Diane's HomePage > Diane's Literatur
Kontakt Datenschutz

Virus

"Du hast mich gerufen, Mutter." Ich sagte es mit leichtem Stocken zu der hochgewachsenen schlanken Frau mit den schlohweißen Haaren, die regungslos neben einem der verrotteten Sessel auf der ehemaligen Kommandobrücke stand und abwesend auf einen der wenigen noch funktionierenden Panoramabildschirme blickte. Auch wenn sie keine Reaktion zeigte, wußte ich, daß sie mich bemerkt haben mußte.
"Ich bin gekommen, so schnell ich konnte", setzte ich mehr aus Verlegenheit hinzu, "Du mußt verzeihen, ich bin daran noch nicht gewöhnt."
Noch immer blieb die alte Frau bewegungslos wie ein Standbild. Eine für mich peinliche Pause entstand. Betreten sah ich mich in dem muffig-düsteren großen verfallenen Raum um.
Sie paßt hierher, dachte ich, während mein Blick über die toten Konsolen, zerfetzten Kabelstränge und zerbrochenen Wandverkleidungen schweifte. Alles hier ist alt und grau, verstaubt und fremd. Dieses Schiff ist ein Wrack, ein riesiges Wrack, so alt und zerfallen, daß nicht einmal ich sagen konnte, wozu es einmal gedient haben mochte. Und immerhin war ich ktaphianischer Ingenieur. Nun, ich war einmal einer gewesen. Was ich jetzt war, konnte ich nicht genau sagen. Eigentlich sollte ich tot sein, und vielleicht war ich genau das auch auf eine gewisse Weise.
"Julian."
Der Blick der zeitlos jung-alten Frau löste sich langsam und bedacht von dem Abbild des nahen Sterns auf dem verblaßten Display. Ihre Haarsträhnen glitzerten silbrig in dem schwachen Licht der schon lange ausgebrannten Beleuchtungskörper.
"Du kommst, um Fragen zu stellen, mein Sohn. Ich spüre es", sagte sie leise mit ihrer melodischen Altstimme in die staubige Stille.
"Allerdings." Langsam faßte ich etwas mehr Mut. "Ich will wissen, was los ist. Wo es hin geht. Was Du mit mir gemacht hast."
"Ich habe Dich getötet." Die Worte, scharf und leise gesprochen, waren wie ein Peitschenschlag in meinem Gesicht. Ich schluckte schwer.
"Glaubst Du, Du könntest hier noch am Leben sein?", setzte die schlanke Frau etwas sanfter hinzu, "das verbrauchte dünne Zeug, das diese Decks ausfüllt, ist schon lange keine atembare Luft mehr. Und wie lange hast Du schon nicht mehr gegessen oder getrunken? Nein, Sohn, Du bist tot. Ich habe Dich sterben lassen, damit Du ein neues Leben lebst."
"Aber... aber wie kann das sein?" Bilder schossen durch mein Hirn, wie ich mich panisch wehrte gegen sie, tief im Innerern des gigantischen Wracks, das ich erforscht hatte, in Räumen, in denen es noch Luft gegeben hatte. Ich durchlebte noch einmal die Verletzung am Hals, die Angst und Schwäche des Verblutens, die Schwärze des nahen Todes, den bitteren Geschmack von etwas mir eingeflößtem. Einen langen Schlaf voller bedeutungsschwangerer Alpträume.
"Was hast Du mit mir gemacht?", wollte ich noch einmal wissen.
"Ich habe Dir von mir zu trinken gegeben", erklärte sie langsam, "Blut von meinem Blut. Du bist jetzt mein Sohn. Du kannst nichts dagegen tun. Was Du spürst, die Liebe und Verehrung für mich, ein Dir vollkommen fremdes Wesen, ist die Kraft meines Blutes in Deinen Adern. Eine magisch-psionische Kraft, gegen die Du nicht das geringste tun kannst."
Ich keuchte in der dünnen vergifteten Atmosphäre des weiten dunklen Raumes. "Warum?", stieß ich schließlich hervor.
"Wenn Du erst einmal ein paar Jahrhunderte gelebt hast, wirst Du mich verstehen", antwortete die Frau und wandte sich wieder den wenigen noch funktionierenden Geräten der Brückenkonsole zu.
"Jahrhunderte?"
"Du wirst nicht mehr sterben."
"Aber wie... was...", rasten meine Gedanken, in Wortfetzen umgesetzt. Ich fühlte mich nahe daran, den Verstand zu verlieren.
"Dein Leben kommt nicht mehr aus Deinem Körper, Julian", sagte sie mehr zu sich selbst, während sie an den vom Alter verfärbten Sensorfeldern der Konsole herumzufingern begann, "sondern Du nimmst Lebenskraft von anderen Wesen. Du wirst das Blut Lebender trinken, so wie ich Deines getrunken habe. Und Du wirst mit psionischen Mitteln die Kraft aus ihnen ziehen, ohne sie zu berühren, später. Ich werde es Dich lehren."
Die Fingerbewegungen auf dem Sensorfeld wurden eindringlicher. Das Display reagierte nicht.
"Das kann nicht sein", gab ich bestimmt zurück.
Der weißhaarige Kopf drehte sich mir langsam zu, antwortete aber nur mit einem tiefen Blick aus ihren dunklen Augen, der keinen Widerspruch mehr duldete. "Du bist doch Ingenieur", sagte sie nach einer Weile wie beiläufig, "kannst Du das Ding noch einmal hinbekommen?" Ihre langen hellhäutigen Finger wiesen wegwerfend auf die altersschwache Konsole vor ihr.

Ich hatte mindestens einen halben Standardtag mit zerbröckelnden Kabeln, ausgebrannten Nanochips und uralten Schaltfeldern herumgebastelt, Technik, die ich höchstens aus Museumsvitrinen gekannt hatte, ehe die Konsole wieder das erste klägliche Piepen von sich gab.
"Große Gerechtigkeit", schnaufte ich entnervt, "wie alt ist dieses Wrack denn eigentlich?" Das Bild auf dem großen Schirm flackerte und sprang um auf eine Vergrößerung. In mehreren der Nachbarkonsolen zuckten schwache Lichter, müdes rötliches Blinken, das den Ausfall der meisten Schiffssysteme zu signalisieren suchte.
"Ich mußte den Hauptdatenstrang anzapfen und eine Schnittstelle implementieren", erklärte ich nicht ohne Stolz, während ich mich aufrichtete, "das war gar nicht so einfach, die meisten Stränge leiden schon an Rekristallisationserscheinungen. Unglaublich eigentlich, bei diesen niedrigen Temperaturen. Na, jedenfalls habe ich einen Ersatzteil-Quantenprozessor eingesetzt, der jetzt die Signalsteuerung emuliert. Und das ohne Servicedateien."
"Jaja", bemerkte die Frau abwesend, während sie sich über die Sensorfelder beugte. Es knackte protestierend in dem verrotteten Sitzpolster unter ihr.
"Du bist ja unglaublich beeindruckt", murmelte ich verstimmt und wandte mich ab.
"Julian, ich hätte Dich nicht erwählt, wenn ich nicht gemerkt hätte, daß Du gut bist." Nach einer kleinen Pause reichte sie mir einen kleinen zylinderförmigen Gegenstand und sagte knapp: "Das ist für Dich."
Noch ehe ich den Behälter überhaupt berührte, spürte ich auf merkwürdige Weise, was er enthielt, wußte, wie die dicke dunkelrote Flüssigkeit riechen würde, wenn ich ihn öffnete, fühlte die Gier und den Hunger in mir aufsteigen. Ohne es zu wollen, fauchte ich beinahe wie ein wütender Kazinn-Krieger, stieß mit der Zunge gegen die noch immer ungewohnt langen und spitzen Eckzähne in meinem Oberkiefer. Heftig griff ich nach der Blutkonserve.
Meine Mutter lächelte nur dünn. Und wissend.
Das ist lebendes Blut, dachte ich, während es durch meine Kehle strömte, oh Gerechtigkeit, ich möchte lieber gar nicht wissen, ob es hier irgendwo noch eine funktionierende Medizinische Station mit Tiefkühlkammern gibt oder ob das wirklich schwache Signale von Lebensformen waren, die ich in der Hecksektion des zerstörten Schiffes geortet hatte, ehe ich andockte. Vorher, als dieses Wesen noch nicht meine Mutter gewesen war.
"Ah, endlich."
Meine Aufmerksamkeit wandte sich wieder ihr zu.
"Sieh mal, das ist Ganea Sigma 5", wies sie auf den Schirm, der nun mit starker Vergrößerung eine winzige blauweiße Sichel zeigte, und erklärte beiläufig: "Eine Welt, die sehr geeignet ist für unser Vorhaben. Politisch selbstständig, technologisch hoch, aber nicht zu hoch entwickelt und mit einem ausreichenden Forschungstrieb. Dahin lasse ich uns schon seit langem treiben."
"Was haben wir denn vor?", fragte ich vorsichtig.
"Wir werden und von ihnen entdecken lassen", erklärte die schlankgliedrige Frau mit selbstzufriedenem Lächeln, "die werden begeistert sein über ein so aufregendes Fundstück wie dieses Schiffswrack."
"Na, ich weiß nicht. Werden die uns nicht für Raubtiere oder so halten?" Ich dachte unbehaglich an die intensiven Gefühle, die mich beim Trinken gerade eben durchflossen hatten und die mit Sicherheit nur schwer zu beherrschen waren, Gier und der Instinkt zu überleben.
Das Wesen, das ich "Mutter" nannte, erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem zerfallenen Sitz.
"Wer sagt, daß die am Anfang überhaupt merken, was sie sich da eingefangen haben?", spottete sie kaum merklich, "wir werden auf ihrer Welt untertauchen und im Verborgenen wirken. Sieh uns doch einmal an. Ich könnte eine gewöhnliche, früh gealterte Menschenfrau oder eine Psionikerin sein. Du siehst aus wie jeder andere Ktaphianer in Deinem Alter. Nun gut, Du solltest Dir vielleicht angewöhnen, nicht zu heftig zu gähnen oder zu lachen, damit niemand Deine Fänge sieht. Auf den meisten Welten gibt es immer noch Legenden über uns."
"Ich habe noch nie von etwas wie Dir gehört", bemerkte ich.
"Die Legenden sind menschlichen Ursprungs. Wie ich. Du bist Ktaphianer. Bei euch wie bei den meisten anderen Rassen scheint sich das Phänomen nie von sich aus entwickelt zu haben. Obwohl wir das Blut aller anderen trinken können."
"Ich nehme an, Du hast... probiert", vermutete ich vorsichtig.
"Natürlich", sagte die Frau in dem zerschlissenen schwarzen Gewand, "sie sind alle verträglich. Nur Kazinn schmecken ein bißchen eigenartig. Und es ist möglich, die Saat an euch weiterzugeben, wie Deine Existenz beweist." Die noch immer schwach blinkenden Statusanzeigen tauchten ihr blasses Gesicht in ein fremdartig dämmerigrotes Lichterspiel.
"Und wir sollen jetzt also jahrhundertelang da leben und Leute umbringen, um ihr Blut zu bekommen?" Mit heftiger Geste wies ich auf die in der Unendlichkeit des Alls schimmernde kleine blaue Planetensichel auf dem altersschwachen Bildschirm.
"Ach Julian." Die Stimme der schlanken Frau, die mich um Haupteslänge überragte, klang ein wenig tadelnd. "Du mußt sie nicht töten. Du wirst noch lernen, nur soviel zu nehmen, daß sie sich davon erholen. Sonst werden sie zu schnell bemerken, daß wir da sind, und uns bekämpfen. Und obwohl unsere Körper nur schwer ernstlich zu verletzen sind, heißt das nicht, daß man uns nicht vernichten kann. Sie können es und werden es herausfinden, wie, wenn wir sie dazu zwingen."
"Also, wir werden jahrhundertelang da leben und Leute zur Ader lassen", korrigierte ich meine eben geäußerte Vermutung.
"Julian, ich hätte nicht gedacht, daß Du so schwer von Begriff bist." Das glatte junge Gesicht mit den uralten dunklen Augen musterte mich. Schließlich setzte sie zu einer längeren Erklärung an.
"Vielleicht ist der Begriff nicht wirklich passend, aber aber auch wir sind auf unsere Weise eine Art von Lebensform. Und jede Lebensform hat die Neigung, sich auszubreiten."
Sie neigte in einer merkwürdigen Bewegung den Kopf zur Seite und griff an das sichelförmige Amulett, das sie auf der Brust ihres fließenden schwarzen Gewandes trug, drehte sich zur Seite und sprach in die Leere der zerbröckelnden und verstaubten dunklen Kommandobrücke. Plötzlich wirkte sie fremd, wie aus einer fernen Zeit hierher versetzt.
"Wir werden auf Ganea die Saat weitergeben", erklärte sie, "wir werden weitere Kinder haben, so wie Du mein Sohn geworden bist. Und ich werde aller Mutter sein. Die Mutter, der alle bedingungslos durch die Kraft des Blutes ergeben sind wie Du mir schon jetzt. Wir werden auf diese Weise die politische Führungsebene des Planeten unterwandern und ihn so im Verborgenen kontrollieren. Und dann wird die Raumfahrtindustrie für uns Schiffe produzieren, auf denen meine Kinder sich weiter ausbreiten können, weitere Welten auf die gleiche Weise infiltrieren können. Und während der ganzen Zeit wird die restliche Bevölkerung des Planeten uns ernähren."
"Das klingt kühn", erwiderte ich mit Bestürzung, "Du willst also ein Reich errichten. Na gut, Wesen wie wir" - ich stockte kurz bei diesem Wort - "sind vielleicht schwer zu vernichten und geben aus diesem Grund furchterregende Krieger ab. Und hinterhältigere Infiltratoren als Psioniker durch die Kraft des Blutes. Du willst also mit Gewalt und Hinterlist Deine Herrschaft in diesem Teil der Galaxis errichten. Wenn das alles auch so klappt, wie Du Dir das vorstellst."
Die weißhaarige Frau lachte. Zum erstenmal sah ich in ihrem Gesicht die gelblichen Fänge, die mir mein Leben und mein Blut genommen hatten.
"Glaub mir, es würde klappen. Ich habe auf diese Weise geherrscht, genau so, über die Domäne Hyades. Offiziell war ich nur die Konkubine des Vizekönigs, aber ich war die Macht hinter dem Thron. Ich hatte alles, was ich wollte, und habe begriffen, daß Macht nicht wirklich von Wichtigkeit ist. Sie bedeutet genausowenig wie Reichtum oder Ruhm. Ich hatte alles das, vor und nach Hyades, ich war schon Füstin, genauso wie ich auch Sklavin war. Glaub mir, alles, was wirklich zählt, ist Überleben, wenn man in langen Zeiträumen denkt."
"Ich habe nie von Hyades gehört", antwortete ich argwöhnisch. Ich wußte nicht recht, ob ich ihr glauben sollte.
"Die Domäne bestand zu der Zeit, als die Menschenreiche geeint wurden", sagte sie leichthin, "und damals bestand euer Konsulat auch noch."
"Das Konsulat." Mir schwindelte etwas. Das Ktaphianische Konsulat, das verlorene Reich meiner Rasse, war ein beinahe mythologisches Gebilde aus grauer Vorzeit, von dem heutzutage nicht einmal mehr bekannt war, wie lange es überhaupt bestanden hatte und das vor über tausend Jahren untergegangen war. Plötzlich paßte alles zusammen, die Art, in der diese Frau sich bewegte, die Gelassenheit, mit der sie über Macht und Ruhm sprach und sie geringschätzte, die Fremdartigkeit, die manchmal so auffällig an ihr war. Sie mußte Jahrhunderte erlebt, durchlebt haben.
"Mutter, wie alt bist Du", flüsterte ich tonlos. Der Respekt, die Beklemmung angesichts meiner Erkenntnis verschlug mir beinahe die Sprache.
"Ich war schon alt, als die ersten Kolonistenschiffe vom Ursprungsplaneten der Menschheit aufbrachen", bemerkte sie leichthin.
Jahrhunderte, dachte ich, während sich in meinem Kopf alles zu drehen schien, nein, eher Jahrtausende.
"Ich sagte doch, ich hatte so ziemlich alles, was man erreichen kann, habe es verloren und wiedergewonnen und seine Bedeutungslosigkeit erkannt." Die dunklen Augen schienen mich aufzusaugen. "Und deswegen werde ich kein Reich gründen. Es ist belanglos, ob es zehn, hundert oder tausend Jahre bestünde, irgendwann würde es doch wieder untergehen und ich - wir - wären wieder darauf angewiesen, um unser Überleben zu kämpfen. Das ist etwas, was man lernt, wenn man lange existiert. Nichts in diesem Universum ist von Dauer. Existenz ist ein permanenter Kampf ums Überleben. In langen Zeiträumen wird es niemals so etwas wie Stabilität oder Sicherheit geben. Deshalb macht es auch keinen Sinn, Macht oder Reichtum zu erwerben. Auch Du wirst erfahren, daß man sein Herz nicht an solche Dinge hängen soll, denn man wird sie nicht behalten können."
Die Worte, so hart sie auch klangen, kamen ohne Bitterkeit aus ihrem Mund.
"Auch Du wirst das erfahren", wiederholte sie noch einmal, "und Du wirst es begreifen oder daran zugrundegehen. Wie viele vor Dir. Und wie wahrscheinlich die meisten meiner künftigen Kinder. Berauscht von ihrer vermeintlichen Macht werden sie die Herrschaft auf dieser Welt da verspielen. Aber ich werde dann nicht mehr dort sein."
Die schlanke große Gestalt stand aufrecht und ruhig in dem halbdunklen Raum. In den zerschlissenen dunklen Gewändern und mit dem langwallenden weißen Haar wirkte sie seltsam unirdisch, als sie sprach.
"Ich weiß noch nicht, ob ich diesen Schrotthaufen hier instandsetzen lasse oder mir ein neues, kleineres Schiff bauen lassen werde, wenn es soweit ist. Auf jeden Fall werde ich nicht auf Ganea bleiben, sondern mich in irgendeinen Gasnebel zurückziehen. Weißt Du, Julian, Einsamkeit und die Ruhe, ein- oder zweihundert Jahre über das Sein an sich nachzudenken, sind so ziemlich alles, was ich gelegentlich will."
"Ich brauche auch erst einmal Ruhe zum Nachdenken", antwortete ich.
Was für ein Wesen nenne ich da Mutter, fragte ein beinahe wahnsinniger Gedanke in meinem Kopf, während mein Gefühl die innige Verbundenheit mit ihr spürte. Fragen über Fragen an diese uralte Seele in dem zeitlosen Körper vor mir formten sich in meinem Verstand. Aber mein Mund brachte nur ein Wort heraus: "Warum..."
"Das habe ich Dir doch gesagt. Lebensformen breiten sich immer aus. Unglücklicherweise sind diese Körper hier bereits tot." Mit einer unbewußten Geste berührte die Frau ihren blassen Hals, um den sich eine kaum sichtbare Narbe zog. "Und tote Körper erzeugen kein Leben mehr. In gewisser Weise ist die einzige uns verwandte Lebensform ein Virus, das aus sich selbst heraus auch nicht zur Reproduktion fähig ist, sondern in eine Zelle eindringen muß und diese zwingt, Kopien von sich selbst herzustellen."
Sie machte eine weitausholende Geste in Richtung des Bildschirmes, der noch immer Ganea zeigte.
"Wir sind das Virus. Das da ist unsere Zelle. Sie wird Wesen unserer Art hervorbringen und in den Weltraum verstreuen. Und das ist alles, was für uns zählt."
"Von Viren befallene Zellen sterben im allgemeinen recht schnell", entfuhr es mir tonlos, "werden wir diese Welt zugrunderichten?"
"Irgendwann geht sie sowieso zugrunde. Ist es von Belang, ob das ein wenig früher oder später geschieht? Du wirst noch viele Welten zugrundegehen sehen, mein Sohn."
Ich dachte mit aufkeimender Panik daran, wie endgültig das klang. Ein kalter Teil meines Verstandes sagte mir, daß sie rein logisch gesehen recht hatte, meine Mutter. Wenn man lange genug lebt, wird man irgendwann selbst die Sterne verlöschen sehen. Ich erinnerte mich plötzlich an die Legende, in der es hieß, es sei eine Strafe, nicht sterben zu können, und bekam eine vage Ahnung, was damit gemeint war. Mir wurde weich in den Knien, und ich mußte mich an der schiefen Lehne des altersschwachen Sitzmöbels vor der fleckigen Konsole festhalten. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte sich die weißhaarige Frau lautlos zur Tür bewegt und sah zu mir zurück.
"Komm", sagte sie mit einem tiefen Blick aus ihren schwarzen Augen. Noch während sie regungslos dastand und auf mich wartete, flossen meine Gedanken zu Taea. Taea die Große war die Feldherrin gewesen, vor beinahe zweihundert Jahren, deren Züge das erste Galaktische Imperium in die Knie gezwungen hatten. Sie hatte Selbstmord begangen, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, verehrt von Billionen von Wesen der verschiedensten Rassen, die sie befreit hatte. Niemand hatte sie verstanden. Ich tat es in diesem Moment der plötzlichen Klarheit, sah zu meiner Mutter, verstand, was sie und Taea so schwer zu verstehen machte. Beide waren Wesen, die alles erreichen konnten und gerade darum so entsetzlich einsam waren. Weil sie verstanden hatten, daß der Zyklus von Aufbauen und Zerstören niemals enden würde, sich ewig wiederholen würde, selbst die galaktischen Imperien einander ablösen würden, enes nach dem anderen.
Taea hatte das irgendwann kurz vor ihrem Tod gewußt und diese Frau, die jetzt meine Mutter war, wußte es schon lange. Und konnte die entsetzliche Bürde des Wissens mit niemand teilen.
Es knirschte leise, als ich über den mit undefinierten Bruchstücken übersäten zerfressenen Metallboden langsam auf sie zuschritt. Etwas in mir veränderte sich, die Ergebenheit, die mir ihr Blut aufzwang, bekam eine Spur von Wärme und Mitleid.
"Du wolltest mich, weil Du einsam warst", flüsterte ich in ihre dunklen Augen, die mich magisch anzogen, "einen Gefährten, wenigstens für eine Sekunde Deiner Ewigkeit, nicht wahr, Mutter?"
Ihr glattes weißes Gesicht zeigte keine Regung, als sie sich abwandte, um sich durch die halboffene verklemmte Tür nach draußen zu zwängen. Aber ich glaubte trotz des dämmerigen Lichtes bemerkt zu haben, daß ihre uralten Augen ein wenig feucht waren.

*

Der Museumskurator war entrüstet und schnauzte seinen Assisstenten deshalb in ungewohnter Heftigkeit an.
"Das gibt es doch einfach nicht. Das wichtigste Exponat aus unserem Museum kann doch nicht einfach spurlos verschwinden. Ist das denn überhaupt möglich." Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. "Ein Skandal ist das."
"Herr Kurator, ich bin genauso entrüstet wie Sie", versuchte der Assisstent zu beschwichtigen, "ich habe bereits Maßnahmen ergriffen und den Sicherheitschef entlassen. Der Mann wollte mir weismachen, die Vitrine sei von innen geöffnet worden. Völlig absurd."
Der Kurator brummelte nur unverständliche Wortfetzen vor sich hin und trat an die unversehrt dastehende Panzerglasscheibe. Mit ein wenig Glück konnte man den Diebstahl vertuschen, aus Pietätsgründen hatte man den Steinsarkophag nie geöffnet ausgestellt.
Er dachte daran, was für eine wissenschaftliche Sensation der Fund an Bord des Raumschiffwrackes dargestellt hatte. Schon das Schiff selbst war Jahrhunderte alt, man hatte es auf die Zeit des Sezessionskrieges im Ersten Imperium datiert. Und der Sarkophag, den man in einem hermetisch abgeriegelten Raum tief im Inneren des riesigen Wracks gefunden hatte, war noch viel älter, mußte bereits damals eine ungeheuer wertvolle Antiquität gewesen sein. Wahrscheinlich hatte man ihn darum in einem so schwer gepanzerten Raum auf einem Kriegsschiff transportiert.
Und jetzt war er leider leer.
Die Hände des Kurators strichen abwesend über die polierte Bronzetafel an der Panzerglasscheibe, auf der in der umständlichen Sprache der Wissenschaft die Transkription der Symbole auf der flachen Deckplatte des Ausstellungsstückes erklärt war. Es war seine eigene wissenschaftliche Arbeit, er hatte einen Preis der Ganeanischen Akademie der Wissenschaft dafür bekommen.
"Dara, Herrin von Brackenburg", bedeuteten die prähistorischen Runen, was vermutlich ein Namenszug sein sollte. Die Symbole darunter waren vermutlich Zahlzeichen, nicht datierbar, wiesen aber in wahrscheinlich zurück in das Wassermannzeitalter oder sogar noch davor.
Kopfschüttelnd wandte sich der Leiter des Museums von der unversehrt dastehenden Vitrine ab. Wer war so verrückt, eine Leiche zu stehlen? Es konnte nur ein Verrückter gewesen sein.
Eine Leiche ungeschützt zu berühren, bedeutete schließlich ein Infektionsrisiko.

© 2000 Diane Neisius. Erstveröffentlichung im Literaturkreis Cafe Kreuzberg, Göttingen 2000.



© 1998-2006 Diane Neisius