"Sie müßten bald verschwinden". Gork flüsterte es seinen Begleiterinnen im
Schatten der riesigen Statue an der hinteren Fassade des Opernhauses von
Ithiljar zu.
"Und wenn nicht?" Die rauchige Stimme der alten Lady ließ leichte Zweifel
erkennen. Die Operngala war in vollem Gange, die Harfenklänge, Fanfaren und
der dünne Soprangesang der Lokaldiva Siria del'Vorond waren selbst hier
draußen noch zu hören.
"Ich denke, unser Mann wartet die Pause nach dem ersten Akt ab, Herrin." Der
halborkische Kommissar bemühte sich, seine Nervosität nicht zu zeigen.
Selbstverständlich waren an allen Eingängen Wachen postiert, auch an diesem
hier, dem hinteren, der in die Requisitenlager im Keller führte. Diesen Weg
mußte ein Attentäter nehmen, wenn er Gebrauch vom Geheimgang in den Mauern des
Gebäudes machen wollte. Schließlich war auch der Zivilpolizist selbst vor
einiger Zeit auf diesem Weg auch schon einmal hier eingestiegen. Aber auch ein
noch so geschickter Attentäter konnte genauso wenig wie sie an den beiden
Wachen rechts und links der Tür vorbei. Deshalb setzte Gork alles darauf, daß
die Wachsoldaten verschwinden würden, wenn es interessant wurde.
Schnaufend lehnte er sich an das übergroße Knie der Marmorfigur, in deren
Schatten die kleine Gruppe lauerte. Von Innen war jetzt rauschender Beifall zu
hören. Der erste Akt war zuende. Bald mußte etwas geschehen.
Aber die Nerven des Kommissars wurden gehörig auf die Probe gestellt. Erst
gegen Ende der Pause kam ein weiterer Soldat gemächlich die hintere Fassade
des Opernhauses entlanggeschlendert und sprach mit den beiden Wachen. Kurz
darauf marschierten alle drei in die Dunkelheit der Polarnacht davon.
Gork rieb sich die vom langen Warten eiskalt gefrorenen Hände. "Schnell
jetzt", flüsterte er den beiden Elfinnen zu.
Geräuschlos glitten die drei in dunkle Umhänge gehüllten Gestalten an der
steinernen Fassade entlang. Der Halbork wußte als einziger, daß sie noch von
mindestens einem Augenpaar beobachtet wurden; es schadete nie, noch ein paar
geheime Verbündete in der Nähe zu wissen. Er hoffte nur, daß der Attentäter
nicht schon jetzt ebenfalls den Eingang beobachtete.
Gleich Schatten in der Dunkelheit erreichten sie die niedrige Tür in der
monumental verzierten Mauer. Ein kurzer Griff bestätigte den Verdacht des
Zivilpolizisten: Der Eingang war unverschlossen.
"Seht Ihr? Es ist alles vorbereitet für ihn, Herrin", bemerkte er zu der
Eiselfendame, die ihm dichtauf gefolgt war. Rasch schlichen die Drei ins
Innere des antikisierten Bauwerkes.
Drinnen ließ Lady Gwinbrian die Kapuze von ihrem schneeweißen Haar gleiten.
"Und jetzt?", flüsterte sie Gork zu, der auf das Stimmengewirr lauschte, das
ebenso wie dämmeriger Lichtschein den langen Gang vom Foyer herüberkam.
"In den Keller." Er führte seine Begleiterinnen rasch zu einer Stiege zur
Linken.
Die Mauern waren hier wesentlich schlichter gehalten als in den oberen
Geschossen. Wen wunderte das auch, denn in den Kellern eines großen Theaters
wurden allerorten Requisiten gelagert; wer außer Dienern hatte hier also schon
Zutritt? Deshalb waren die Wände aus behauenem Kalkstein auch nur einfach weiß
verputzt.
Die meisten Räume waren noch leer, wie die drei Eindringlinge im Schein einer
mitgebrachten Blendlaterne sehen konnten. Schließlich war das Opernhaus auch
noch ganz neu. Aber sie suchten schließlich auch nichts anderes in diesem
Keller zu finden als den Eingang zu dem Geheimgang, den der Attentäter ganz
sicher benutzen mußte. Und dem Kommissar war der Weg schließlich bekannt.
Zielstrebig erreichte er die halbrunde verputze Mauer, die als Teil eines
Säulenfundamentes in den Mittelgang ragte. Gork wußte genau, wo er zu suchen
hatte, entdeckte die feine Linie der Geheimtür beinahe sofort. "Hier hinein",
rief er den beiden Frauen leise zu. Die Eiselfische Dame und ihre stumme
Dienerin schlüpften schnell hinter ihm in den Gang.
Drinnen war es noch weniger komfortabel als schon in den schlichten Kellern
der Oper. Der Gang war offenbar angelegt worden, um zweckmäßig zu sein, und
hatte nur grobbehauene Wände, deren Relief im Licht der kleinen Blendlaterne
plastisch hervortrat. Vor ihnen bog der Weg steil nach oben ab, und
grobgehauene Stufen ermöglichten es, hinaufzuklettern.
"Wir müssen uns beeilen", flüsterte der Halbork über die Schulter zurück, "er
könnte schon sehr bald diesen Weg nehmen." Als Antwort kam nur ein unwilliges
Schnaufen von hinten.
Die drei hielten nicht an, um zu lauschen. Im Inneren des dicken Mauerwerkes
war es totenstill, und sie kletterten so rasch wie möglich die unebenen Stufen
hinauf. Der Gang krümmte sich bald hierhin, bald dahin; nur an der veränderten
Beschaffenheit der unebenen Wand zeigte sich, daß man zu den oberen Geschossen
vordrang. An einer scharfe Linie wich der graue Kalkstein des Fundamentes
feinem weißen Marmor.
Schließlich wurde der enge Tunnel eben und endete vor einer Tür aus dünnem
Material. Jenseits davon waren Geräusche zu hören, Schritte, Stimmen,
gedämpftes Gemurmel. Gork wandte den Kopf zu seinen Begleiterinnen und führte
den Finger an die Lippen, um zu bedeuten, daß sie mucksmäuschenstill sein
mußten. Er dunkelte die Laterne ab, und sehr zu seiner Überraschung wurde
dabei ein Lichtpunkt in der Mitte der Tür sichtbar. Dieser - wie nannte die
alte Lady ihn immer? - Bastard hatte an alles gedacht. Der Kommissar
spähte durch das winzige Loch nach draußen.
Offenbar ging die Pause zuende. Der Zivilpolizist sah Eiselfen in prächtigen
Roben, die zielstrebig an seinem eingeschränkten Sichtbereich vorbeigingen, in
Richtung der Logen, einzeln und in Gruppen, einige in Gespräche vertieft, die
hier im Gang nur als Murmeln zu vernehmen waren. Nach einiger Zeit riß der
Strom der Gehenden allmählich ab, und schließlich war zu hören, daß Türen
geschlossen wurden. Es wurde still.
"Jetzt!" Gork öffnete vorsichtig die Geheimtür. Er fand sich in einer dämmrigen
Nische halb hinter einem schweren Wandteppich wieder. Rasch spähte er auf den
prächtigen Logengang hinaus, halb erwartend, daß Wachen herumstehen würden.
Aber niemand war zu sehen.
"Kommt, Herrin. Es ist sicher, und wir müssen jetzt den Gang freimachen",
flüsterte er in die Türöffnung. Behende schlüpften Lady Gwinbrian und ihre
Dienerin aus dem Gang. Leise verschloß der Kommissar die Geheimtür wieder.
"Und jetzt?" Das porzellanhäutige Gesicht der alten Dame zeigte sichtbares
Unbehagen. "Wir können hier doch nicht herumstehen bleiben."
"Nein, Herrin. Wir werden uns verbergen, und wenn Fingor aus dem Gang kommt,
werden wir ihn festnehmen. Das sollte jeden Zweifel an seiner Schuld
beseitigen."
Gegenüber besaß der Gang eine weitere, von Wandteppichen halb verdeckte
Nische.
"Da hinein", flüsterte der Kommissar. Lady Gwinbrian und ihre Dienerin
verschwanden rasch hinter einem gestickten Pegasus, der ein Opfer
niedertrampelte, während Gork sich zu ihren Füßen hinter Speer und Schild
eines Kriegers kauerte, der ebenfalls nur aus Silberfäden bestand. Lange
würden sie in diesem provisorischen Unterschlupf nicht verborgen bleiben
können. Aber es kam ja auch nur darauf an, den Verschwörer beim Verlassen des
Ganges zu ergreifen.
Im Zuschauerraum des Opernhauses ertönte nun ein Fanfarenstoß, und
Harfenklänge setzten ein. Das Schauspiel wurde offenbar fortgesetzt.
Langatmige Textpassagen in altertümlich-formaler Sprache waren zwar hörbar,
aber kaum verständlich. Es tat Gork nicht leid, daß er als Nichtelf nie
Zutritt zu den Aufführungen haben würde, umso mehr, als nun ein hoher,
schriller Gesang einsetzte, der dem Halbork in den Ohren wehtat. Das Warten
wurde so nicht eben erträglicher.
Doch seine und die Geduld der Eiselfinnen wurde noch auf eine gehörige Probe
gestellt. Der Attentäter ließ sich Zeit. Gork wäre von dem endlosen Gekreisch
auf der Bühne, das nur gelegentlich von Rezitationsgeleier einer Männerstimme
und Harfengeklimper unterbrochen wurde, beinahe eingenickt, wenn ihn nicht hin
und wieder ein eingestreuter Fanfarenstoß aufgeschreckt hätte.
Doch die Geduld der Wartenden wurde belohnt. Nach endlos erscheinender Zeit
bewegte sich langsam die gegenüber in der Nische befindliche Geheimtür, kaum
sichtbar zuerst. Eine schwarzvermummte Gestalt glitt lautlos durch den Spalt,
schloß die Tür erst vorsichtig wieder, ehe sie sich sichernd umsah. Dann trat
das schlanke Wesen auf den Gang hinaus. Gork sah, daß der Attentäter mehrere
armbrustähnliche Waffen bei sich trug.
"Sieh an. Fingor, was für eine Überraschung, Dich hier zu treffen." Die alte
Eiselfendame hatte unvermittelt den Wandbehang zurückgeschlagen und ließ nun
laut ihre haßerfüllte Stimme hören. "Und was für unpassende Kleidung für eine
Operngala."
Gork und die stumme Dienerin sprangen ihr rasch zur Seite, aber der
Angesprochene reagierte mit langsamer Gelassenheit. Wie beiläufig entfernte er
den schwarzen Gesichtsschleier, und ein blasses eiselfisches Gesicht kam zum
Vorschein.
"Welche Freude, meine Stieftante!", sagte die Gork wohlbekannte sanft-heisere
Stimme mit einem Tonfall, als sei der Sprecher nicht gerade bei einem
Verbrechen ertappt worden, sondern betrachte ein neues und faszinierendes
Spielzeug.
"Endlich einmal bist Du zur falschen Zeit am falschen Ort.
Diesmal wirst Du mir nicht entgehen." Mit einer geschmeidigen Bewegung hob der
Mann eine der Armbrüste.
Noch ehe der Zivilpolizist Zeit hatte zu reagieren, hörte er, wie neben ihm
eine Klinge gezogen wurde. Die stumme Dienerin sprang vor und schlug die Waffe
des Angreifers nieder. Dieser setzte sich zur Wehr, hatte blitzschnell ein
kurzes Schwert aus seiner Kleidung befördert. Stahl klirrte hell, konnte den
nervtötenden Gesang aber nicht übertönen, der noch immer aus dem Zuschauerraum
drang. Fingor bewegte sich unglaublich schnell, hatte auf einmal eine zweite
Armbrust in der freien Hand. Die Dienerin öffnete den Mund zu einem lautlosen
Stöhnen und sank zusammen. Aus ihrer Brust ragten mindestens ein Dutzend
Armbrustbolzen.
Lady Gwinbrian hatte bereits zwei Dolche in den Händen, und Gork richtete
ebenfalls eine kleine Armbrust auf ihren Gegner. Aber der beachtete sie gar
nicht, sondern lauschte in Richtung des Foyers, wo beunruhigte Stimmen zu
hören waren, als der Sirenengesang von der Bühne einmal kurz aussetzte.
Offenbar war der Kampflärm doch von einem Wächter gehört worden.
Noch ehe einer von beiden Zeit hatte zu reagieren, glitt Fingor in die Nische
zurück und verschwand geschmeidig in der Geheimtür. Der Armbrustbolzen des
Kommissars blieb zitternd in der Tür stecken.
"Du dummer Ork!", schimpfte die adelige Eiselfin und funkelte den Polizisten
aus ihren schwarzen Augen streng an. "Jetzt ist er uns entkommen!"
"Nein, Herrin", entgegete er, "ist er nicht. Mit Eurer Erlaubnis habe ich
Wushtor über unsere kleine Aktion in Kenntnis gesetzt und ihn beauftragt, dem
Attentäter lautlos zu folgen und hinter ihm heimlich die untere Geheimtür zu
blockieren. Fingor sitzt in der Falle."
Er beugte sich zu der toten Dienerin hinab, um die Armbrust zu untersuchen,
die der Verschwörer auf ihren Körper hatte fallen lassen, als er floh. Es war
ein Spezialmodell, mit dem sich ein breiter Fächer mehrerer Bolzen
gleichzeitig abfeuern ließ. Im dichtbesetzten Zuschauerraum hätte jeder davon
ein Ziel gefunden und ein Massaker angerichtet.
Als er wieder aufblickte, sah er, daß die alte Lady blitzschnell die Situation
erfaßt hatte. Gork sah sie mit Wachen sprechen, die am Ende des Ganges
aufgetaucht waren, und dann verschwand sie in einer der Adelslogen. Schon
kurze Zeit später kam sie in Begleitung eines Mannes in sehr prächtiger Robe
und einiger Gardesoldaten zurück. Der Kommissar beeilte sich, sich tief zu
verbeugen. Denn der Mann war kein anderer als Amir del'Udrien, der Präfekt von
Ithiljar.
"Präfekt, dies ist wirklich außergewöhnlich. Ich und meine Diener haben knapp
ein Attentat auf euch und die anderen Familien verhindern können. Der
Meuchelmörder ist in diesem Gang verschwunden, doch ein weiterer meiner Diener
bewacht den unteren Ausgang."
Dem Kommissar blieb beinahe vor Staunen der Mund offen stehen. Wie schnell die
Eiselfin in dieser Situation reagiert hatte und sie zu ihrem Vorteil nutzte!
Präfekt del'Udrien reagierte äußerst professionell. Auf einen Wink hin setzten
sich einige Soldaten seiner Garde in Bewegung und öffneten die nun nicht mehr
länger geheime Geheimtür.
"Wo endet dieser Gang?", fragte er knapp. Die Vorstellung war offenbar nicht
unterbrochen worden, denn der schrille Gesang war nun wieder zu vernehmen.
Gork meldete sich zu Wort. "Ich kann Euren Soldaten den Weg zeigen, Herr."
Er folgte dem Wink, und eine weitere Gruppe von Kriegern der Präfektengarde
setzte sich mit ihm in Bewegung. Auf der Bühne schraubte sich die Stimme der
Diva zu einem furiosen Finale hinauf.
Im Laufen hörte Gork noch, wie der Präfekt zu seiner Begleiterin sagte: "Wie
es scheint, seid Ihr eine Heldin", und dann brach im Zuschauerraum
frenetischer Beifall los.
Es ging dem Halbork durch den Kopf, daß diese Gelegenheit die einzige war, bei
der er das Hauptportal eines öffentlichen Gebäudes in Ithiljar durchschreiten
konnte, als er hinter dem Präfekten und der Lady zusammen mit den
Gardesoldaten das Opernhaus verließ, in dem noch immer Beifallsstürme zu hören
waren. Gwinbrian hatte recht gehabt mit ihrer Vermutung: das gesamte Gebäude
war von der Legion umstellt, und sie hatte Amir del'Udrien auf dieses
ungewöhnliche Vorkommnis aufmerksam gemacht. Dieser steuerte auf dem dunklen
Vorplatz nun direkt die diensthabenden Offiziere an.
Morfindel war ganz offensichtlich so überrascht, den Präfekten wohlauf zu
sehen, daß er ganz sein übliches "Effizienz" zur Begrüßung vergaß.
"Präfekt, was für eine freudige Überraschung, Euch unversehrt zu sehen...",
stammelte der verdatterte Inquisitor. "Ich habe sofort die Legion alarmiert,
als ich von dem entsetzlichen Tumult hörte..."
Der Provinzchef schnitt ihm barsch das Wort ab. "Aber es gab keinen Tumult",
sagte er in ruhigem, aber bestimmten Ton. "Die Vorstellung endet gerade ganz
normal. Aber da war ein anderer Vorfall, und es ist sehr verdächtig, daß Ihr
von dem wißt, was ganz offensichtlich geplant war." Amir sprach laut genug,
daß die anwesenden Legionsoffiziere ihn hören konnten. "Festnehmen, den Mann",
befahl er scharf. Zwei Legionäre traten neben den Inquisitor vom Cuel
Ancar.
"Ah, da kommt ja auch schon der andere", bemerkte Lady Gwinbrian, als die
Garde des Präfekten mit dem schwarzgekleideten Fingor im Griff sich näherten.
Die Blicke der beiden Verschwörer traffen sich erkennend.
"Wie Ihr seht, Exzellenz, ist der Attentäter der Sohn meines angeheirateten
Schwagers Finbron del'Xarinn. Der Sohn des Clanchefs der Familie Xarinn,
wohlgemerkt." Sie lächelte dünn, als sie sich Präfekt del'Udrien zuwandte.
"Ich beantrage aufgrund dieses ungeheuerlichen Vorfalles daher offiziell, Lord
Finbron umgehend der Führung des Clans Xarinn zu entheben."
Amir del Udrien strich sich nachdenklich das silbergraue Haar aus der Stirn.
Abwägend bewegte er den Kopf hin und her, während sein Blick von einem
Verschwörer zum anderen wanderte, die sich beide gegenseitig mit haßerfüllten
Blicken maßen.
"Ich glaube, die Amtsenthebung ist unter diesen Umständen statthaft", sagte er
langsam und rieb sich das Kinn.
Zweimal rundete sich in der Zwischenzeit der Mond, ehe die offiziellen
Untersuchungen zu dem vereitelten Anschlag so weit gediehen waren, daß die
Verhandlung des Falles abgeschlossen wurde. Der Vollmond stand tief im Norden,
damit der Mittagsdämmerung gegenüber und schickte seine langen, gelblichen
Strahlen durch den großen Sitzungssaal in der Zitadelle von Ithiljar. Bei der
Wichtigkeit des Vorfalles saßen dem Gericht alle fünf Clanchefs von Ithiljar
vor, Amir del'Udrien in der Mitte auf dem Platz des Oberrichters. Links von
ihm saß Lady Gwinbrian, neben ihr noch der schmächtige Dalon del'Vorond, der
wegen der Gefährdung seiner Tochter Siria ein bewegtes Anklageplädoyer
gehalten hatte. Auf der rechten Seite saßen das immer etwas schmutzig wirkende
Haupt des kohlefördernden Gaiwachclans und ganz außen der selbst bei dieser
Gelegenheit in seinen dicken Banthafellmantel und Hörnerhelm gehüllte Anführer
des Yngrelclans.
Gwinbrian rümpfte leicht die Nase, weil sie sich einbildete, von Dalons Seite
wehe ein leichter Fischgeruch zu ihr herüber. Dann begann Präfekt del'Udrien
das Urteil zu verlesen.
"Beide Angeklagte sind nach eingehender Durchsicht der Akten und erschöpfendem
Vergleich sämtlicher Zeugenaussagen ebenso wie die bereits von einem
nachgeordneten Gericht verurteilten Diener von der Baumeistergilde für des
Hochverrats schuldig zu befinden. Sie haben einen Mordanschlag auf die
Anführer der Provinz geplant und auszuführen begonnen, der in seiner Heimtücke
beispielllos in der Geschichte Ithiljars ist."
Lord Amir machte eine kurze Pause, um würdevoll in den vor ihm liegenden
Pergamenten zu blättern. "Für Inquisitor Morfindel vom Cuel Ancar kann dieses
Gericht kein Strafmaß festlegen", fuhr er schließlich fort, "er ist daher mit
einer Abschrift der Prozeßakten seinen Ordensoberen zur Aburteilung zu
übergeben, sobald die Straßen nach Matochkin Shar im Frühjahr wieder leichter
passierbar sind. Anders sieht es mit dem Angeklagten Fingor, ehemals Mitglied
des Xarinn-Clans, aus. Bezüglich des Strafmaßes übergebe ich hierzu das Wort
an meine geschätzte Beisitzerin."
"Ich danke dem Vorsitzenden", erwiderte Lady Gwinbrian, die die Situation
sichtlich genoß. "Es ist mir eine große Freude, allen anwesenden Adeligen der
Provinz eine Einladung auszusprechen. Im Hause Xarinn wird es wieder einmal
eine unserer berühmten Kunstveranstaltungen geben. Doch diesmal wird es etwas
ganz Besonderes sein. Denn kein gewöhnlicher Sklavenkörper ist es, der mit der
Kunst der Klinge bearbeitet und veredelt wird, sondern der eines Elfen." Sie
sah Fingor mit unverhohlener Schadenfreude direkt in die Augen. "Und es wird
mir eine besondere Freude und meinen Gästen hoffentlich eine Ehre sein, daß
ich diesmal das Kunstwerk persönlich ausführe."