Als der Luftgott Shu die Geschwister Nut und Geb (Himmel und Erde)
voneinander trennte, war die Himmelsgöttin Nut schwanger mit vier Kindern:
Isis und Osiris, Nephtys und Seth. Von Isis und Osiris wird gesagt, daß sie
einander schon im Mutterleib liebten.
Osiris und Isis wurden im Auftrag ihres Vaters Geb König und Königin von
Ägypten, nachdem der Sonnengott Re in den Himmel aufgestiegen war. Es wird
gesagt, daß sie die ersten waren, die die Menschen den Ackerbau lehrten und
ihnen eine Rechtsprechung gaben. Als Ägypten zivilisiert war, machte sich
Osiris auf, auch die anderen Völker zu zivilisieren (er tat sich dabei nicht
als Krieger hervor, sondern wußte durch intelligente Rede und das Spiel seiner
Harfe zu überzeugen). Isis regierte Ägypten in dieser Zeit allein.
Aber Isis war nicht nur eine fähige Königin, sondern auch eine geübte
Magierin. Durch eine List hatte sie sich den Wahren Namen des Sonnengottes
verschafft (was bedeutet, daß sie Macht über ihn besaß), aber es war auch
allein ihre Magie, die neben der Kraft ihres Bruders Seth die Barke des
Sonnengottes Re vor den Mächten des Chaos beschützte, wenn sie nachts durch
die Unterwelt gezogen wurde.
Als Osiris von seiner Mission zurückkehrte, war sein Bruder Seth neidisch auf
seinen Erfolg. Es gibt verschiedene Berichte, wie Osiris zu Tode kam, ob er
durch einen Unfall im Nil ertrank oder ob Seth ihn bei einem Aufstand tötete
und seine Leiche in den Nil warf. Seth ursurpierte die Macht und setzte seine
Schwester Isis gefangen. Sie entkam jedoch und machte sich auf die Suche nach
ihrem toten Bruder und Geliebten.
Isis gelangte auf ihrer Wanderung bis nach Phönizien, wo Osiris angespült und
von Stamm einer Ereike umwachsen worden war. Die Göttin gab sich nicht zu
erkennen, sondern diente der Königin des Landes für einige Zeit als Amme und
erbat sich nur den Stamm des Baumes als Lohn, ehe sie sich auf den Heimweg
machte.
Im Papyrusschilf Unterägyptens versteckt öffnete sie den Stamm und klagte über
Osiris. Mit ihrer göttlichen Macht belebte sie ihn wieder, und sie zeugten den
Falkengott Horus. Es war aber nicht der Wunsch des Osiris, wieder auf Erden zu
leben, sondern er wurde König der Jenseitswelt, damit allen Menschen gleich
ihm die Auferstehung von den Toten garantiert sei.
Seth hatte inzwischen geargwöhnt, daß etwas im Gange war, und sich auf die
Suche gemacht. Er fand den Leib des Osiris, als Isis nicht in ihrem Versteck
war, und zerriß ihn in 14 Teile, die er über Ägypten verstreute. Deshalb wird
auch gesagt, daß Osiris 14 Gräber besitzt. Isis jedoch fand alle Teile und
setzte sie wieder zusammen.
Im Schilf versteckt gebar sie ihren Sohn Horus und zog ihn auf. Horus wurde
ein geschickter Krieger, und als er alt genug war, zog Isis mit ihm vor die
Neunheit der Götter, um für ihn die Krone Ägyptens einzufordern.
Diese als "Streit zwischen Horus und Seth" bekanntgewordene
Gerichtsverhandlung zog sich über Jahrzehnte durch mehrere Instanzen, in denen
Horus auf sein Recht als Erbe und Seth auf seine de-facto-Macht pochten.
Letzten Endes überlistete Isis den Seth und brachte ihn dazu, sein eigenes
Urteil zu sprechen. Da konnte das Gericht der Götter nichts mehr anderes tun
als Horus als König anzuerkennen.
Da ihr geliebter Osiris in der Jenseitswelt geblieben war, schwor Isis, nie
mehr auf Erden zu heiraten. Sie lebte noch eine lange Zeit in Ägypten als
Weise Frau und Magierin, ehe sie in den Himmel aufstieg.
In der Religion des alten Ägypten war diese Mythologie und der mit ihr
verbundene Kult zunächst als einer von vielen nur in Unterägypten verbreitet.
Jedoch wurden Isis und Osiris schnell volkstümlich, und schon im Mittleren und
im Neuen
Reich (in dem u. a. Tut-Ankh-Amun und Ramses regierten) war es üblich, den
toten König mit Osiris gleichzusetzen, damit seine Auferstehung garantiert
war. Dieser Bestattungsbrauch breitete sich nach und nach auf alle
Bevölkerungskreise aus.
Als in der ägyptischen Spätzeit die Griechen nach Ägypten kamen, beeindruckte
sie der Kult von Isis und Osiris sehr. Die Menschen wurden von den Mühen der
Isis, die ihren Geliebten sucht, ihn auferstehen läßt und ihren Sohn entgegen
aller Widrigkeiten aufzieht und ihm zu seinem Recht verhilft, tief berührt.
Isis wurde mit der griechischen Demeter identifiziert und begann auch
außerhalb Ägyptens Bekanntheit zu erlangen.
Im Römischen Reich beschleunigte sich dieser Prozeß noch. Im späten Imperium
war der Kult der Isis neben dem Mithraskult die am weitesten verbreitete
Religion. Tempel der Isis wurden u. a. in London, St. Alban, St. Gallen, Mainz
und Köln gefunden.
Als das Christentum in Rom Staatsreligion wurde, hatte es bereits die Züge der
bis dahin dominierenden Religionen in sich aufgenommen (Auferstehung,
göttlicher Sohn, Verehrung des Lichtes). Die heute in Südeuropa verbreitete
Marienverehrung hat ihren Ursprung direkt im Kult der Isis. Aus der "Isis
Lactans" mit Horus auf dem Schoß wurde Maria mit dem Jesuskind. Es gibt noch
heute sehr alte römische Basiliken, in denen erkennbar ist, daß über einem
Bild der Isis die Hörnerkrone ausgemeißelt wurde und dafür Kreuze hinzugefügt.
Mehrere Liedersammlungen des Mittelalters, darunter die "Cantigas de Santa
Maria" gehen direkt auf alte Hymnen an Isis zurück.
Und heutzutage gibt es nicht nur die Mitglieder der Fellowship of Isis, die
Isis wieder direkt verehren, sondern auch etwa fünf Millionen Katholiken, die
in Maria wenigstens den weiblichen Aspekt Gottes sehen wollen, wenn nicht
sogar die Göttin selbst. Isis lebt!
[1] Regula, DeTraci: Mysteries of Isis.
Llewyn Publ., St.Paul MN, 1996.
[2] Zingsem, Vera: Göttinnen großer Kulturen. DTV, München 1999.
[3] Brunner-Traut, Emma: Altägyptische Märchen.
Bechtermünz Verlag, Augsburg, 1998.
[4] Apuleius von Medauros: Metamorphoses XI:2-13
[5] Plutarch: De Iside et Osiride 12-20
[6] Diodoros Siculus: Historia Mundi I:11-22
[7] Witteyer, Marion: Göttlicher Baugrund.
Initiative Römisches Mainz e. V., Mainz, 2003.