Artemis kommt von der Jagd


Diane Neisius


Ein nichtsahnender Beobachter hätte nur eine mit Pfeil und Bogen bewaffnete schlanke Frau in einer hellen Ledertunika gesehen, die zielstrebig durch das Unterholz zwischen den hohen Pinienstämmen schritt. Aber die Wesen, die sie sahen, waren weder nichtsahnend noch gewöhnliche Beobachter, und die Frau war auch nicht irgendeine Frau.

Es war Artemis, die ungezähmte Göttin der Natur, und sie kam von der Jagd, heim zu ihren Nymphen, die sie schon erwarteten.

Der Weg stieg leicht an, ehe er in den kleinen Talkessel einmündete, der wie ein natürliches Amphitheater anmutete, mit hohen Wänden aus hellem Kalkstein, überragt noch von den harzig duftenden Pinien, aber der Hauptgrund, warum Artemis und die Nymphen diesen Ort ausgewählt hatten, waren die am Fuß der marmorweißen Wand entspringenden warmen Quellen, die über mehrere Kalkterassen nach unten plätscherten.

Der heimkehrenden Jägerin liefen sogleich mehrere der hier lagernden Feenwesen entgegen, allen voran ihre Lieblingsnymphe Kallisto.

"Artemis", rief sie neugierig, "wie war die Jagd?"

"Ich habe ihn laufenlassen", antwortete die Göttin. Sie streckte sich.

"Was?"

"Ach weißt Du, es war ein harmloser Streuner, der nur zufällig an diesen Waldrand kam."

Die dazugekommenen Nymphen begannen, ihr Pfeilköcher und Bogen abzunehmen, aber Kallisto blieb neugierig.

"Du bist diesem Wolf drei Tage lang auf der Spur geblieben und läßt ihn dann laufen?"

Sie verlor kein Wort darüber, daß Artemis das Tier mit dem ersten Schuß hätte töten können, als sie seiner ansichtig wurde. Die Pfeile der Göttin verfehlten niemals ihr Ziel.

"Ja. Er war schon auf dem Weg fort von hier, war nur neugierig. Es war nicht nötig, sein Leben zu nehmen."

Die Jägerin begann, auch ihre verschwitzte Tunika abzulegen. Ein Bad in den warmen Quellen würde ihr jetzt gutttun.

Kallisto ließ nicht locker.

"Er könnte zurückkommen", gab sie zu bedenken.

"Er kommt nicht zurück. Der Wolf wird in unserem Wald keine Hirsche reißen." Die Stimme der Göttin klang ruhig und bestimmt.

"Trotzdem hättest Du ihn erlegen sollen. Nur zur Sicherheit."

"Ach, Kallisto." Artemis, die sich inzwischen ganz entkleidet hatte, stieg über die ausgebleichten Sinterterassen in das warme Wasser der Quellen. "Komm, leiste mir Gesellschaft."

Während auch die Nymphe in das warme Naß stieg, brachten die anderen schon Kelche mit süßem goldenen Samoswein heran. Artemis schloß die Augen und ließ sich ganz in die wohlige Wärme des Beckens hineingleiten, die Arme und Beine entspannte und angenehm schwer werden ließ.

Nach einer Pause sagte sie schließlich:

"Ich hätte ihn erlegen können, weißt Du. Ich hatte den Pfeil schon auf der Sehne." Die Göttin ließ sich treiben, überließ es ganz und gar dem wärmenden Wasser, das Gewicht ihres Körpers zu tragen. Einzig ihre Hand ruhte leicht an dem silbernen Weinkelch, aus dem sie nun einen kleinen Schluck nahm. Das schwere süße Getränk erzeugte nun auch von Innen ein wohliges Gefühl der Wärme und Entspannung. Kallisto schwieg.

"Aber ich ließ ihn gehen. Wahrscheinlich ist er schon bei seinem Rudel und prahlt mit seiner List und Geschicklichkeit, die ihn einer hartnäckigen Jägerin entkommen ließen."

Ihre Stimme wurde leiser und bekam einen Beiklang von Schläfrigkeit, so sehr gab sich der Wärme und Entspannung in der Quelle hin.

"Natürlich hätte ich ihn in jedem Fall erlegen können, wenn ich gewollt hätte. Du weißt das und ich weiß es auch. Meine Pfeile gehen nicht fehl. Aber die Wölfe wissen das nicht. Sie und besonders der Streuner, der hier war, halten sich für so schlau und überlegen, und deshalb werden sie sich für diesen Wald nicht mehr so sonderlich interessieren. Sie werden sich einfach ein leichteres Jagdrevier suchen."

Artemis ließ sich noch immer mit geschlossenen Augen treiben, jetzt ganz von sanfter Wärme erfüllt. Ihre Gefährtin plätscherte leise mit den Händen.

"Aber wenn ich den Wolf getötet hätte, dann hätte das Rudel möglicherweise Rache zu nehmen versucht. Sie wären hierher gekommen, in Gruppen oder alle auf einmal, und es hätte Aufruhr und Unfrieden gegeben. Natürlich hätte ich auch die anderen Wölfe erlegen können, einen nach dem anderen. Aber die Ruhe und der Frieden dieses Waldes wären dahin gewesen."

"Dann war Deine nicht erfolgreiche Jagd also die bessere Lösung", schloß Kallisto.

Die Göttin lächelte. "Nicht erfolgreich, so mag es es für Außenstehende aussehen", antwortete sie, "aber ich hätte den streunenden Wolf mit Sicherheit töten können und habe es nicht getan. Der Wolf entkam und hält sich deshalb für den Sieger. Und der Frieden des Waldes und dieser Quelle bleibt gewahrt. Sage mir also, wer ist der wahre Sieger, der Wolf oder ich?"

"Aber niemand weiß es", entgegnete da die Nymphe, "was also nützen dann diese Gedanken über einen Sieg, von dem niemand weiß?"

"Ich weiß es, Kallisto", sagte die Göttin Artemis da ganz leise und entspannt, "ich weiß es. Und das genügt mir."


© 2001 Diane Neisius.


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