlanken blassen Menschen hinein, der bei der Kollision zwar nicht verletzt
wurde, den Halbork aber trotzdem entrüstet einen Tölpel schimpfte. Der
buckelte untertänig, ehe er weitereilte, und das ganze Geschehen zog kaum
einen Blick der Vorbeigehenden auf sich. So hatte auch niemend den kleinen
Zettel gesehen, der dabei unter dem Umhang des untersetzten Halborks
verschwunden war.
Nicht einmal eine Stunde später kam derselbe Halbork in einem Wollumhang ganz
anderer Farbe und mit einem Fellwams bekleidet aus dem Eingang einer
Menschentaverne getreten, wo er unbeobachtet zu Abend gegessen und wie
nebenbei einige Pergamente gelesen hatte. Der kleine Zettel war natürlich
dabei gewesen, und Kommissar Gork - niemand anders war es - grinste zufrieden
bei dem, was Dinchan ihm geliefert hatte.
Er schritt zügig durch das Menschenviertel, denn er wollte nach Hause. Vorbei
an der schmutzig vergilbten Marmorfassade eines ehemaligen Palastes, dessen
Park mit kastenartigen Blocks und Hintergebäuden vollgebaut worden war und nun
als Mietshaus dienen mußte. Eisiger Nebel hing in der dunklen Straße und
trübte die Tranlaternen an den Hauswänden noch mehr.
Trotz der Kälte pfiff Gork vor sich hin. Was der Baumeister ihm geliefert
hatte, war nicht viel, und wahrscheinlich würde es sich für den Opernfall als
bedeutungslos erweisen. Die wirklich wichtigen Informationen brauchten stets
eine Weile und kamen dann nur tröpfchenweise. Aber es war in anderer Hinsicht
wertvoll, weil sich damit von jemand anderem als Dinchan noch wirkungsvoller
Informationen erpressen lassen würden.
In der Gilde prahlte nämlich eine Gildenschwester des Informanten relativ
offen damit, daß sie ein Verhältnis mit einem Elfen in der Stadtverwaltung
hatte. Nun mochte das in der Gilde beeindrucken, schließlich waren diese
Menschen ja so stolz auf ihre angebliche entfernte Abstammung von den
regierenden Eiselfen. Offiziell hingegen war das ein schwerwiegender Verstoß
gegen die Rassengesetze. Paarungen von Eiselfen und Nichtelfen waren in den
gesamten Schattenreichen strengstens verboten.
Gork bog um die Ecke einer fensterlosen Wohnhausruine und ging auf die
belebtere Hauptstraße des Viertels hinüber.
Noch immer pfiff der Halbork vergnügt vor sich hin, als er sich ausmalte, wie
bald ein Eiself und seine menschliche Geliebte seine Bekanntschaft machen
würden.
Zufrieden mit sich und seiner Arbeit dachte er an den Feierabend.