Diane Neisius
für Shani
"Ich muß aber zu einem Heiligen Mann", beharrte die
Frau auf ihrer Forderung, so als sei das allein genug, einem
abgerissenen Weiblein vor dem Tor Einlaß zu gewähren.
"Ich habe doch gesagt, das kostet zwei Kupferstücke Zoll.
Ich kann Euch nicht hereinlassen." Der Soldat lehnte sich
mißmutig auf seine lange Pike und starrte an der Bittenden
vorbei in den strömenden Regen.
"Es ist wichtig, wirklich", setzte sie noch einmal an.
Der Mann wandte sich ihr zu. Das Wasser quietschte in seinen
durchweichten Stiefeln. "Ihr könnt doch den Torzoll nicht
bezahlen...", wiederholte er seine Erklärung, wobei seine
Blicke über das abgetragene graue Kleid der Frau glitten, das
klatschnaß an ihrem Körper klebte und verriet, daß
sie wirklich nichts weiter bei sich trug.
"Die Bauern haben gesagt, daß der Heilige Mann hier in der
Stadt lebt", begann sie mit einem tiefen Blick aus ihren
unergründlichen grünen Augen noch einmal von vorn, "früher
gab es in jedem Dorf einen. Ich muß zu ihm. Es ist wichtig."
Der Soldat überlegte. Wenn es wirklich um ihr Seelenheil
ging...man war ja schließlich kein Unmensch. Außerdem
hieß es doch immer, man solle Mitleid mit den Armen haben. Und
bei diesem Sauwetter hatte der Hauptmann sicher keine Lust, sich
draußen blicken zu lassen. Genaugenommen stand niemand außer
ihm und der Frau hier im strömenden Regen am Stadttor.
Vorsichtig blickte er sich um, ob auch wirklich niemand zusah.
"Also gut. Aber sagt's niemand, daß ich es war",
sagte er schließlich.
Geschmeidig wie eine Forelle schlüpfte die Frau an ihm vorbei
durch das Tor.
Pater Digestius war recht zufrieden, an einem so verregneten Tag
Dienst hier im Pilgerheim tun zu können. Es war warm und trocken
hier, und er genoß das Privileg, die Bittsteller und
Almosensucher durch eine ausgedehnte Wartezeit Demut zu lehren.
Nun, einige der Bettler warteten offensichtlich noch nicht lang
genug, um trockene Füße zu bekommen, wie er bekümmert
registrierte, als er die Tropfenspur bemerkte, die eine in ärmliches
Grau gekleidete blonde Frau hinterließ, die jetzt zu ihm
eingelassen wurde. Nun, die Novizen würden es aufwischen
müssen.
"Seid Ihr der Heilige Mann?", fragte sie ohne Umschweife.
"Es steht Dir nicht zu, ohne Aufforderung zu sprechen",
wies Digestius die Frau zurecht.
Die betrachtete ihn stumm und dachte, daß sich eine Menge
verändert hatte in den letzten Jahren. Früher waren die
Heiligen Männer in die Dörfer gekommen, und sie hatten
weißes Leinen getragen statt schwarzer Wolle. Und sie hatten
sich die Haare nicht abrasiert. Und sie waren sehr viel freundlicher
gewesen.
"Nun, womit kann ich Dir denn helfen", sagte der Pater
schließlich nach einer ihm angemessen scheinenden Pause.
"Es geht um die Quelle bei Stomallagh", sagte die
Bittstellerin mit einem direkten Blick aus ihren tiefen grünen
Augen. "Das Dach neben der Quelle ist eingebrochen und muß
repariert werden. Es bietet keinen Schutz mehr."
"Nun, meine Tochter, was habe ich damit zu tun? Dergleichen ist
Sache der Bauern." Digestius nahm sich vor, der Frau für
ihren respektlosen Blick, der ihn in unbehaglicher Weise an sein
Gelübde erinnerte, eine gehörige Buße aufzuerlegen.
"Die Leute kommen nicht mehr zu der Quelle. Sonst haben sie
immer selbst darauf geachtet, daß alles in Ordnung war. Da
habe ich mich auf den Weg ins nächste Dorf gemacht, um mit ihnen
zu sprechen. Einer der Bauern hat mir gesagt, der König habe es
verboten, daß die Menschen zu den Quellen und Bäumen
gehen, und mir sogar gezeigt, wo die Schriftrolle an die Hauswand
geschlagen war, auf der das geschrieben steht. Es stand tatsächlich
da."
Pater Digestius neigte seinen massigen Körper erstaunt nach
vorne. "Du kannst lesen?"
"Natürlich", antwortete die Frau ohne mit der Wimper
zu zucken.
"Das ist nicht gut. Es steht dem niederen Volk und besonders dem
Weibe nicht zu, in den Schriften der Gebildeten zu lesen",
belehrte er sie.
"Was ist falsch, wenn ich verstehe, was andere mir zu sagen
haben?" Die Blonde, um deren Füße sich von den
Tropfen aus ihren Haaren langsam kleine Pfützen gebildet hatten,
sah unschuldig zu dem Mönch auf seinem Katheder auf.
"Schädliche Ideen könnten Einzug in Deine Gedanken
halten und das Heil Deiner Seele gefährden", erklärte
der Pater mahnend, "tue besser, was weise Männer Dir sagen
und kümmere Dich nicht um Deine aufrührerischen Gedanken."
"Ja, aber... ist das denn wirklich wahr mit dem König?"
Dieses aufsässige Weib ließ nicht locker. "Hat er den
Menschen verboten, zu den Quellen zu kommen?"
Digestius seufzte. "Unser weiser König hat entschieden, daß
die heidnischen Bräuche nicht gut für das Volk seien und
alle zum Gebet in die Häuser Gottes zu kommen haben, wie man
Dich sicher gelehrt hat." Und nun kam der Teil, auf den sich der
dickliche Pater am meisten freute. "Kommen wir nun zu dem, was
Dich mehr Demut lehren soll... "
"Aber die Götter sind doch überall!", rief die
Frau aus und ließ den sorgfältig eingeübten
Wortschwall des Mönches verstummen. Und endlich ging ihm ein
Licht auf, was die Vorhersehung ihm da geschickt hatte: eine
Heidenseele, die es zu retten galt!
"Sag, Weib, hat man Dich nicht das Wort unseres Vaters
gelehrt?", fragte er mit seiner sanftesten Stimme.
"Nein. Wozu auch? Ich habe mein ganzes Leben an der Quelle
verbracht", erklärte sie unschuldig.
Digestius' Finger griffen nach dem kleinen Messingglöckchen auf
seinem Katheder. "Ich glaube, Du solltest mit Bruder Ambrosius
sprechen", erklärte er und läutete zweimal kurz.
"Nun, meine Tochter, dann sage mir zunächst einmal Deinen
Namen."
"Elena", antwortete die Angesprochene, die sich in einem
anderen Raum schließlich wieder vor einem Katheder mit einem
schwarzbekutteten Mönch wiederfand, "obwohl mein
eigentlicher Name Elenwen ist. Aber die Menschen sagen Elena zu mir."
"Nun, Helena", fuhr Pater Ambrosius fort, der im Gegensatz
zu seinem Glaubensbruder groß und hager war, und die Frau
ärgerte sich ein bißchen, daß er nicht einmal ihren
Namen richtig aussprechen konnte, "Du lebst also allein bei der
Quelle auf dem Hügel von Stomallagh. Und wie mir Bruder
Digestius mitteilte, hast Du von irgendjemand das Lesen gelernt und
trotzdem noch nichts vom Wort unseres Herrn gehört."
Die Feder des Paters kratzte bei diesen Worten eifrig über das
Papier, um alle diese Fakten festzuhalten. Die Schäfchen einer
Herde mußten sorgsam registriert werden.
"Wenn Ihr den Befehl des Königs meint...", begann die
Frau, deren graues Kleid noch immer nicht völlig trocken war,
doch Ambrosius schnitt ihr bestimmt das Wort ab.
"Ich rede vom Wort des Schöpfergottes, der Ordnung, die er
uns gab."
"Die Dinge sind, wie sie sind. Es gibt doch schon eine göttliche
Ordnung", erwiderte die Frau.
"Aber die Menschen brauchen Regeln, nach denen sie leben können,
das siehst Du doch sicher ein. So wie der König die weltlichen
Gesetze macht, macht der Gott die geistlichen Gesetze."
"Und die besagen, daß die Menschen nicht zu den Bäumen
und Quellen gehen dürfen?" Auf der Stirn über den
grünen Augen bildete sich eine steile Falte.
"Der
Herr sagt, daß die Menschen ihn in seinen
Gotteshäusern
suchen sollen", erklärte Ambrosius geduldig.
"Wieso ist er
nur in seinen
Häusern, wenn er doch der Schöpfer von allem ist? Das
Göttliche ist doch überall", fragte die Frau mit Namen
Elena keck.
"Natürlich ist er überall."
Der Pater ließ seinen Blick durch die kleine Schreibstube
schweifen, und er blieb nur kurz an der Fußspur hängen,
die von der Tür bis zu dem Heidenweib führte. Ambrosius
beschloß, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
"Der
Herr ist in allem, das ist
wahr. Aber er will nicht, daß die Menschen an ungeschützten
Orten den Einflüsterungen schädlicher Mächte
ausgesetzt sind. Deshalb hat er uns seine Häuser bauen lassen,
wo die Menschen davor geschützt sind und nur das hören, was
sie hören sollen."
"Aha", machte die Frau, nicht
ganz überzeugt.
Aber Ambrosius wußte genau, wie
man die schlichten Gemüter des Volkes bekehrte: mit der Pracht
des Goldes und der Bilder in einem Gotteshaus und dem Licht all der
Kerzen hatten die rohen Götzenbilder der Heiden in der Wildnis
nie mithalten können.
"Nun, Helena", sagte er
milde, "hast Du denn schon einmal eines seiner Häuser
gesehen, in denen das Licht seiner Liebe leuchtet?"
"Nein",
antwortete die Frau
unsicher.
"Wenn Du möchtest, zeige ich
es Dir, und wenn es dann Dein Wunsch ist, kannst Du Dich zum Glauben
an ihn bekehren, und auch Deine Seele wird gerettet werden."
Pater Ambrosius sprach ganz mild und gönnerhaft, denn er wähnte
sich seines Fanges bereits sicher.
Elena hatte ein ungutes Gefühl,
als sie über den gepflasterten Hof schritt. Der Pater schien den
Regen nicht zu mögen, er hatte sich tief in seine schwarze Kutte
verkrochen, als sie hinausgetreten waren. Und nun fiel ihr Blick auf
erleuchtete Fenster, die in der beginnenden Dämmerung anziehend
heimelig wirkten; und doch erzeugten sie in ihr eine warnende
Vorahnung. Stärker wurde das Gefühl, je näher sie dem
Haus des Schöpfergottes kamen. Elena spürte die Magie des
Ortes, eines Glaubens, der ihre eigene Existenz ausschloß.
Abrupt blieb sie stehen.
"Nun komm schon. Du brauchst keine
Angst zu haben", mahnte die väterliche Stimme des Paters
neben ihr, und er faßte sie leicht, aber bestimmt am Ellenbogen
und schob sie vorwärts.
"Ich kann da nicht rein",
sagte sie tonlos nach einem weiteren gezwungenen Schritt
vorwärts.
"Wirf Deinen Aberglauben von Dir.
Dir wird nichts geschehen", erklärte die beharrliche Stimme
des Mönches, der sie weiter vorwärtszog.
"Ich muß
sterben, wenn ich
da reingehe", entfuhr es Elena mit aufkeimender Panik, und sie
versuchte sich aus Ambrosius' Griff freizumachen.
"Unsinn. Dir wird
das ewige Leben
offenbar. Du wirst die Freuden des jenseitigen Himmelreiches
schauen", redete der Mönch auf sie ein, "alles andere
ist Aberglauben. Entsage Deiner Angst und schaue den wahren Gott."
Er zog an ihr wie ein Metzger, der ein widerborstiges Kalb zur
Schlachtbank führte.
"Ich kann da nicht rein",
rief die blonde Frau voller Angst und versuchte sich freizumachen.
Sie zerrte am Arm des Paters, bis ihr zerschlissenes graues Kleid
zerriß. Ambrosius, der von dem unerwarteten Ruck ins Straucheln
kam, grapschte nach ihr, entschlossen, dieses Schäfchen der
Herde des Herrn zuzuführen. Elena rutschte auf den nassen
Steinen aus und fiel hin. Mit einem Satz war der große hagere
Mönch bei ihr und packte den nackten Knöchel, entschlossen,
die Frau notfalls mit Gewalt in das Gotteshaus zu schleifen. Doch die
zappelte und wehrte sich, und als Ambrosius ihren Fußknöchel
mit beiden Händen packte, sah er die Schwimmhäute zwischen
ihren Zehen und verstand endlich. Er zuckte zurück, als habe er
eine glühende Kohle berührt.
"Dämon", zischte
er.
Elena aber rappelte sich auf und und
lief um ihr Leben. Obwohl der Pater die Wachen rief, war niemand in
der Lage, ihre nasse Haut festzuhalten; glitschig wie ein Aal entwand
sie sich jedem Griff und schlüpfte halbnackt durch das Stadttor,
um in den dunkelgrauen Regenvorhängen zu verschwinden.
Pater Ambrosius
aber eilte in das Haus
seines Gottes, um um der Vorhersehung zu danken, daß er dem
Dämon, der ihn versuchen wollte, das Geheimnis seines Versteckes
entrissen hatte.
Der Regen hatte aufgehört, als nur
wenige Tage später eine Prozession schwarzgewandeter Patres sich
singend dem Hügel von Stomallagh näherte. Ambrosius mahnte
den Dämon, sich hinwegzuheben, und als der Zug die kleine Anhöhe
erreicht hatte, von der aus einem steinigen Schacht ein kleines
Rinnsal den kahlen Hang hinabfloß, begannen die Männer
unverzüglich, das heruntergefallene Dach des kleinen
Heidentempels zu Feuerholz zu zerhacken.
Pater Ambrosius beschwor den
Dämon,
diesen Ort zu verlassen, und er war nicht wenig erstaunt, als er die
Stimme Elenas aus dem Quellschacht hörte.
"Geh weg. Laß
mich in Ruhe."
"Böser Geist, weiche von
diesem Ort oder unterwirf Dich dem Urteil des einen und wahren
einzigen Schöpfergottes, auf daß selbst Du noch gerettet
werden kannst", rezitierte der Pater zur Antwort.
"Euer Gott
tötet mich."
"Unsinn. Der Schöpfergott ist
der Gott des Erbarmens und der Liebe. Ergib Dich und Du wirst
gerettet werden."
"Geh weg", flehte die Stimme
der grünäugigen Frau aus dem überquellenden
Brunnenloch.
"Wenn Du nicht hören willst,
dann sollst Du verbannt sein in die Tiefen der Erde", begann der
Mönch eine neue Rezitation. Er machte das Zeichen des Gottes
über dem Loch, denn die Patres, obgleich sie die Magie ihrer
heidnischen Vorgänger öffentlich schmähten, zögerten
dennoch nicht, sich ihrer zu bedienen.
Elena spürte, was geschah und
begann in ihrer Quelle zu weinen. "Laß mich raus",
schluchzte sie.
"Oh nein. Erst wenn Du Dich von
der Finsternis abwendest und dem reinen und wahren Glauben zuwendest,
wirst Du befreit."
Als Antwort kam nur ein weiteres
Schluchzen aus dem Wasser.
Pater Digestius, der dickliche Mönch,
der den Pilgerzug nur unter Ächzen und Schnaufen bewältigt
hatte, trat neben Ambrosius.
"Weib, Du kannst doch lesen",
sagte er barsch und schleuderte mit einem Aufklatschen ein heiliges
Buch in das Wasser. "Dann lies das Wort des Gottes und bekehre
Dich."
In der Quelle wurde es still.
Der herbstliche Wind war kühl über
die nächtliche Kuppe geweht, und so war trotz des Feuerholzes
für die Mönche die Nacht früh zuende. Schon bei
Sonnenaufgang hatten sie ihre Morgenandacht beendet und traten wieder
an das noch immer sprudelnde Quellloch.
"Nun, was ist jetzt",
fragte
Pater Ambrosius fordernd hinein, "wirst Du Dich zur Lehre des
einen und wahren Gottes der Liebe und des Erbarmens bekehren?"
Die
Antwort klang nicht sehr
unterwürfig. "Laß mich raus", forderte Elena
trotzig.
"Erst wenn Du Dich zu unserem
Glauben bekehrst."
"Ihr redet vom Gott der Liebe",
tönte die Stimme aus der Quelle, "aber in eurem Buch lese
ich nur von Gewalt, von Grausamkeiten, von Rache und Entsagung. Nicht
von Liebe. Nur ein vages Versprechen, daß nach eurem Tod alles
anders wird. Aber wie wollt ihr in der Anderen Welt Freuden empfinden
können, wenn ihr euch jetzt nur Kummer und Leid
zufügt?"
"Unser Gott ist ein strenger Herr.
Er prüft uns, ob wir seiner Liebe würdig sind",
erklärte Ambrosius überzeugt.
"Wahre göttliche Liebe ist
bedingungslos, und ihr seid Betrüger, die den Menschen den Spaß
verderben wollen", erwiderte die Frauenstimme.
"Du bist
verstockt. Also sollst Du
verbannt sein für immer. Fahre hinab in die Tiefe der Erde,
finsterer Dämon", rief da der Pater mit lauter
Stimme.
"Laß mich raus!",
flehte Elena.
"Pater Digestius, Ihr werdet den
Schmied aus dem Dorf kommen lassen, auf daß dieses Loch in die
Unterwelt für immer mit einem eisernen Gitter verschlossen
wird."
Aus der Quelle kam das Geräusch
eines haltlosen Weinens. Die Mönche machten alle das Zeichen des
Strengen Gottes in Richtung des Wassers.
Den Leuten aus den umliegenden
Dörfern
aber erzählte man von dem Wunder, das Ambrosius auf dem Hügel
gewirkt hatte, und dem König blieb keine andere Wahl, als den
Mönchen den Hügel für die Gründung eines Klosters
zu überlassen. Später, als man schon vom heiligen Ambrosius
sprach, erzählte man von dem Dämon, den dieser dort
niedergerungen habe und wie er angeblich mit seinem Stab an einen
Felsen geschlagen habe und daraufhin daraus eine Quelle gesprudelt
und ein Rosenbusch erblüht sei. Den Rosenbusch zeigte man im
Kloster noch 600 Jahre lang bis zu seinem Absterben, aber eine
Quelle sprudelte dort nicht mehr; man erzählte, sie sei während
einer großen Dürre versiegt, obwohl sich nicht einmal die
ältesten Leute der Gegend an eine solche erinnern konnten.
Die Zeiten
brachten Kriege und Frieden
über das Land, das Kloster brannte ab und wurde erneuert; ein
neues, größeres Gotteshaus wurde erbaut und schließlich
sogar der abgestorbene Stamm des Rosenbusches durch ein Standbild des
heiligen Ambrosius ersetzt.
Weitere Jahre gingen ins Land, und
schließlich kam das Jahrhundert, in dem alle großen
geistlichen Herrschaften aufgelöst wurden; und so wurde auch das
Kloster auf dem Hügel den Ländereien der nahen Stadt
zugeschlagen. Der Magistrat befand es für gut, in den
Räumlichkeiten des Klosters eine Schule für die Menschen
der umliegenden Dörfer zu begründen. Der Klosterhof wurde
zum Marktplatz, und zur Zeit der Revolution, als aus dem alten
Königreich die Republik wurde, waren die Dörfer schon zu
einer beschaulichen Kleinstadt um und auf dem Hügel
zusammengewachsen.
Dann kamen die großen Kriege, und
wieder brannte ein Teil des alten Klosters; die Schule in ihm wurde
neu erbaut. Und als wieder Frieden war, beschloß man, daß
die kleine Stadt auf dem Hügel nun ein Teil der großen
alten Stadt sein müsse, die im Frieden sehr gewachsen war und
und durch Handel und Handwerk reich geworden war.
Mehr als 1000 Jahre waren
vergangen,
als der Magistrat der großen Stadt, von der der Hügel nun
ein Teil war, beschloß, den Marktplatz und vormaligen
Klosterhof neu asphaltieren zu lassen. Und es traf sich, daß
die Arbeiter beim Graben auf Tonscherben und eine kleine Figur
stießen. Ein herbeigerufener Wissenschaftler erkannte beides
als vorgeschichtlich, und unter der Leitung der Akademie in der
großen Stadt wurde alsbald der halbe Marktplatz umgegraben. Man
fand verkohlte Holzpfosten und und weitere Scherben und Figürchen
und nicht weit davon unter einer steinernen Abdeckplatte ein mit
einem eisernen Gitter verschlossenes Brunnenloch. Die Wissenschaftler
erklärten, es müsse sich um ein altkeltisches
Quellheiligtum handeln.
Der Magistrat der Stadt, anfangs recht
unglücklich über die Verzögerung, erkannte die
zusätzliche Attraktion, die diese Funde darstellten und bezog
Quellloch und keltisches Heiligtum in einen Park ein, der an dem Ort
gestaltet wurde. Die Bürger sammelten Geld und errichteten eine
Rekonstruktion des hölzernen Daches, das zwar dem ursprünglichen
nur wenig ähnelte, aber dafür eine kleine Parkbank
beschattete.
Als man den natürlichen
Quellschacht untersuchte, fand man an seinem Grund noch immer kaltes
reines Wasser über einer Kiesschicht; der einzige Fund aus dem
Schacht waren stark zersetzte Messingbeschläge, die zerfielen,
als man sie näher untersuchte.
Im nächsten Jahr stand das Wasser
wieder sehr hoch in der Quelle. Dann kam die Zeit, in der sich die
jungen Leute in bunte Gewänder kleideten, nichts mehr von
Kriegen wissen wollten und sich wieder mit den Weisheiten der
Altvorderen beschäftigten; und von da an lag an manchem
Sonnenwendfest ganz beiläufig ein kleiner Blumenstrauß an
der Quelle, oder ein kleines Kerzenlicht brannte dort in der Nacht.
Seit
jener Zeit, erzählt man sich,
sickert wieder ein dünnes Rinnsal aus der Quelle und sucht sich
seinen Weg durch den Park; auch eine Frau im grauen Kleid will man
gesehen haben, blond und grünäugig. Sie sei kinderlieb,
sagt man, und liebe es, mit den Kleinen bei Regen in den Pfützen
des Marktplatzes herumzupatschen.
Und die Kinder des Stadtteils
erzählen
sich, daß sie eines Tages während eines starken
Sommergewitters im strömenden Regen vor der Statue des heiligen
Ambrosius auf der anderen Seite des Marktplatzes gestanden und diesem
die Zunge herausgestreckt habe.
© 2003 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.