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Hydra


Die Hydra lag auf der Lauer, lang ausgestreckt auf dem schmutzigen Boden hinter einem Blaster, der länger war als sie selbst. Seit Tagen hatte sie diesen Platz im obersten Stockwerk eines abbruchreifen Hochhauses in der namenlosen Stadt ausgekundschaftet, nachdem sie vorher wochenlang unauffällig nach so etwas auf der Suche gewesen war. Niemand hätte in der Elbin, die sich unter dem weiten grauen Kapuzenumhang eines Wanderarbeiters verbarg, einen der gefürchtetesten Sniper des gesamten Sektors vermutet.
Auch wenn es noch dunkel war, war sie in gewisser Hinsicht wegen der Aussicht hier. Die war auch bei Tag nicht schön, denn über die heruntergekommenen Stadtviertel hinweg sah man auf ein riesiges Industriegelände, das bis zum Horizont reichte. Doch auch das Zimmer selbst war nicht sehr ansehnlich: das breite Fenster fehlte offensichtlich seit langem, wie Wasserflecken an der Decke und die sich vom rissigen Putz abrollenden verblaßten Farbreste verrieten. Vom Mobiliar waren nur verrottete Kunststoffteile undefinierbaren Zweckes übriggeblieben.
Der Ort erfüllte keinen erkennbaren Nutzen mehr, außer seiner günstigen Lage und daß er die Hydra vor unerwünschten Beobachtern verbarg.

Silmarien, so war ihr bürgerlicher Name, schmunzelte bei dem Gedanken, daß ihre menschlichen Nachbarn in dem friedlichen Wohnviertel auf dem Planeten im Nachbarsektor, auf dem sie ihren Unterschlupf hatte, sie hier sehen könnten, wenn sie in den makellosen Bungalows mit den gepflegten Moosgärten und zurechtgestutzten Farnbäumen ihre Grillparties veranstalteten. Viele ihrer Nachbarn arbeiteten außerplanetar, und so fiel auch nicht auf, daß sie selbst zuweilen für Wochen anderswo - nun, arbeitete.
Die Elbin hatte sich an ihrem Wohnort perfekt den örtlichen Gebräuchen angepaßt, was unverzichtbar war, wenn man als Fremde in einer menschlichen Siedlung akzeptiert werden wollte. Sie trug die unbequeme figurbetonte Kleidung der Menschenfrauen, ging zu den öden Grillparties, lachte zu den geschmacklosen Scherzen einer Spezies, die sich ständig in der Paarungszeit befand, und tat interessiert an dem bedeutungslosen Tratsch über andere Nachbarn. Gar nicht zu reden von dem nutzlosen Imponiergehabe der Menschenmännchen ihr gegenüber. Das einzige, was sie an jenem Ort wirklich mochte, war allein in ihrem Garten zu sein und dem Plätschern des Brunnens unter den Farnwedeln zu lauschen, weil es sie an ihre verlorene Heimat erinnerte.

Das Morgengrauen breitete sich am Horizont aus. Ihr fernes Zielobjekt war nun deutlicher an seinem Platz zu sehen (die Hydra nahm niemals Aufträge an, bei denen es um die Tötung von Lebewesen ging). Es war ein Verteilerkasten auf dem Freigelände eines riesigen Firmenareals des örtlichen planetaren Konzerns. Der Kasten war zwischen den lagernden Plastahl- und Duralbauteilen nur schlecht beleuchtet, und deswegen mußte sie auf das Tageslicht warten. Lange vorher hatte sie ihn ausgekundschaftet und festgestellt, daß er nur eine gewöhnliche Armierung gegen die Witterung hatte und nicht gepanzert war. So weit im Inneren des Konzerngeländes, mehrere Kilometer von dem nächsten Sicherheitszaun nach außen entfernt, erwartete offenbar niemand einen Anschlag.
Nun hieß es warten. Warten auf den richtigen Zeitpunkt war das Wichtigste in ihrem Beruf.

Silmariens Auftraggeber für diesen Job war die örtliche Gewerkschaft der Wanderarbeiter, die ihren Verhandlungen mit dem Konzern mehr Nachdruck verleihen wollte. Dergleichen kam öfter vor, aber das spielte keine Rolle für die Hydra. Sie arbeitete für den, der sie bezahlen konnte. Ihr jugendlicher Idealismus und das Engagement für vermeintliche gerechte Sachen waren ihr schon vor langer Zeit auf denkbar brutale Weise ausgetrieben worden. Der gleiche Konzern, dem sie heute einen Verteiler in Brand schoß, konnte sie schon morgen dafür engagieren, bei der Konkurrenz einen Gastank zu sprengen. Ihre einzige unausgesprochene Bedingung für einen Job war, daß sie kein Lebewesen mehr töten mußte.

Das Licht wurde jetzt besser, und die Geräusche tief unten in der Straße kündeten von der erwachenden Geschäftigkeit einer großen Stadt. Bald würde auch die Abbrucharbeit an einem nicht weit entfernt stehenden ähnlichen Hochhaus fortgesetzt werden. Die lauten Geräusche würden den Abschußknall ihrer Waffe weit weniger auffällig machen.
Aber noch hieß es warten. Es war noch nicht soweit.

Silmarien schaltete den Zielcomputer ein. Sie brauchte den Entfernungsmesser nicht, da sie die Koordinaten des Ziels und ihres Standortes genau kannte. Der Laserpuls einer Messung war immer verräterisch, wie kurz er auch war. Auch wenn niemand Sabotage an einem einfachen Schaltkasten mitten auf einem Lagergelände erwarten sollte, konnte man nie vorsichtig genug sein. Denn dies war nicht irgendein Verteiler. Er lag genau über dem unterirdischen Verteilerknoten, der fast das halbe Firmensegment mit Energie versorgte. Ein gutgezielter Schuß dort hinein konnte einen Schwelbrand in den Kabelschächten verursachen, der nur schwer zu löschen war und wochenlang einen teilweisen Produktionsausfall zur Folge hatte. Die Karten des Geländes, die ihr Agent auf Neu Vegas 7 besorgt hatte, waren nicht verfälscht, das hatte sie von vielen Punkten um das Gelände herum aus überprüft. Die Entfernung betrug genau 12839 Meter.

Langsam wurde es Zeit. Den über zwei Meter langen Blaster hatte Silmarien schon in der Nacht aufgebaut und gründlich durchgecheckt. Sie überprüfte noch einmal alle Verbindungen des Zielcomputers, zu den Dämpfern in der Waffe selbst, zu den Schallunterdrückerboxen, die sie in dem verrotteten Raum aufgestellt hatte, und zu dem engen Schutzanzug, den sie unter ihrem Umhang trug. Die Schockwelle beim Abschuß einer Drachenlanze war mörderisch und konnte beim Schützen innere Organe verletzen, wenn man nicht vorsichtig war. Besonders beim Schießen aus dem Inneren eines Gebäudes heraus.
Drachenlanze war natürlich ein menschliches Wort, eine unvollkommene Übersetzung des richtigen elbischen Namens. Es klang mythisch, und Drachenlanzen waren im menschlichen Imperium so selten zu finden, daß die meisten Zeitgenossen sie für eine Legende hielten. Sie waren einst auf den elbischen Heimatwelten für die Abwehr landender Invasionsshuttles auf weite Entfernungen hin konstruiert worden. Deshalb war die Geschwindigkeit der Geschosse hoch genug, um sie auf kleineren Planeten in eine Umlaufbahn zu tragen. Und daher resultierte auch der heftige Abschuß.

Die Elbin zog die Kapuze des Schutzanzuges fest zu und vergaß auch die Stöpsel für die Ohren und das Schutzvisier für die Augen nicht. Von jetzt an kontrollierte der Zielcomputer, welche Außengeräusche sie hören konnte. Später würde er im Moment der Zündung synchron die Dämpfer aktivieren, den Schutzanzug erstarren lassen sowie die Hörstöpsel abschalten und die Schallunterdrücker auslösen. Silmarien zog die gepolsterte Schulterstütze des Blasters zu sich heran und schmiegte sich bequem in das Halbrund. Beinahe automatisch griffen ihre behandschuhten Finger in die bereitliegende Tasche nach einer Patrone.
Noch nicht. Es war noch etwas zu früh.

Der Computer aktivierte die Mikrodrohnen, die schon in der Nacht ausgesetzt worden waren. Auf eine Entfernung von mehr als 12 Kilometern mußte das Geschoß selbst bei seiner hohen Geschwindigkeit mehr als hundert Meter hoch in die Luft steigen, bevor es sich auf sein Ziel hinuntersenkte. In den höheren Schichten der Atmosphäre waren die meteorologischen Bedingen zuweilen anders als am Boden. Der Zielcomputer berechnete all das durch die Meßergebnisse der Drohnen in die Gegebenheiten des Planeten und seiner Rotation mit ein. Die Schützin sah es, als die Anzeige auf dem kleinen Display erschien. Der Zielpunkt war unruhig und zuckte auf dem vergrößerten Bild des Verteilerkastens hin und her. Die Luft war so früh am Morgen turbulent. Später, kurz vor Sonnenaufgang, begann meist ein gleichmäßiger Wind zu wehen.
Aber noch war es zu früh dafür.

Der Himmel war jetzt erfüllt von einer fahlen Blässe. Nebenan begannen die Abbruchbagger zu brummen. Silmarien nahm die Patrone und führte sie in den dicken Lauf ein. Beiläufig sicherte sie den mechanischen Verschluß. Einige der Symbole auf dem Display änderten sich.
Die Patronen sahen altmodisch aus, aber die metastabilen Kristallflocken in den Hülsen waren ein verläßlicher Energiespeicher für das verwendete Treibgas. Bei ihrem Phasenübergang wurde keine verräterische elektromagnetische Welle ausgesandt so wie bei einer Plasmazündung, es gab nichts, was das Ziel schneller als das Geschoß erreichte und vor der nahenden Nemesis warnen konnte. Das Geschoß selbst war aus dem Echtmetall Wolfram, weil es innerhalb der Atmosphäre durch die Reibung bis zur Gelbglut aufgeheizt wurde und dabei nicht weich werden durfte. Die Elbin hätte ihr Kostbarstes gegeben, um einen echten Alarcanar aus ihrer Heimat zu bekommen, aber das war unmöglich. Sogar zuhause waren die unterkalibrigen Pfeilgeschosse aus dem monokristallinen schweren Alluin, die wirklich weit flogen und sogar die Rumpfpanzerungen von Raumschiffen durchschlugen, eine unbezahlbare Kostbarkeit, die wie der Staatsschatz bewacht wurden. Unerreichbar, selbst wenn sie nach Hause hätte gehen können.
Aber wenn es jetzt bald soweit war, würde hier auch ein hohles Übungsgeschoß aus Wolfram seinen Dienst tun.

Sie preßte sich gegen die Schulterstütze, hielt sie mit der linken Hand fest, während die Rechte den Griff umfaßte. Der Augenblick war jetzt nahe. Mit der sprichwörtlichen Geschicklichkeit der Elben übernahm sie die Feinpositionierung der Waffe selbst. Der Computer registrierte es und der Zielpunkt auf dem Display änderte die Farbe, schwankte und zuckte aber immer noch. Die Luft hoch oben beruhigte sich langsam, immer wieder durch plötzliche Böen unterbrochen. Es kam jetzt vollkommen auf die richtige Gelegenheit an.
Langsam pendelte sich Silmarien auf den launischen Morgenwind über der Stadt ein. Es war wie ein Tanz, ein Rhythmus der seine eigenen Regeln hatte, den die Tänzerin noch erraten mußte, während sie bereits dem Publikum vortanzte. Eine leichte Erschütterung des Bodens sagte ihr, daß der Abbruch des Nebenhauses für den heutigen Tage fortgesetzt wurde.
Nur einen Augenblick noch...
Langsam, ganz sachte tastete ihr Finger nach dem Abzug, berührte ihn zuerst fast zärtlich. Sie kannte den Druckpunkt ihres Blasters genau.
Fast hypnotisch war der Anblick des tänzelnden Zielpunktes. Die Zuckungen wurden schwächer. Ein vertikales Zittern verriet, daß nebenan ein größeres Gebäudeteil vom Bagger abgebrochen worden war und in die darunterliegenden Geschosse stürzte. Wenn nun noch der Wind...
Aber der blieb launisch und unstet und schob die berechnete Flugbahn des Geschosses auf dem Display weiter hin und her. Das Nachbarhaus krachte und polterte. Geduld...
Der Zielpunkt verschob sich horizontal ein ganzes Stück und verharrte unruhig. Instinktiv führte Silmarien die Masse des Blasters um eine Winzigkeit nach. Das Tänzeln wurde für einen Moment langsamer, stoppte schließlich fast.
Jetzt.
Fast beiläufig betätigte sie den Abzug. Die Welt wurde still und sie spürte nur den festen Druck des Anzuges auf der Haut, als der Zielcomputer auslöste und die Schutzmaßnahmen aktivierte. Ein Gefühl zu taumeln durchflutete sie für einen Sekundenbruchteil. Die Schockwelle fegte durch das Zimmer und riß den losen Putz von den Wänden. Als die Ohrstöpsel sie wieder hören ließen, nahm die Elbin noch das Rieseln und Bröckeln im Zimmer wahr. Nebenan polterten und dröhnten die abgebrochenen Betonteile des Nachbarhauses noch immer aufeinander.

Im Display sah sie auf den Zielpunkt, der beim Abschuß stehengeblieben war. Das Geschoß brauchte einige Sekunden für den Weg, war bei dieser Vergrößerung aber nicht zu erkennen, da es zu hoch flog. Selbstverständlich zeigte der Zielcomputer auch die Flugzeit an. Gespannt beobachtete Silmarien den Verteilerkasten.
Plötzlich erschien ein kleiner schwarzer Kreis auf der Fläche. Etwas tief rechts von der Mitte, aber noch gut im Ziel. Staub stieg hinter dem Kasten auf, einige Splitter des Geschosses hatten die Rückwand also durchschlagen. Das war sehr gut, denn es bedeutete Schaden und Verbrennungen im Innern.
Eine Minute später kräuselte sich ein dünner Faden Rauch aus dem runden Loch. Ein zweiter Schuß würde nicht nötig sein.


Rodowan war der verantwortliche Schichtführer bei der Abbruchfirma und sah mit Unbehagen auf die Betonbrocken auf der Straße. Weiter oben war vor einer halben Stunde ein Teil des 42. Stockwerkes eingebrochen, als sich ein Pfeiler darüber gelöst hatte und hineingestürzt war. Der Suspensorbagger war von Teilen einer Wand getroffen worden und möglicherweise beschädigt. All das kostete wieder Zeit. Zeit, Zeit, Zeit, die er nicht hatte, diese hartnäckige Ruine trieb ihn noch in den Wahnsinn.
Nur beiläufig nahm er wahr, wie eine Gestalt im grauen Umhang aus dem Gebäudeeingang gegenüber in die Schatten einer Nebenstraße huschte. Ein Wanderarbeiter, ein armer Kerl, der wahrscheinlich nicht einmal genug Geld für eines der vergitterten Betten in den Sammelunterkünften hatte und deshalb wie die Obdachlosen der Stadt in einer der zahlreichen Ruinen übernachten mußte. In dem länglichen schwarzen Koffer, den er trug, hatte er vermutlich seinen gesamten Besitz.
Wen kümmerte schon ein Wanderarbeiter. Rodowan hatte jetzt wirklich andere Sorgen.

In der Energiezentrale auf dem Konzerngelände bemerkte eine Kontroll-KI genau 51.3 Minuten nach dem plötzlichen Kurzschluß, daß das aufgetretene Problem in Verteiler Nr. 5 weit massiver als zunächst angenommen war und löste einen allgemeinen Alarm aus.


(c) 2018 ~Diane Neisius (aka Medusa). Erstveröffentlichung.




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