Der ägyptische Jahreskreis

Diane Neisius

Das ägyptische Jahr begann mit dem für die Landwirtschaft wichtigsten Ereignis, nämlich dem Einsetzen des als Nilschwelle bezeichneten Hochwassers des Nils, das das trockene Ackerland bewässerte und düngte. Zeitlich fiel dieses Ereignis etwa mit der ersten Sichtbarkeit des Sirius in der Morgendämmerung zusammen (nachdem dieser unsichtbar gewesen war, weil die Sonne auf ihrer jährlichen Reise durch die Sternbilder daran vorbeigezogen war) und konnte deshalb von der sternkundigen Priesterschaft recht gut vorhergesagt werden.
Der Nil bestimmte auch die Jahreszeiten, die nicht wie bei uns in Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter aufgeteilt waren, sondern in Überschwemmung (Akhet), Aussaat (Proyet) und Ernte (Shomu).
Das ägyptische Jahr hatte 12 Monate zu 30 Tagen. Die restlichen fünf Tage, die Epagomenen (griech. "die Hinzugewonnenen") gehörten zu keinem Monat, sondern standen für sich allein am Ende des Jahres. Sie galten als die Geburtstage der Götter.

Die Umrechnungen der alten Kalendermonate in heutige Daten sind nur ungefähr zu nehmen (und teilweise noch immer Gegenstand heftiger Dispute), ich folge hier der älteren Angabe in [2], bei dem der Jahresanfang auf den 29. August fällt, weil sie besser zu den heute in der westlichen Welt gefeierten Jahreskreisfesten passen. Die Angaben in [1] legen den Jahresanfang auf den 1. August, was dann alle Monate um eins nach vorne schieben würde.

Akhet (Überschwemmung)

Thoth - (etwa September)
Phaophi - (etwa Oktober)
Athyr - (etwa November)
Choiak - (etwa Dezember)

Proyet (Aussaat)

Tybi - (etwa Januar)
Mechir - (etwa Februar)
Phamenoth - (etwa März)
Pharmuti - (etwa April)

Shomu (Ernte)

Pachon - (etwa Mai)
Payni - (etwa Juni)
Epiphi - (etwa Juli)
Mesore - (etwa August)

(die Epagomenen) - (Ende August)


*

Thoth (etwa September)

Mit dem Monat Thoth begann in Ägypten die Nilschwelle und damit das neue Jahr. Das Land wurde überschwemmt und die Jahreszeit Akhet eingeleitet, was das Reisen (zumindest in Booten) einfach machte; die Feldarbeit ruhte, und man machte Besuche und feierte private Feste. Natürlich hatte man in dieser arbeitsfreien Zeit auch viel Gelegenheit zu religiösen Feierlichkeiten.
1. Jahresanfang, Beginn der Nilschwelle;
Neujahrsgruß: "Mögest Du hundert Jahre leben!";
Fest der Anoisis und Egersis im Sarapistempel in Alexandria;
Shu (Horus-Onuris) stößt den Seth hinweg;
Versöhnung zwischen Horus und Seth;
Die Apophisschlange wird vom Feuer gefressen
9. Die Priester verbrennen einen Fisch wegen des Streits zwischen Osiris und Seth
18. Weinlesefest, man fährt auf der Osirisbarke nach Upek
19. Fest des Thoth als Schiedsrichter zwischen Horus und Seth. Shu tritt für Horus ein;
rituelles Essen von Feigen und Honig: "Süß ist die Wahrheit!"
22. Großes Trauerfest für Osiris in Medinet Habu
23. Kampf zwischen Horus und Seth, Sieg der Sonne über ihre Feinde (Herbsttagundnachtgleiche)
26. Kampf zwischen Horus und Seth;
Isis verwundet mit ihrer Harpune den Seth, läßt dann aber den Besiegten und Gefesselten frei, worauf Horus seiner Mutter aus Ärger darüber den Kopf abschlägt

Phaophi (etwa Oktober)

Im gesamten Monat Phaophi wurde auf den für die Rituale benutzten Opferkuchen ein gefesselter Esel abgebildet, um Seth zu kränken und seine magische Macht zu schwächen. Der Monat steht im Zeichen der schwangeren und damit schutzbedürftigen Isis.
6. Isis bemerkt, daß sie schwanger mit Horus ist und hängt sich das "Thet"-Amulett als Schutz um
18. Isis erzählt Thoth von ihrer Schwangerschaft;
sie hängt sich das Amulett um
23. Geburtstagsfest des "Stabes der Sonne"
30. Tag des "Ausfüllens des Auges" in Heliopolis

Athyr (etwa November)

Der Athyr ist der Monat der großen Isisfeiern (Isaia) in Ägypten und der hellenisierten Welt, in der sich der Isiskult verbreitet hat. Da die Feste lokal unterschiedlich gefeiert wurden, sind einige Feierlichkeiten in einem scheinbar sinnwidrigen Zusammenhang.
7. Auffindung der Leiche des Osiris und das Freudenfest "Hilaria" in Rom
8. Fest des Fortganges der Isis (um Osiris' Leichnam zu suchen)
17. Tod des Osiris, Beginn des Trauerfestes bis zum 20.;
Aufstellung einer schwarz verhüllten Kuh als Symbol der trauernden Isis
18. Im 11. Unterägyptischen Gau wird ein Krokodil (als Symbol für den Osirismörder Seth) in Stücke gehackt
19. Auffindung der Leiche des Osiris, die aus Lehm und Körnern geformte Osirisfigur wird (symbolisch durch Isis' Tränen) gewässert
23. Aufteilung Ägyptens zwischen Horus und Seth

Choiak (etwa Dezember)

Der gesamte Monat Choiak steht im Zeichen der Osirispassion. Osiris als Vegetationsgott geht in die Unterwelt (Körner werden in der feuchten Erde vergraben) und feiert seine Auferstehung durch Isis (die Saat keimt).
Das Fest der Auferstehung Osiris' bzw. der (Wieder-) Geburt des Horus fällt zeitlich etwa auf die Wintersonnenwende.
12. "Teni"-Fest in Dendera und an den 14 Gräbern des Osiris;
bis zum 21. Herstellung der Figuren (Leichen) des Osiris und des Chenti-Amentiu aus Körnern und Lehm in Dendera
14. "Pert"-Fest in Dendera
16. Arbeit an der Form für die Lehm-und-Körner-Figur des Sokar in Mendes, Memphis, Diopolis, Apis, Kusae und Ehnas;
Fest des Osiris-Chenti-Amentiu in Dendera: "Die Verwandlung des Gottes"
19. Lehm-Körner-Figur des Sokar wird aus ihrer Form genommen;
"Horus erblickt seinen Vater"
20. In Abydos wird das Leichentuch für Osiris gewebt
21. In Dendera wird die Lehm-Körner-Figur des Osiris aus ihrer Form genommen
22. Trauerfeier für Osiris in Dendera. In Mendes und Dendera werden die Lehm-Körnerfiguren des Osiris und des Chenti-Amentiu zu ihren Gräbern gebracht. Bis 26. klagen Isis und Nephthys (durch Klageweiber symbolisiert) um Osiris
24. Körnerfigur des Osiris wird in Alexandria und Dendera gewässert und balsamiert. Die alten Figuren des letzten Jahres werden verbrannt
25. An der Körnermumie Osiris' wird das Ritual der Mundöffnung vollzogen. In der Nacht beginnen die Bestattungsfeierlichkeiten.
(in Abydos bis zum 30.)
26. Das Fest des Sokar, Prozession in Dendera;
Aufrichtung des "Djed"-Pfeilers;
Fest des Öffnens der Tore und Erscheinens der Gottheiten (Isis und Osiris) in Sais;
Fest des Erdaufhackens (Beginn des Säens);
Große Klage um Osiris;
Der König (als Horus) tötet die Aphopisschlange und den Esel des Seth
27. Tod des Sonnengottes (Wintersonnenwende), später Tod des Osiris;
Suche nach Osiris, Prozession um den Sonnentempel;
(Wieder-) Geburt des Horus (der Sonne)
30. Aufrichtung des "Djed"-Pfeilers in Busiris, Kampf des Horus und seiner Leute gegen Seth und Anhänger;
in Mendes werden die Körnermumien vom Vorjahr (Osiris und Chenti-Amentiu) verbrannt

Tybi (etwa Januar)

Nach den großen Feiern des Vormonates geht es in diesem Monat etwas ruhiger zu, wohl auch, weil die Arbeit auf den Feldern nun eine Menge Zeit in Anspruch nimmt. Mit Tybi beginnt die ägyptische Jahreszeit Proyet oder Aussaat.
7. Ankunft der Isis aus Phönikien, von wo sie die Leiche des Osiris mitbringt;
Auf den Opferkuchen wird das Bild des Seth als gefesseltes Nilpferd dargestellt;
Horus und Behedeti töten Seth
11. Schöpfen von Nilwasser, da der Fluß an diesem Tag einst voller Wein war (Blut der getöteten Aufständischen gegen den Sonnengott Ra)
14. Klage der Isis und Nephthys um Osiris
20. Ernte auf dem Osiris-Feld und Backen der heiligen Kuchen in Dendera und Mendes;
Fest des Pflügens der Erde
25. Tag der Ankunft der Schwalbe (Isis);
Opferfest für die Götter von Edfu, Schlachtung des Nilferds (Seths)

Mechir (etwa Februar)

Die Feldarbeit war in diesem Monat in vollem Gange, vermutlich sind daher keine religiösen Feste überliefert.

Phamenoth (etwa März)

Die Feste in diesem Monat drehen sich hauptsächlich um die Geburt des Horus als Sohn von Isis und Osiris. Zeitlich fallen die Feste in etwa auf unser Oster-, Ostara- oder Frühlingstagundnachtgleiche-Fest.
1. Fest des "Einsteigens des Osiris in den Mond" (Zeugung des Horus)
9. (5. März) Frühlingsfest der Isis Ploiaphesia in Kenchreai bei Korinth, Umzüge mit Verkleidungen und Narren zum Meeresstrand, wo die Priester Opfergaben darbringen [3]
23. Das Fest "Pelusium" zu Ehren des ertrunkenen Sohnes der Königin von Byblos, der Pflegesohn von Isis war
24. Das Fest "Pelusia" in Rom
25. Beginn der Kindbett-Tage der Isis nach der Geburt des Horus (Frühlingstagundnachtgleiche)

Pharmuti (etwa April)

Auch in diesem Monat spielen die Feste zur Geburt des Horus noch eine große Rolle. Es tauchen mehrere Feste auf, wahrscheinlich, weil sie regional an unterschiedlichen Tagen gefeiert wurden.
1. Fest der Hathor und des Sonnenauges in Edfu
2. Geburtstag des Horus, Fest der "göttlichen Geburt des Horus" in Esna
3. Aufführung der Mysterienspiele über die Geburt des Horus und die Geburt der Sonne in Esna
4. Geburtstag des Horus
24. An diesem Tag durfte der Name des Seth nicht ausgesprochen werden
28. Geburtstag des Horus

Pachon (etwa Mai)

Mit dem Pachon beginnt die Jahreszeit der Ernte (Shomu). Da diese Zeit arbeitsintensiv war, sind die religiösen Feste in dieser Jahreszeit wieder dünner gesät.
1. Erntefest zu Ehren des Gottes Min, der mit einem erigierten Penis als Fruchtbarkeitssymbol dargestellt wurde
4. Ehrentag des jungen Horus, er opfert zum erstenmal der Sonne
15. Eine Antilope und ein Schwein werden als Tiere des Seth rituell zerhackt

Payni (etwa Juni)

Im Monat Payni war die Ernte in vollem Gange, wahrscheinlich ist uns deshalb kein weiteres religiöses Fest überliefert. Lediglich wurde in diesem Monat auf den Opferkuchen für die Rituale Seth als gefesselter Esel dargestellt, um seine magische Macht zu schwächen.

Epiphi (etwa Juli)

Dieser Monat steht im Zeichen der Empfängnis des Horus durch Isis. Das Fest taucht wegen lokaler Unterschiede wiederum mehrfach auf, es fällt etwa auf unsere Sommersonnenwende.
1. Fest des Neumondes, genannt das "Fest der glücklichen Ereignisses" (der Schwängerung der Isis durch Osiris);
im Kampf zwischen Horus und Seth wird Seth kastriert
4. Empfängnis des Horus als Sohn von Osiris und Isis-Hathor
9. Empfängnis des Horus als Sohn von Osiris und Isis-Hathor
12. Hathor gebiert in Dendera den Ihi;
Isis fährt auf die Insel Biggeh, um am Grab des Osiris das Totenopfer darzubringen
14. Freudenfest in Edfu: "Osiris ist heil, Seth ist nicht mehr!"
18. Nacht der Tränen Isis', die sie um den toten Osiris vergießt
30. Geburtstag des Horusauges (Udjat)

Mesore (etwa August)

Der letzte Monat des Jahres, wenn die Ernte eingebracht war und man in der größten Hitze auf die Nilschwelle wartete, galt als eine Zeit, in der man sich vor Seth besonders hüten mußte. Während des gesamten Monats opferte man Hülsenfrüchte mit den rituellen Worten: "Die Zunge ist Fügung, die Zunge ist Verhängnis", was vermutlich darauf anspielt, wie Seth von Isis überlistet wurde und sich so in seinem Streit mit Horus selbst verriet.
1. In Edfu werden dem Seth geweihte Tiere (Fische und bestimmte Vögel) zerstampft und dabei ein Fluch ausgesprochen
28. Große Trauerfeier für Osiris
30. Epagomenen-Vorabend. Jeder Ritus, der an diesem Abend durchgeführt wurde, galt als besonders mächtig und für das gesamte folgende Jahr wirkungsvoll

Die Epagomenen (Ende August)

Die Epagomenen gehören zu keinem Monat im ägyptischen Jahr, das sie beschließen. Ihr Name ("die Hinzugewonnenen") geht auf die Sage zurück, daß Thoth einst im Brettspiel dem Mond den 72sten Teil jedes Tages abgewann und daraus fünf Tage machte, die er an das bis dahin nur aus 360 Tagen bestehende Jahr anfügte. Diese Tage gelten als die Geburtstage der Götter.
1. Geburtstag des Osiris
2. Geburtstag des Horus-Harueris
3. Geburtstag des Seth
4. Geburtstag der Isis
5. Geburtstag der Nephthys
6. (Schalttag) wurde in manchen Jahren zusätzlich eingefügt, um die Übereinstimmung des Neujahrsfestes mit der ersten Morgensichtbarkeit des Sirius wieder herbeizuführen

Referenzen:

[1] Regula, DeTraci: Mysteries of Isis. LLewellyn Publ., St.Paul 1996.

[2] Hopfner, Theodor: Plutarch über Isis und Osiris, Bd. I+II. Orientalisches Institut, Prag 1940-1941.

[3] Apuleius von Medauros, Metamorphosen XI.



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