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      Samarkand
      
      
für Anja S.
Es war feige. Ich wußte es.
Ich bemühte mich fast krampfhaft, den Blick nicht über meine Schulter 
zurückwandern zu lassen zu den weißen Türmen und Kuppeln in der Wüste, von 
denen ich fortritt.
Eine Kriegerin war ich, eine der gefürchteten sarmatischen Panzerreiterinnen, 
und weder ich noch eine oder einer meiner Stammesgenossen wäre je vor einer 
physischen Gefahr geflohen. Ich dachte es, während ich die Lanze, die mich 
um mehr als Schrittlänge überragte, mit der Rechten fester umklammerte und das 
Ende des langen Schaftes auf dem Steigbügel aufstützte.
 
Und dennoch war ich auf der Flucht.
Fortgelaufen aus der Stadt der Händler. Wegen einer Frau.
Ich packte die Zügel energischer, trieb mein Roß zu größerer Schnelligkeit an, 
doch es schnaubte nur weiße Dampfwölkchen in die frühmorgendliche Kälte, so 
als spürte es, daß es mir mit der Eile gar nicht wirklich ernst war.
Wüste und Steppe riefen mich nach vorn. Und sie zog mich zurück.
Ich wußte, wenn ich mich umdrehte, würde ich hinter meinem Rücken die blasse 
Sonne über den im Nebel verschwimmenden Silouetten der Türme von Samarkand 
aufgehen sehen, weißen Glanz über zartgrauen Schleiern der Feuchtigkeit, die 
die gnadenlose Kälte der Wüstennacht hatte auskondensieren lassen und die nun 
in der schnell zunehmenden Wärme des beginnenden Tages aufstieg.
Und in einem der Türme würde sie bald aufwachen und bemerken, daß ich 
fortgeritten war ohne ein Wort des Abschieds.
Ich habe es nicht einmal versucht, sagte ein aufrührerischer Gedanke 
irgendwo 
in den verschlungenen Irrpfaden zwischen meinem Kopf und meinem Herz.
Wie hätte es denn gehen sollen, antwortete die gleich einer 
Getreidemühle 
ausgeschliffene, monotone, weil unzählige Male schon gedachte Entgegnung 
darauf. Ich schüttelte den Kopf, der einfach nicht klarwerden wollte, nicht 
klarwerden konnte, weil ich in diesem Dilemma steckte, gleichzeitig vor und 
zurückwollte, und mir doch vorkam, als käme ich in beiden Richtungen keinen 
Fußbreit voran.
Ein Jaulen neben den Hufen meines langsam durch karge Landschaft schreitenden 
Reittieres ließ mich aufmerken. Mein Begleiter, mehr Wolf als Hund, halbwild 
und ebenso unabhängig und freiheitsliebend wie ich, mußte meinen inneren 
Aufruhr bemerkt haben. Fragend blickte er nach oben zu mir, lief ruhig neben 
Roß und Reiterin her, anstatt wie sonst stürmisch hinaus in die Weite des 
Landes zu rennen, wenn wir eine der Städte verließen, in die er mir ohnehin 
nur widerwillig und mit gesträubtem Fell folgte.
Aber heute war eben nichts wie sonst. 
Schon konnte ich die Wärme der steigenden Sonne im Rücken meines Kettenhemdes 
spüren. War sie schon wach?
 
Ohne daß ich es wollte, malte ich mir aus, wie sie nach mir sehen würde, mich 
suchen würde in der lichtdurchfluteten Weiße ihrer Gemächer im Tempel. Ich 
hatte sehen wollen, wie die Fremden aus der Ferne die Große Mutter in einem 
Haus verehrten statt auf der bloßen Erde, war in die Stadt der Händler 
geritten, in der sich alles traf, Waren vom Kaiserreich im fernen Westen zum 
Kaiserreich im fernen Osten und umgekehrt transportiert wurden, Römer, Perser, 
Hunnen, Chinesen, Turkmenen und noch mehr Völker, deren Namen ich nicht einmal 
kannte, durcheinanderwimmelten und ihre zahlosen Sprachen sich ineinander 
verwoben. Und mitten darin, eine Oase der Ruhe in dem niemals endenden Gebrüll 
und Gefeilsche der Märkte, der weiße Tempel der Mutter, innen weiß und licht 
und schön, nach Rächerwerk duftend und einladend, auszuruhen auf dicken 
Teppichen nach langer Reise durch die Wüste.
Und da war sie gewesen, eine der Priesterinnen in ihren fremdartig aussehenden 
weißen Gewändern, und der Duft ihrer sandfarbenen Haut und der Blick ihrer 
dunkel lockenden Augen hatte mich eingefangen gleich einem Zauber aus dem Zelt 
eines alten Schamanen. 
Die Senke zwischen den Hügeln war nähergekommen, und meine Träume von ihr 
rissen abrupt ab. Der Weg wurde uneben, und ich mußte mich konzentrieren, 
meinem Pferd helfen, damit es nicht strauchelte. Für kurze Zeit tauchten wir 
in die noch kühlen blaugrauen Schatten eines der Hügel ein, und mit 
Erleichterung dachte ich daran, daß nun wenigstens nicht mehr die mahnenden 
Umrisse der Stadt am Horizont hinter mir zu sehen waren. Die Steppe hatte mich 
wieder. Hatte sie?
Denn auch wenn nichts zu sehen war außer Hügeln, Sand und Dornbüschen, Weite 
bis zum Glast des Horizonts und wolkenloses Blau darüber, zog es an mir in 
eine bestimmte Richtung. Gleich einem dieser magnetischen Südweiser, den die 
chinesischen Karawanenführer benutzten, hätte ich genau sagen können, wo die 
Stadt lag.
Ich seufzte, und Wolf blickte mit gespitzten Ohren zu mir herauf und legte den 
Kopf schief. Ja, dachte ich, Du magst sie auch, nicht wahr? Du hast 
Dich sogar 
streicheln lassen von ihr. Das durfte noch niemand außer mir.
Vor meinen Augen stieg das Bild auf, wie sie uns bewirtet hatte in ihren 
Privatgemächern im Tempel, und sie hatte Wolf mit kleinen Stückchen Fleisch 
von irgendeiner Art Vogel gefüttert. Wir hatten viel gelacht, griechischen 
Wein getrunken, uns mühsam und doch leicht mit Gesten verständigt, weil sie 
neben ihrer eigenen, kehlig und geheimnisvoll klingenden Sprache nur die der 
römischen Händler verstand, und ihre silbernen Armreifen hatten leise 
geklingelt, als sie im Kerzenlicht des Abends ihre holzkohlenschwarzen Haare 
aufreizend zurückgeworfen hatte.
Wir waren uns näher gekommen, sie schien nichts dabei zu finden, 
Zärtlichkeiten mit mir zu tauschen, die Nacht bei einer Frau zu liegen. Sie 
war in diesem Punkt anders als die meisten Ausländer, die sich über die 
Freiheit, die mein Volk sich in diesem Punkt nahm, mokierten oder gar als 
selbstverständlich voraussetzten, daß ich ein junger Mann sei, nur weil ich 
Waffen führte, und mich wüst beschimpften, wenn sie ihren Irrtum schließlich 
bemerkten.
Sie war anders gewesen als die Gefährtinnen, die ich vor ihr hatte, zärtlich 
und erfahren, exotisch, es war aufregend gewesen wie eine Jagd, als ich 
bemerkte, daß sie ihre Körperhaare entfernt hatte, was dem Liebesspiel eine 
ungeahnte Intensität gab. 
Aber es war nicht nur das. Etwas verband meine Seele mit ihrer. Vielleicht 
hatte die Große Mutter mich mit Absicht zu ihr geführt, verband mich mit ihr, 
wand ihren Schlangenleib um uns, preßte mich an sie, ohne daß ich etwas 
dagegen tun konnte.
War es so, wenn man den Menschen fand, mit dem man sein Leben verbringen 
sollte?
Wieder seufzte ich, blickte auf aus meinen zäh dahinfließenden Gedanken und 
Träumen, bemerkte verwundert, wie hoch die Sonne schon im Himmel brannte. 
Hunger ließ meinen Magen knurren, doch ich rastete nicht, sondern klaubte nur 
etwas der trockenen Wegzehrung aus meinem Beutel. Lustlos kaute ich darauf 
herum, warf Wolf ein paar Bröckchen hinunter. Er kläffte und schnappte gierig 
danach.
Ich starrte angestrengt in Richtung des staubigen Horizontes, an dem rein gar 
nichts zu erblicken war außer fernen Hügeln. Nicht einmal die Spur eines 
Tieres war zu entdecken, nichts, das mich hätte ablenken können von den 
Bildern in meinem Kopf, die nun wieder aufsteigen wie schon zuvor. Von den 
Tagen, die ich bei ihr verbracht hatte, einer märchenhaften Welt zwischen 
wehenden weißen Schleiern in ihren Gemächern, Nächte der Leidenschaft und der 
Liebe mit ihr, ohne Worte, in denen sie ihre Liebe mit ihren Lippen auf meine 
Haut schrieb; an einem Tag hatte sie mich, eine Fremde, sogar zusehen lassen 
bei ihren Riten im Hauptraum des Tempels, und auch ihre Schwestern schien das 
nicht zu stören. Ich hatte ihren Gesängen zu Ehren der Erdmutter gelauscht, 
die ernst und feierlich waren und trotz ihrer Fremdheit mein Herz ganz tief 
innen berühren konnten. Ich durfte vor ihrem Bild der Mutter, einer silbernen 
Frau mit Hörnern, sogar meine Schamanenwurzel kauen und eine Geistwanderung 
machen, um die Erdmutter zu sehen, wie sie sie sah. Es waren Tage wie in einem 
Traum, der nicht zu enden schien, den wir beide nicht enden lassen wollten, 
der nicht endete.
Bis die Steppe mich rief.
Nicht schon wieder, dachte ich, denn die Getreidemühle meiner Gedanken 
würde 
nun den Nachmittag über wieder dieselben Körner mahlen wie schon gestern und 
vorgestern. Mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor, daß mein Herz brannte, meine 
Tränen in den Sand fielen, ich sie so vermißte und doch nicht bei ihr bleiben 
konnte. Die Steppe rief.
Ich war eine Sarmatin, eine freie Kriegerin, und ich konnte gehen, wohin ich 
wollte, leben, wo und mit wem ich wollte. Das war mein Recht, ich schuldete 
niemand auf der Welt etwas dafür außer vielleicht den Göttern, wenn sie mich 
sicher geleiteten. Ich konnte überall auf der Welt leben. Ich hätte überall 
auf der Welt leben können mit meiner weißgewandeten Frau.
Nur nicht in einem Haus in der Stadt.
Der Tempel wurde in dem Moment zu meinem Gefängnis, in dem ich erkannte, daß 
meine Geliebte ihn niemals verließ. Niemals. Nicht, um auf dem Markt einkaufen 
zu gehen oder sonst etwas. Nicht, daß ihre Haut die Sonne nicht vertrug wie 
das bei den weißhäutigen Wilden von weit weg der Fall war, die die Römer 
manchmal dabeihatten. Sie liebte den Tempelgarten, und in der milden Wärme des 
Abends stieg sie oft auf das Dach des weißen Gebäudes, um die Sterne 
anzusehen. Aber immer blieb sie innerhalb des Geländes, auf dem der Tempel 
stand. Wenn ich hätte bei ihr bleiben wollen, dann wäre ich eingesperrt 
gewesen für den Rest meiner Tage. Ich, die Steppenwölfin.
Ich bin frei, dachte ich, frei wie die Tiere der Steppe. Auch sie 
versuchen zu 
fliehen, wenn sie eingesperrt werden. Sie nagen an Stricken, wühlen im Boden, 
treten loses Holz heraus, nur um einen Durchschlupf zu gewinnen, der ihnen die 
Freiheit bringt. Es ist ihr Geburtsrecht genau wie meines. Ich habe richtig 
gehandelt. Ich lasse mich nicht einsperren.
Ich habe sie es nicht einmal versuchen lassen. Ich habe es nicht versucht. Ich 
bin fortgelaufen. Und genau das ist feige.
Die Sonne hatte mich längst überholt, stand nun vor mir. Mit meiner endlos 
mahlenden Gedankenmühle hatte ich es kaum gemerkt, kaum die Hitze gespürt, die 
sie unter meinem Spitzhelm ausbrütete, war noch froh über den Schweiß, den sie 
laufen ließ, weil ich meine Tränen in den herabrinnenden Bächen verstecken 
konnte. 
Wolf war fort, stöberte irgendeinem kleinen Tier in den trockenen Büschen 
nach, die den schnurgeraden Pfad säumten, dem mein hellgefärbtes Roß mehr auf 
eigenen Entschluß hin folgte. So tief in meinen mahlenden Gedanken versunken, 
hatte ich die Hügel westlich von Samarkand hinter mir gelassen und war in die 
Trockensteppe hinausgeritten, die einige Tagereisen weiter in die Sandwüste 
überging, eine weite, flache Ebene ohne Abwechslung oder Ablenkung. Die 
Strecke, die ich zurückgelegt hatte, war eine erbärmliche Leistung für einen 
so leichten Weg.
Schon färbte sich ein Hauch Gold in die weißen Sonnenstrahlen. Ich beschloß, 
mein Nachtlager gleich hier aufzuschlagen - in der Wüste wird es schnell 
dunkel, und in dieser flachen Ebene war ein Ort so gut wie der andere -, also 
rammte ich die Lanze in den Boden und brachte mein Reittier zum Stehen.
Wenigstens konnte mich der Aufbau des kleinen Lagers für eine Weile 
ablenken.
*
Das kleine Feuer aus Dung und dürren Ästen schien an diesem Abend kaum wärmen 
zu wollen. Aber es war nicht nur die Kälte der Wüstennacht, die mich frösteln 
ließ. 
Was sie wohl macht.
Die Pracht des Sternenhimmels erinnerte mich daran, bei ihr auf dem Tempeldach 
gesessen zu haben. Wärme schien bei diesem Gedanken völlig unpassenderweise 
einzig zwischen meinen Schenkeln aufsteigen zu wollen. 
Der junge Mond stand tief über dem letzten Dämmerungsstreif im Westen. Mein an 
die eingerammte Lanze gebundenes Roß schnaubte in der Dunkelheit, senkte aber 
wieder beruhigt den Kopf, als es merkte, daß nur Wolf von seinem Streifzug zu 
uns heimkam und sich in die Nähe des Feuers legte. Mein Blick wanderte von ihm 
zu den jungen Mondhörnern. 
Vielleicht kannst Du mir helfen, Vater.
Routiniert suchte ich in dem trübroten Schein des kleinen Feuers nach dem 
Beutel mit den Schamanenwurzeln, schnitt etwas davon ab und begann das 
faserige und bitter schmeckende Stück zu kauen.
 
Schon bald stieg der vertraute leichte Schwindel im Kopf auf, und die Sterne 
begannen Lichtnadeln nach unten zu stechen. Die Gerüche der Nacht wurden 
deutlicher, Dung und Asche, Pferd und ungewaschener Mensch im Lager, gedörrter 
Staub und verdorrte Büsche drum herum. Kleine Tiere hasteten in einiger 
Entfernung durch die trockene Vegetation, trauten sich noch nicht an das 
Feuer, um nach Essensresten zu stöbern. 
Ich atmete tief durch, die Kühle der Nacht brannte in meinen Lungen, stieß 
meinen Geist nach oben, spürte Wolfsfell auf meiner Haut, rannte meiner Nase 
nach den Ahnenpfad am Himmel entlang, den buschigen Schweif stolz erhoben, 
eine freie Wölfin auf der Jagd.
Sternsplitter stoben um mich herum, Lichtnadeln, denen ich ausweichen mußte. 
Die Geistersteppe im Nachthimmel ist auf ihre Weise dornig, aber eine 
Geisterwölfin ist flink und geschickt wie der Wind.
Schließlich fand ich die Spur, die ich suchte, schnüffelte mich an ihr entlang 
kreuz und quer zwischen den Sternen, kam ihm näher, hörte Sein 
vorwurfsvolles 
Kläffen aus der Richtung des Mondes, stürmte mit lang hängender Zunge auf ihn 
zu.
In der Mulde des Mondes lag Er, ein großer weißer Wolf, der Vater aller Wölfe, 
der Geliebte der Mutter Erde weit unter uns.
Hilf mir, Vater.
Er blickte mich aufmerksam und mit gespitzten Ohren an. Die Zunge strahlte 
silbernes Licht aus, während sein Fell von einem milchigen Weiß war.
Tochter, was führt Dich zu mir. Ich sehe Angst, Verlust und Verwirrung in 
Deinem Herzen.
Ich legte mich ehrerbietig vor der Mondmulde nieder, bettete den Kopf auf die 
Pfoten.
Ach, Vater... es ist eine Frau, eine Fremde aus Samarkand.
Milde blickten die grauen Wolfsaugen auf mich.
Es ist nicht nur EINE Frau, glaube ich. Sollte es DIE Frau für Dich 
sein?
Ich ließ die Ohren hängen.
Ja.
Liebe und Verstehen sprachen aus den Zügen des weißen Wolfes, der um ein 
vielfaches größer war als ich.
Und Du bist weggelaufen, noch bevor ihr ein Rudel werden konntet.
Ich schielte verlegen nach oben.
Vater, die Steppe rief. Sie sperrt sich ein im Tempel.
Die große weiße Nase vor mir schnüffelte prüfend.
Hast Du Dich vielleicht schon gefragt, warum sie das tut?
Erstaunt und überrascht hob ich den Kopf.
Nein...
Ein leichtes Jaulen entrang sich dem silbern leuchtenden Maul. Dachte ich's 
mir doch. Dann sagte der Mondwolf zu mir:
Sie kommt von weit her und ist fremd hier. Du bist eine Wolfskriegerin 
Deines 
Volkes und brauchst nichts zu fürchten. Aber sie stammt von einem Volk, bei 
dem Frauen und insbesondere Priesterinnen keine Waffen berühren. Ja, sie 
lernen nicht einmal in ihrer Jugend, sie zu benutzen. Sie verläßt den Tempel 
nie, weil sie seinen Schutz braucht, und nicht, weil sie sich darin einsperren 
will. Und sie liebt Dich, weil Du die Kriegerin bist, nach der sie sich 
gesehnt hat, die sie beschützt vor den Waffen der anderen Krieger, und die sie 
dafür mit ihren magischen Zaubergesängen vor feindlichen Schamanen beschützen 
kann. Deshalb hat die Große Schlange sich eure Wege kreuzen lassen.
Erschrocken setzte ich mich auf die Hinterpfoten. 
Ist das wahr?
Der große Wolf ließ wieder seine silberne Zunge sehen.
Ja. Und Du bist weggelaufen wie eine trotzige Welpe.
Die silberne Zunge begann mein Gesicht zu lecken, denn ein Strom von Tränen 
lief durch mein Fell.
Du meinst, sie wird mit mir mitkommen?
Eine Mischung von Jaulen, Kläffen und Schluchzen kämpfte in meiner Brust 
miteinander.
Das mußt Du sie selbst fragen.
Langsam begann die leuchtende Mulde im Himmel blasser zu werden, und der Vater 
der Wölfe entfernte sich von mir. 
Bleib noch...
Aber ich spürte nur noch eine Welle von Zuneigung und Trost, ehe das Leuchten 
des milchweißen Felles sich verfärbte und nur noch ein langgezogenes hallendes 
Heulen den Horizont entlanghallte.
Ich sprang auf, weil wieder die Sterne mit ihrem spitzen Licht nach mir 
pieksten. Langsam setzte ich eine Pfote vor die andere, trabte durch den 
schwarzen Himmel, immer schneller, und als ich die Ahnenbrücke erreichte, 
rannte ich so schnell ich konnte auf den schlafenden Leib der Mutter Erde 
hinunter.
*
Angestrengt starrte die Ägypterin in Richtung der Hügel. Boten, die sie in die 
Stadt geschickt hatte, brachten nur die Auskunft zurück, die Kriegerin, die 
für ein paar Tage im Tempel gewohnt hatte, habe  Samarkand in Richtung Westen 
verlassen. Seit sie dies wußte, hielt die Priesterin Ausschau vom Dach des 
kleinen Tempelheiligtums. Ihre Schwestern, die sehr wohl verstanden hatten, 
was hier vorgegangen war, warfen ihr mitleidige Blicke zu, denn sie hielten 
ihr Warten für vergebens.
Stunde um Stunde hatte sie in der Nacht vor der großen Statue der Göttin 
gewacht und gebetet, und kaum daß es hell wurde, war sie auf das Dach gerannt 
und hielt Ausschau, selbst in der glühenden Mittagshitze.
Ihre Augen hingen am Horizont, nahmen nicht das lärmende Treiben in den Gassen 
unter ihr noch die ziehenden Karawanen vor den Toren der Stadt wahr. Schon 
mehrmals hatte sie einzelne Reiter als winzige Punkte über die Hügel kommen 
sehen, aber stets waren es nur reitende Boten oder Späher der Karawanenführer 
gewesen.
Wieder erschien ein Punkt in der Kimme zwischen zwei Hügeln. Dieser schien es 
allerdings mächtig eilig zu haben, denn schon aus dieser Entfernung sah man 
die Staubfahne, die er hinter sich her zog, einen solchen Galopp ritt er 
schnurgerade auf die Stadt zu. Schon kurze Zeit später konnte man erkennen, 
daß es eine Kriegergestalt war, ein sarmatischer Panzerreiter, der gerüstet 
und mit eingelegter Lanze wie zu einem tollkühnen Angriff auf die Mauern 
heranstürmte. Und ein ganzes Stück dahinter folgte ein kleiner Begleiter, ein 
Hund - oder ein Wolf?
Aus dem Hoffen wurde immer mehr Gewißheit, wer diese Kriegergestalt war, die 
da so eilig zur Stadt ritt. Die Priesterin schloß die Augen, deren sorgfältig 
gezogener schwarzer Lidstrich nun langsam in den aufsteigenden Tränen zu 
zerfließen begann.
"Ich danke Dir, Göttin", flüsterte sie inbrünstig, "ich danke Dir so sehr", 
ehe sie sich umwandte und mit wehenden Gewändern die Treppe hinunterrannte.
      
      
      © 2001 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.
      
      
      
      
      
      
      
      © 1998-2006 Diane Neisius