Gork war sehr unbehaglich zumute, als er durch das mit zierlichen Ornamenten
versehene schmiedeeiserne Tor eingelassen wurde. Die Dinge liefen gar nicht
gut für ihn, so wie es im Moment aussah. Nicht nur, daß sein wichtigster
Informant in seinem aktuellen Fall tot war, entgegen seiner üblichen
Feinfühligkeit mußte er auch versehentlich den Unwillen eines der eiselfischen
Adelsclane auf sich gezogen haben. Vermutlich hatte er es nur seinem Freund
Wushtor, der in der hiesigen Palastgarde diente, zu verdanken, daß er
überhaupt vorgeladen wurde und nicht schon mit durchschnittener Kehle in
irgendeiner Gasse der Altstadt von Ithiljar lag.
Der Kommissar fröstelte bei diesen Gedanken nicht nur wegen des eisigen
scharfen Windes, der seinen dicken Wollumhang in der Dunkelheit flattern ließ.
Während er den drei bulligen Söldner-Orks der Palastgarde über den gefrorenen
Kies des weitläufigen Aufweges zum Xarinn-Stadtpalast folgte, dachte er
unentwegt an den Opernfall, der ihn nun schon über Gebühr lange beschäftigte
und bei dem er ständig Rückschläge einstecken mußte. Baumeister Dinchan, sein
Informant in der Gilde Mamurat, war auf denkbar bestialische Weise ermordet
worden. Seine zerfleischten Überreste waren vor dem Gildengebäude gefunden
worden, ein nur zu deutlicher Hinweis darauf, daß ihm diese Informationsquelle
auf immer verschlossen war. Sein Gegenspieler, wer immer es war, war ihm
wieder einmal einen Zug voraus.
Der Blick des Halborks schweifte über das winkelige, mit Türmchen, Arkaden
und Erkern überladene perlmuttweiße Elfenanwesen, in dem in der Dunkelheit nur
wenige Fenster erleuchtet waren. Ob das gut oder schlecht für ihn war, konnte
Gork nicht sagen. Er hatte in der Vergangenheit immer zugesehen, den die Stadt
beherrschenden adeligen Eiselfen nicht aufzufallen.
Langsam umrundeten seine Begleiter und er den aufwendigen Steingarten vor dem
Gebäude, der im strengen Frost der Polarnacht dick mit schwach glitzernden
Eisnadeln überkrustet war, ehe sie an der breiten Treppe vorbei zu einem
kleinen Nebeneingang gingen. Natürlich, Eiselfen würden Besucher, die den Rang
von Dienern hatten, nicht am Hauptportal empfangen.
Offensichtlich wurden sie
schon erwartet, denn sogleich öffnete sich die eisenverstärkte Tür, und Gork
wurde in stummem Einvernehmen an andere Wachsoldaten übergeben, während die
Orks zum Tor zurückkehrten.
Ein menschlicher Diener begrüßte Gork mit teilnahmsloser Miene.
"Seid gegrüßt. Ihr seid der Kommissar der Zivilpolizei, nehme ich
an."
Gork brummte nur zustimmend.
"Erlaubt, daß ich Euch den Umhang abnehme."
Der schwarzlivrierte Diener brachte nur so soviel wohldosierte Ehrerbietung
auf, wie einem Besucher zukam, dessen Rang noch nicht feststand. Gork rieb
sich die halberfrorenen Finger. Obwohl die Temperatur innerhalb des Palastes
noch unterhalb des Gefrierpunktes lag - Eiselfen liebten die Kühle - war es
hier, verglichen mit dem eisigen Wind draußen, geradezu warm.
"Wenn Ihr mir bitte folgen wollt..." Der Diener ging mit raschen Schritt
voraus. Ohne eine Miene zu verziehen, folgten zwei schwarzgewandete Wachen,
die das silberne Rautenabzeichen der Xarinn trugen, ihnen im Gleichschritt.
Der Kommissar hörte mit leichter Beklemmung die hinter ihm im Gleichschritt
auf den polierten Marmorboden hämmernden beschlagenen Stiefel.
Er wurde durch ein wahres Labyrinth von weißverkleideten Gängen,
kristallverzierten hohen Portalen, im Dämmerlicht liegenden Hallen und
Säulenarkaden mit Plastiken aus blauem Eis bis zu einer mächtigen Tür aus
schwarzen Holz gebracht. Der Halbork wußte, daß Holz, das auf ganz Nordmar
nicht wuchs, weit aus dem Süden importiert werden mußte und deshalb sehr teuer
war. Aber er hatte noch nie von schwarzen Holz gehört. Vermutlich war der
Preis
für die Tür astronomisch gewesen.
Der livrierte Diener klopfte mit der behandschuhten Hand dreimal an das mit
filigraner Elfenschrift versehene Silberschild und öffnete dann, um Gork
einzulassen. Die Wachen hinter ihm folgten ohne Aufforderung und blieben
rechts und links des Einganges stehen.
"Ah, Du bist Gork, nehme ich an." Der Mann, der ihn in dem kleinen,
marmorüberwölbten Raum erwartete, saß hinter einem mit Papieren überladenen
Schreibtisch aus dem gleichen schwarzen Holz wie die Eingangstür. Seine
silberne Feder kratzte in der Stille des hohen weißen Raumes, der kaum
beleuchtet war, über das vor ihm liegende Pergament.
"Ich bin der Sekretär von Lady Gwinbrian. Die Herrin wird Dich empfangen,
sobald sie Zeit für Dich hat", sagte er mit einem kurzen Aufblicken. Der
halborkische Gast bemerkte, daß der Sekretär zwar ein Eiself war, gleichwohl
aber die schwarze Livree der Diener trug. Er mußte wohl ein Bediensteter und
kein Clanmitglied sein.
Gork verneigte sich als Antwort nur knapp. Er wagte nicht, sich zu rühren,
weil noch immer die Wachen in seinem Rücken standen, lautlos, doch wie alle
Söldner der Clans stets bereit, auf einen Wink hin ohne mit der Wimper zu
zucken zu töten. Ein Stuhl oder Hocker wurde ihm nicht angeboten, ja, der
Schreiber hinter dem massiven Möbel ignorierte ihn vollständig. Nur das
Kratzen der Feder auf dem Pergament war zu hören. Sie kratzte genauso an den
strapazierten Nerven des Kommissars.
Er wagte einen Blick durch die hohen Fenster hinaus, wo im schwachen Licht des
abnehmenden Mondes der riesige Park des Palastes im eisigen Dunst verschwamm.
Niemand schien es hier besonders eilig zu haben, sich um ihn zu kümmern, und
doch spürte Gork intuitiv, daß der kleinste Fehltritt tödlich sein konnte. Er
wußte nicht viel von den adeligen Elfen, nur, daß sie es gewohnt waren, daß
ihre Wünsche unverzüglich erfüllt wurden.
Eine nervenzermürbende Ewigkeit später öffnete sich lautlos eine kleine
Geheimtür in der marmornen Wand zur Rechten. Heraus trat eine Menschenfrau,
die wiederum die schlichte schwarze Livree der Dienerschaft trug, und winkte
dem Besucher stumm zu.
"Kommissar Gork", rief ihr der unermüdlich schreibende Sekretär zu, ohne von
seinem Pergament aufzublicken.
Der Halbork trat durch den niedrigen Eingang in einen schmalen Gang, der von
magisch glimmenden Kristallen erhellt wurde, die in gewissen Abständen an der
Decke in Silberornamente eingelassen waren. Schließlich mündete der Weg in
einen kleinen Vorraum, den die Dienerin rasch durchschritt. Gork war nicht
überrascht, daß hier zwei weitere bewaffnete Wachen auf ihn warteten, die
hinter ihm rechts und links der Tür Posten bezogen. Unsicher betrat er die
große Halle, zu der sich der Vorraum öffnete.
Der Kommissar wußte, daß Eiselfen Pracht und Verschwendung liebten. Aber er
hatte nicht gewußt , zu welchen Exzessen adelige Eiselfen fähig waren,
ehe er diesen Saal (tatsächlich war es einer der kleineren für unwichtige
Gelegenheiten) betrat.
Kristallene Lüster hingen, von blauem und violetten magischen Glanz umspielt,
von den hohen Gewölbedecken herab wie Springbrunnen, die mitten im Flug vom
Frost erstarrt worden waren. Die Wände bestanden aus unermeßlich teurem
marmorierten Blaueis, das von einem Netz feinster Silber- und Mithrilfäden
überzogen war, die verwirrende Ornamente und Schriftzüge in Elfenrunen
formten. Kalt glitzerten Edelsteine auf ihnen, der Xarinn-Clan war für seine
Diamantenminen bekannt und verhehlte das nicht. Von der Einrichtung konnte
Gork kaum etwas sehen, da die Aufmerksamkeit des Besuchers sofort auf den
riesigen, mit glänzender weißer Seide überzogenen Diwan gelenkt wurde, der
mitten unter der langen Front der hohen Fenster stand. Seine Führerin
flüsterte dort gerade einer in besticktem schwarzen Samt gekleideten Gestalt
etwas zu.
Er beeilte sich, sich tief zu verbeugen, wie es die Etikette von einem
Nichtelfen gegenüber der selbstproklamierten Herrenrasse verlangte, denn man
achtete hier, in einem Haus des Adels, sicher peinlich genau auf diese
Formalitäten. Der halborkische Besucher erhob sich erst wieder, als die
Dienerin sich entfernte, und blieb in einer Pose der leichten Verbeugung
stehen.
So erblickte er Gwinbrian del'Xarinn, eine adelige Eiselfin von Nordmar, die
halb ausgestreckt auf einem Seidendiwan lag, von in einer Silberschale
bereitstehenden exotischen Früchten naschte, während sie ihren Gast mit einer
Mischung aus Herablassung und Belustigung betrachtete.
Gork sah, daß sie alt war, selbst für eine Eiselfin. Die porzellanhelle Haut
war zwar noch glatt, aber ihr langes gewelltes Haar umfloß sie in reinweißer
Farbe, fein wie Spinnweben. Sie war zierlich, klein für eine Elfin, hätte ihn
im Stehen vermutlich kaum um einen halben Kopf überragt, und das engsitzende
silberne Mieder mit der blauen Schärpe verriet, daß sie noch hagerer als der
Durchschnitt der Eiselfen war. Ihr Haupt mit den fast durchscheinend feinen
spitzen Ohren zierte eine kleine brilliantenbesetzte Adelskrone, und an einer
fein gearbeiteten Mithrilkette um den Hals trug sie einen einzelnen
rautenförmig geschliffenen Diamanten einer solchen Größe, daß man dafür
vermutlich eine der kleineren Provinzen der Schattenreiche hätte kaufen
können.
Vermutlich war das ihre Alltagskleidung.
"Sieh an. Du bist also Gork", bemerkte sie mit einer rauchigen Stimme, die
eher zu ihrem Alter paßte als die noch makellose Haut.
"Ja, Herrin." Dem Halbork wurde noch unbehaglicher.
Die Elfin machte eine Pause und naschte eine weitere der gelben Früchte aus
der bereitstehenden Silberschale und spuckte den Kern achtlos auf den Boden,
wo sein Klacken auf den Kristallintarsien langsam in dem hohen Raum
verhallte.
"Und sicher fragst Du Dich, welcher Verdienst Dir die Ehre meiner
Aufmerksamkeit einbringen konnte", fuhr die Frau leiser fort.
"Ja, Herrin." Noch immer stand der Kommissar leicht gebückt und versuchte sich
nicht anmerken zu lassen, wie gern er auf diese Ehre verzichtet hätte.
"Nun, das hast Du einem unserer Diener zu verdanken, einem Unterleutnant. Ork,
glaube ich. Wie hieß er doch gleich", bemerkte die Elfin mit gleichgültigem
Tonfall.
"Ihr meint sicher Wushtor, Herrin." Gork nahm sich vor, seinem Freund ein paar
passende Worte zu sagen, falls er hier lebend herauskam.
"Ich will es kurz machen." Lady Gwinbrian setze sich ein wenig mehr auf, und
ihre schwarzen Augen bekamen eine Härte, die man bei einer so zierlichen Frau
nicht erwartet hätte.
"Ich weiß von meinen Dienern, daß Du Kontakt hattest zu diesem Menschen
Dinchan, der Baumeister war.Was du mit ihm zu schaffen hattest, ist für mich
unerheblich." Sie machte eine knappe wegwerfende Handbewegung.
"Und Dinchan ist für mich durch die Aufmerksamkeit unseres loyalen Dieners
interessant geworden. Oh, nicht daß das Leben dieses Steineklopfers in
irgendeiner Weise von Belang für mich wäre, wie das aller Diener", erklärte
sie, während ihr Blick sich in den Tiefen der Halle verlor, als sei ihr
Besucher gar nicht anwesend. "Aber sein Tod, die Art seines Todes. Der
Unterleutnant hat so etwas schon einmal gesehen und unverzüglich meinen
Sekretär informiert."
"Ich weiß nicht, was ihr meint, Herrin."
Die weißhaarige Eiselfin lachte kurz und trocken. "Natürlich nicht. Wie sollst
Du auch. Du bist ein ungebildeter Mischling der Sklavenrassen." Ihre
herablassende Selbstzufriedenheit berührte Gork kaum. Dergleichen bekam man
jeden Tag zu spüren, wenn man in Ithiljar lebte.
"Ich nehme an, Du hast das Kunstwerk gesehen, so stümperhaft es auch
ausgeführt war."
Der Halbork überlegte schnell, was sie wohl mit 'Kunstwerk' meinte, und
entschied dann, vorsichtig zu antworten, um ihren Unwillen nicht zu
erregen.
Leise klirrte der Diamantschmuck am Hals der Frau, als sie wieder nach der
Silberschale griff. "Ach, wahrscheinlich weißt Du nicht einmal die Kunst zu
schätzen." Es klang gelangweilt.
"Verzeiht meine Unwissenheit, Herrin."
Das Polizistengehirn, das so lange
von der Angst gelähmt gewesen war, begann nun endlich zu arbeiten. Was wollte
sie eigentlich?
"Dinchan wurde auf die Art getötet, die wir als Kunst betrachten", setzte die
Adelige endlich zu einer längeren Erklärung an, "auf die Art und Weise, bei
der ein Künstler ihn langsam von den Spitzen der Gliedmaßen her zerstückelt
hat. Der Söldner, Dein Freund, hat so etwas schon einmal bei uns im Haus
gesehen. Auch wir pflegen diese Kunst, und zwar in Vollendung, auch wenn wir
sie nur an nicht mehr länger nützlichen Sklaven oder verurteilten Verbechern
ausüben. Es wäre für uns ein Zeichen von schlechten Manieren, einen nützlichen
Diener wie diesen Menschen dafür zu verwenden." Ihre Miene verriet, daß sie
stolz auf das Wissen und die Kunstfertigkeit ihresgleichen in dieser langsamen
Art des Tötens war. "Was aber wirklich die Aufmerksamkeit meiner Person auf
sich zog, war das, was man dem Baumeister in den Bauch gerammt hatte."
Gork entsann sich, was sein menschlicher Kollege ihm erzählt hatte, vom Fund
dieses harpunenartigen Dinges mit ausklappbaren rasiermesserscharfen
Widerhaken inmitten der zerfetzten Fleischmasse, das die Elfen stolz als
Nordmar-Dolch bezeichneten.
"Ihr meint den Dolch, Herrin", bemerkte er fast kühn.
"Natürlich. Jemand wollte ein deutliches Zeichen setzten, und deshalb habe ich
einen meiner Diener geschickt, um das Kunstwerk zu untersuchen. Er bestätigte
meinen Verdacht, und ich arrangierte es, daß ich selbst einen Blick auf den
toten Dinchan werfen konnte."
Der Kommissar schwieg. Vielleicht erfuhr er jetzt endlich, warum er hier
war.
"Es war ein Trauerspiel", fuhr die elfische Dame fort, und ihre Stimme behielt
den leichten Plauderton, "so stümperhaft ausgeführt, das ganze, eine schlechte
Arbeit. Aber da war der Nordmar-Dolch, einer mit drei Klingen, wie ihn unsere
Morwen erfunden hat, Ach, meine liebe kleine Nichte Morwen."
Der Blick der schwarzgekleideten liegenden Elfenfrau wurde für einen Moment
abwesend, ehe sie weitersprach.
"Es war, als ob jemand auf die Leiche geschrieben hätte: Morwen del' Xarinn
war das, in einer Schrift, die nur für die edelsten Eiselfen zu lesen ist.
Aber ich, ich konnte noch mehr lesen am bearbeiteten Körper Dinchans. Du mußt
wissen, Morwen hat die Kunst von mir gelernt, als sie noch klein war, obwohl
sie mich heutzutage weit darin übertrifft. Ach, meine Nichte ist schon eine
wirklich große Künstlerin."
Gork wartete fieberhaft auf Fakten. Vielleicht hatte dieser Besuch doch einen
Nutzen.
"Umso entsetzter war ich über das, was ich sah. Morwen würde niemals so einen
Pfusch abliefern. Glatte Schnitte! Glatte Schnitte verursachen viel
geringere Schmerzen als solche mit stumpfen Klingen. Und für so ein Werk würde
Morwen nur ausgesuchte angerostete Messer verwenden. Die leichten Rostspuren
in den Wunden, etwas verfärbt von der Säure, mit der sie die Blutungen zu
stillen pflegt, sind gewissermaßen ihr Markenzeichen. Aber wer sieht das schon
in dieser Stadt außer ihrer alten Tante Gwinbrian? Ach, das arme Mädchen. So
ein Rufmord."
Das Gesicht der Elfenlady wurde für einen Augenblick bekümmert. Dann sah sie
ihren Besucher unvermittelt scharf an.
"Und erst die Augen. Jeder Anfänger sieht doch, daß dieser Mensch vor
Schmerzen wahnsinnig geworden ist und sich gar nicht mehr hingeben konnte.
Eine Schande! Es ist überhaupt nicht schwer, zu töten, und es ist auch nicht
schwer, langsam zu töten. Aber jemand langsam zu töten und dabei nicht
wahnsinnig werden zu lassen, das ist eine hohe Kunst. Und wer immer hier meine
kleine Nichte imitiert hat, beherrschte die nicht."
"Wenn ihr verzeiht, Herrin, Ihr glaubt, man will Eurer Nichte einen Mord
anhängen?", fragte Gork vorsichtig.
"Ach was", schnaubte die Gastgeberin beinahe entrüstet über soviel
Unverständnis seitens des Halborks, "Morwen ist gar nicht hier, sie dient in
der Legion und ist im Ausland unterwegs, und man würde ihr Fehlen zweifellos
sofort bemerken. Aber offensichtlich will man unserer Familie einen Skandal
anhängen. Da ist ein lausig ausgeführtes Kunstwerk auf offener Straße, auf dem
deutlich zu lesen steht: Xarinn-Clan. Wir wären entehrt in den Augen der
anderen Clans von Ithiljar."
Langsam fügten sich die Teile im Geist des Kommissars zusammen. Nicht er
selbst war ins Visier der Adeligen geraten, die Art und Weise von Baumeister
Dinchans qualvollem Tod war es gewesen. Und die alte Eiselfendame machte sich
keine Sorgen darum, ob einer ihrer Verwandten des Mordes bezichtigt werden
würde, natürlich nicht, bei dem Einfluß, den ihr Clan in der Stadt besaß,
würde der Fall zu den Akten gelegt werden. Aber die Intrigen der anderen Clans
konnten nicht zu den Akten gelegt werden, das wußte Gork. Und das konnte nur
bedeuten, daß es hier nicht um seinen Hals ging, sondern Lady Gwinbrian seine
Dienste wollte! Fast hätte er hörbar aufgeatmet.
Sie warf ihre spinnwebweißen Haare gekünstelt zurück. Unvermittelt blickte sie
den Halbork scharf an.
"Und deshalb will ich wissen, wer dahintersteckt. Ich kann das nicht auf
meiner Familie sitzenlassen. Unglücklichereise ist mein Schwager, der
Clanchef, mit der restlichen Familie auf unserem Landsitz am Aeghras, so daß
ich mich darum kümmern muß."
Der Tonfall ihrer rauchigen Stimme sagte nur zu deutlich, daß sie entgegen
ihrer Behauptung überhaupt nicht unglücklich über die Abwesenheit der anderen
war. Gork wußte vom Hörensagen, was für tödliche Intrigen die adeligen
Eiselfen selbst unter Verwandten gegeneinander spannen. Daß Lady Gwinbrian
nicht das Privileg der ständigen Gesellschaft des Clanoberhauptes besaß,
deutete wahrscheinlich ihren niedrigen Rang innerhalb der Familie Xarinn an.
Und der Kommissar konnte sich gut vorstellen, daß sie den Mord an Dinchan und
die Rettung der Clanehre zu ihrem eigenen Vorteil umzumünzen gedachte. Das war
das, was jeder der Bewohner in Ithiljar, nicht nur Eiselfen, in dieser
Situation tun würde. Seine Vorladung hierher hatte nichts, aber auch gar
nichts mit dem Opernfall zu tun. Oder?
"Also wirst Du mir helfen und mir sagen, mit wem dieser Baumeister alles so
Umgang hatte." Die Stimme der alten Dame ließ keinen Widerspruch zu. "Du
hattest heimliche Treffen mit ihm. Ich weiß das."
"Ja, Herrin", antwortete Gork, "ich benötigte Informationen für eine meiner
laufenden Ermittlungen. Er hat mich beliefert."
"Ich weiß. Du hast die Mamurat-Gilde bespitzelt. Keine schlechte Idee, aber
das schien jemand zu stören." Die blasse Elfin ließ eine weitere der gelben
Früchte in ihrem Mund verschwinden, und der Kern flog zu den anderen auf dem
kristallintarsienverzierten schwarzen Steinboden. "Und offensichtlich hat sich
schon früher jemand von Dir belästigt gefühlt. Hast Du nicht den Ishkibantha
erhalten?"
"Ja, Herrin." Der Polizist wunderte sich nicht, daß sie das herausgefunden
hatte, nachdem sie einmal auf ihn aufmerksam geworden war. Die Adelsclane
unterhielten recht gut arbeitende Spitzelnetze in der Stadt.
"Und da bist Du nicht vorsichtig geworden? Weißt Du denn nicht, was es
bedeutet, wenn man 'den Ishkibantha geschenkt' bekommt?"
"Nein, Herrin."
"Ungebildeter Halbork", lachte die Elfin, kaute und spuckte ihm einen weiteren
Kern in hohem Bogen direkt vor die Füße. "Naja, man kann nicht verlangen, daß
Du feine Umgangsformen kennst. Von Ishkibantha geht wegen seiner Stärke die
Rede, daß er Tote aufwecken könne. Wenn ein Eiself Dir dieses Destillat
schickt, dann sagt er damit sozusagen durch die Blume, daß Du es genau dafür
brauchen wirst. Mit anderen Worten, Du bist so gut wie tot."
"Oh." Der Besucher im Hause Xarinn schluckte einmal trocken. "Das wußte ich
nicht."
"Insofern war es eine gekonnte Satire, den Rest des Likörs an Deine Mutter zu
verschenken. Das dürfte Deinem Gegenspieler zu denken gegeben haben. Aber
allein die Tatsache dieses Geschenkes sagt mir, daß ein Eiself feinster
Bildung mit der Sache zu tun hat. Und da alles das durch Deine Spitzelei bei
Mamurat in Gang gekommen ist, wirst Du mir jetzt sagen, was Du erfahren
hast."
"Herrin, ich glaube nicht..."
"Es interessiert mich nicht, was Du glaubst", sagte die liegende Frau mit
leiser, aber eiskalter Stimme, "Du wirst mir dienen, wenn Du nur einen Funken
Verstand in Deinem häßlichen Schädel hast. Denk an Deine alte Mutter, die ganz
allein und schutzlos in der Altstadt lebt. Wie leicht könnte ihr etwas
zustoßen, gerade jetzt, wo Du Dir mächtige Feinde gemacht hast. Wenn Du mir
und dem Haus Xarinn dienst, könnte ich meine schützende Hand über sie
halten."
"Das wäre sehr großzügig, Herrin. Ich bin natürlich immer bestrebt, nützlich
zu sein." Der Polizist überlegte fieberhaft, was er tun konnte, um dieser
Zwickmühle zu entgehen. Es sah ganz so aus, als ob man, wenn man lange genug
in dieser Stadt lebte, letztlich nicht um die Adeligen herumkam. Sollte er die
Gelegenheit nutzen und sich eine Patronin verpflichten?
"Also sei nützlich", schnitt die Frau seine Gedanken ab, "und rede
endlich."
"Ich habe nicht viel von der Gilde erfahren, Herrin. Die Sache, auf die Ihr
anspielt, betrifft ein Mitglied der Gilde, die, nun, enge Kontakte zu einem
Offizier der Legion hatte."
Gwinbrian lachte, diesmal fast herzlich, soweit das mit ihrer rauhen Stimme
möglich war. "Ein Rassenvergehen, was? Keine große Sache. Das tun sie doch
fast alle, ein offenes Geheimnis. Man darf sich nur nicht erwischen lassen.
Der fragliche Offizier sollte seinem Liebchen lieber das Maul stopfen. Nein,
das muß etwas anderes sein. Vielleicht will jemand gerade das Gegenteil:
daß es bekannt wird." Die alte Elfin rieb sich gedankenverloren ihr
zartes spitzes Ohr. "Von welchem Clan ist der Offizier denn eigentlich?"
"Vom Haus del'Yngrel, Herrin." Gork konnte jetzt nicht mehr gut schweigen, das
wußte er. Aber er beschloß, wenigstens seinen letzten Trumpf, die Geheimgänge
im Opernhaus, noch für sich zu behalten.
"Hmmm... Yngrel, wir, die Gerüchte um den Präfekten del'Udrien, die
Finanzkrise der Gaiwach-Hausbank... es fehlt eigentlich nur noch der
Vorond-Clan, dann haben alle Adelsclane der Provinz einen handfesten Skandal
am Hals. Es sieht fast so aus, als wolle uns jemand in Mißkredit bringen."
Die weißhaarige Adelige runzelte für einen Augenblick angestrengt die
Stirn.
"Sponsort Dalon del'Vorond nicht den Bau des Opernhauses? Es gibt doch
Gerüchte, daß es bei der Eröffnung zu einem Vorfall kommen wird, nicht?",
murmelte sie vor sich hin. "Hast Du davon gehört? Du bist doch
Zivilpolizist."
"Ich ermittele in dem Fall, Herrin." Der Halborkische Kommissar wußte genau,
daß er jetzt sehr vorsichtig sein mußte. Diese Eiselfin war einfach zu gut
unterichtet.
"Ach, dann bist Du der Gork. Ich hörte, daß Dein Vorgesetzter Dich
früher schon lobend erwähnt hat."
"Ich bin geehrt, Herrin..."
"Jaja", schnitt sie ihm das Wort ab, "viel wichtiger ist, daß ich einen so
fähigen Ermittler für die Dienste des Xarinn-Clans brauchen könnte." Für
mich brauchen könnte, sagten ihre obsidianschwarzen kalten Augen.
"Allerdings kann ich nichts für Dich tun, wenn Du in der Angelegenheit Dinchan
versagst. Wenn Du allerdings erfolgreich bist, könnte Deine alte Mutter einen
recht behaglichen Lebensabend verbringen. Und Dein Schade würde es auch nicht
sein. Nicht zu vergessen, daß Du Deinen Freund Wushtor häufiger sehen
würdest."
"Ich bin geehrt, Herrin, über soviel Güte", flüsterte Gork, und er war bemüht,
sich seinen Ärger über die plumpe Erpressung nicht anmerken zu lassen. Er
konnte so ein Angebot nicht gut ablehnen und dann noch hoffen, den Raum lebend
zu verlassen. Man lehnte solche Angebote nicht ab. Andererseits war das die
Art, in der Geschäfte in den gesamten Schattenreichen abliefen. Hatte er
selbst den Baumeister Dinchan nicht ebenso behandelt?
"Schön. Ich hoffe, Du bist erfolgreich." Die zierliche weiße Hand der
Liegenden griff nach einem Silberglöckchen. Kaum hatte es geklingelt, als auch
schon die Dienerin eilig hereinkam und sich verbeugte.
"Dieser Beamte der Zivilpolizei erhält Zutritt zu meinem Sekretariat",
erklärte Lady Gwinbrian kurz, was die Dienerin mit einer erneuten Verbeugung
quittierte. Ihre Ladyschaft schien des Gespräches plötzlich überdrüssig zu
sein. Zu Gork sagte sie wie beiläufig: "Ich wünsche restlos informiert zu
werden", bevor sie ihn mit einer lässigen Handbewegung entließ. Er verbeugte
sich tief und beeilte sich dann, den Palast wieder zu verlassen.
Er würdigte den hinter ihm wie Perlmutt im Nebel glänzenden Stadtpalast
inmitten des riesigen nächtlichen Parkes keines Blickes mehr, als er endlich
durch das verzierte schmiedeeiserne Tor hinausgelassen worden war. So lange
hatte er es geschafft, sich aus allen Angelegenheiten der Eiselfen
herauszuhalten, und nun das. Andererseits hatte Lady Gwinbrian wertvolle
Informationen geliefert. Während er die weite überfrorene Allee in Richtung
Innenstadt zwischen den Anwesen der adeligen Eiselfenclans entlangstapfte,
dachte er daran, was es bedeutete, daß sich Skandale in den Eiselfenclans
ankündigten und sein Opernfall nur einer davon war. Konnte es sein, daß die
stets heimlich gegeneinander intrigierenden Eiselfen nur einen größeren
Schlagabtausch planten, oder versuchte wirklich eine größenwahnsinnig
gewordene Clique von Menschen die herrschende Elite zu diskreditieren?
Es paßte alles nicht recht zusammen, aber der Kommissar zog seinen dicken
grauen Wollumhang gegen den schneidenden Wind der Polarnacht enger um seinen
massigen Körper.
Und wie paßte der Geheimgang in der Oper dazu? Wurde auch die Gilde Mamurat
nur benutzt von jemand, der im Hintergrund die Fäden zog?
Der dickliche Kommissar brummelte vor sich hin, wie stets, wenn ihm ein Fall
keine Ruhe ließ. Irgendwas stimmte an der ganzen Sache nicht, das spürte sein
kriminalistischer Instinkt, aber er wußte noch nicht genau, was es war. Eines
der Puzzleteile, die irgendjemand sorgfältig für die Zivilpolizei ausgelegt
hatte, paßte nicht genau in das sorgfältig vorbereitete Muster. Gork mußte nur
noch darauf kommen, welches es war.
Und warum mußte er immer wieder daran denken, was Lady Gwinbrian so
verächtlich über den Leichnahm Dinchans und die Art seiner Verletzungen gesagt
hatte? Glatte Schnitte, hatte sie gesagt, als ob es ein Ding der Unmöglichkeit
sei, jemand mit einem glatten Schnitt zu töten.
Glatte Schnitte.
Einem plötzlichen Impuls folgend, beschloß Gork, seiner alten Mutter in
Ithiljars Altstadt einen Besuch abzustatten. Ihr Rentiereintopf war
unschlagbar, und außerdem füllte er den Magen und beruhigte einen überlasteten
Kopf.
Als er auf dem Weg zum Zitadellenplatz in die Monumentenallee einbog, in der
sich auch das verwünschte Opernhaus befand, zog er die Kapuze seines Umhanges
tief ins Gesicht.
Ein glatter Schnitt, dachte er. Ich habe jetzt Feierabend und will das Ding
nicht mehr sehen.