Kind des Universums

Diane Neisius

für Rís, die Oreade


"... I'm the child next door 3000 miles away"
-- Barclay James Harvest, Child of the Universe,
    © 1974 Polydor Music



Es war Zeit für meinen Abendspaziergang. Ich trat hinaus in die abkühlende Luft, ging der sinkenden Sonne entgegen, zu meinem Lieblingsplatz in dem weiten sanften Tal.
Die Sonne stand schon tief, verdunkelte sich immer mehr in einem tiefen Orangerot, das seinen Widerschein auf die entfernten Hügel warf, in denen ich lebte, spendete die letzte Wärme für diesen Tag. Meine Haut trank ihre verblassenden Strahlen, als mich der abendliche Wind zu umwehen begann, mich frösteln ließ wie stets. Ich lehnte mich an den Baum, den ich zu dieser Tageszeit auf meinem Weg immer aufsuchte, spürte seine rauhe Rinde, hörte das Rascheln seiner hängenden bräunlichen Blätter in der Kühle.
Tief atmete ich ein, spürte die Luft in den Lungen, das Klopfen meines Herzens, als das Blut den Sauerstoff aufnahm, den Puls des Lebens in mir. Mein Blick schweifte über das Tal, die rotbraunen Wälder, hörte das entfernte Plätschern des kleinen Flusses durch sein steiniges Bett.
Ich lebte schon so lange hier. Alles hier war mir so vertraut, jedem Sandkorn hier war ich verbunden, kannte jedes Gewächs in dem weiten Tal, hatte ganze Generationen der verschiedenen Tiere in diesem großen Garten begleitet. All das hier, das ganze Land im orangenen Abendlicht, das die Sonne durch die Wolkenstreifen schickte, war ein Teil von mir. Ich lebte mit dem Land, und das Land lebte mit mir. So war es gewesen, seit ungezählten Jahren schon.
Aber ich wußte, daß es nicht ewig so weitergehen konnte.

Obwohl der Himmel über mir schon tiefviolett wurde, waren noch keine Sterne zu sehen. Auch dies wie immer, und wie immer würden auch später keine zu sehen sein.
Ich dachte daran, wie es wohl früher gewesen sein mochte, als es noch helle Sterne am Himmel gegeben hatte, vor fast unendlich langer Zeit, bevor sie alterten und ausbrannten und starben. Jetzt gab es keine mehr, bis auf die schwächsten roten langlebigen Winzlinge, in den klaren kalten Nächten suchte man vergebens nach den schwachen roten Lichtpunkten, von denen der Verstand wußte, daß sie noch existierten, die aber viel zu schwach waren, um mit den Augen wahrgenommen zu werden. Nur an der Stelle, an der sich das Zentrum des ungeheueren Sternhaufens befand, den das Milchstraßensystem und die Andromeda-Galaxie gebildet hatten, als sie sich vor Jahrmilliarden gegenseitig verschlungen und vereinigt hatten, glühte ein ganz schwacher stumpfroter Schimmer.

Auch sie war wirklich alt, die Sonne, deren wahrer Name Proxima lautete. Niemand konnte sich mehr daran erinnern, was das Wort einstmals bedeutet haben mochte, nur war es klar, daß sie eigentlich nicht meine Heimat war. Genauso wie dieser Planet hier natürlicherweise nicht hingehörte. Um rote Zwergsonnen bilden sich Planeten wie dieser hier, dem Leben zuträglich, nicht von selbst. Aber in den lang vergangenen Zeitaltern unserer Zivilisation hatten wir Maschinen besessen, groß wie kleine Monde, hatten Energien bezwungen, die der ganzer Sonnen gleichkam, hatten Planeten wohnlich gemacht, die von selbst kein Leben tragen konnten. Unsere Raumschiffe hatten unvorstellbare Entfernungen durchmessen, die absonderlichsten Welten entdeckt, damals, im Zeitalter des Lichts.
Bis wir merkten, daß wir unsere Seelen verloren, indem wir immer mehr mit den Maschinen verschmolzen. Ein Geist kann auf eine Maschine übertragen werden, aber er wird dort nicht gedeihen, er wird welken und hungern wie eine Pflanze ohne Erde für ihre Wurzeln. Als unsere Vorfahren das bemerkten, wandten sie sich der Wissenschaft vom Leben zu, entschlüsselten ihre Geheimnisse, verlängerten die Lebenszeit, erschufen künstliche Wesen, nur um zu lernen, daß diese künstlichen Kinder in dumpfem Koma vor sich hindämmerten ohne den Geist, den wir ihnen auf chemischem Wege nicht geben konnten.
Also begann das Zeitalter des Geistes. Wir lernten, daß wir keine Raumschiffe mehr brauchten, um durch das Weltall zu reisen, und auch keine Bioreaktoren, um unsere beinahe unsterblichen Körper gesund zu halten. All das konnte mit den Kräften des Geistes bewerkstelligt werden. Mehr noch, ein Geist, der Fühlung aufnahm zu den Lebewesen seiner Umwelt, konnte ohne große Mühen überleben, mußte nicht mehr kämpfen und vergewaltigen, um sich sein Essen und eine Behausung zu verdienen.
Ich dachte daran, während ich mich an den Baum schmiegte, oder dem Wesen, das auf dieser Welt einem Baum am nächsten kam. Es gab hier immer irgendwelche Pflanzen, die gerade Früchte trugen, und ich spürte, wo in meiner Nähe totes Holz zum Heizen bereitlag. Die Evolution veränderte die Tierwelt langsam über die Jahrtausende, aber es gab immer Tiere, die die Plätze von Vögeln, Fischen oder Fuchs und Hase einnahmen. Wir ließen sie wie die größeren Pflanzen teilhaben an unseren Gedanken, zeigten ihnen das, was ihre kleineren Geister aufzunehmen in der Lage waren. Wir hegten die Gärten, die wir bewohnten, in und mit denen wir lebten, und die anderen Bewohner gaben uns ihre Früchte dafür freiwillig.
Einige von uns hatten, vor ganzen Zeitaltern, diesen Planeten mit unseren telekinetischen Kräften so ausgerichtet, daß es nun kaum nennenswerte Jahreszeiten gab, daß es immer größtenteils angenehm auf ihm war und Pflanzen und Tiere das ganze Jahr über gediehen. Gelegentlich mußten wir das korrigieren, wenn im Laufe von zehntausenden von Jahren unsere kleine Sonne die Umdrehung unserer gewählten Heimatwelt zu weit abbremste oder sie schwächer oder ein wenig heller strahlte. Aber das war eine Arbeit, die ebenso getan wurde wie alle paar Tage Brennholz für die Höhle sammeln zu gehen.

Der Wind wurde stärker, während sich meine Augen mit dem blutroten Licht der untergehenden Sonne füllten, und unwillkürlich umarmte ich den rindigen Stamm neben mir. Meine hüftlangen Haare wehten im Wind - oder das, was man bei einem Menschen als Haare bezeichnet hätte. Zu meinen Vorfahren gehörten mindestens ein Dutzend mehr oder weniger intelligenter Rassen seit dem Zeitalter der Biochemie, als alles möglich schien und selbstherrlich alles Erbgut verschmolzen wurde.
Wir waren die höchstentwickelte Zivilisation in diesem alten Universum. Ich mußte lächeln bei dem Gedanken, der mir hin und wieder bei dieser Gelegenheit kam - was wohl einer meiner Vorfahren von mir gehalten hätte, eines der Wesen, die geglaubt hatten, alles zu beherrschen mit ihrer Technik? Wenn er mich sehen könnte, eine nackte, hagere, lehmverschmierte Gestalt mit filzigen, nach Rauch riechenden Haaren, die in einer rohen Felshöhle hockt und ihn nur stumm aus dunklen Augen ansieht? Hätte er wissen können, daß er, der mich vermutlich als primitive Wilde betrachtet hätte, mir ausgeliefert gewesen wäre wie eine Laus, daß es meine Gedanken nur eine geringe Anstrengung kosten würde, eine winzige quantenmechanische Verschiebung im Reaktorkern seines hunderte von Kilometern großen, laserkanonenbestückten Raumschiffes zu bewirken, um dieses Werk der Technik in einem ungeheueren Lichtblitz vergehen zu lassen?

Der Rand der Sonne war noch sichtbar, als ich eine Berührung im Geist spürte. Jemand suchte mich. Ich erkannte, das es der Geist von Ramunan war, die mich suchte.
"Sianon", dachte sie, und ich sandte ihr das Gefühl des Willkommenseins. Sogleich wurden ihre Gedanken klarer, obwohl sie irgendwo auf dem anderen Kontinent lebte. Für den Geist gibt es keine Entfernung, und das folgende Gespräch spielte sich in unseren Gedanken im Bruchteil einer Sekunde ab. Wirklich gesprochen hatte ich, wenn ich mich richtig erinnerte, seit mindestens tausend Jahren nicht mehr.
"Ich mache mir Sorgen", begann sie, "Sorgen um Dich. Deine Gedanken sind so sehr auf die Ferne ausgerichtet."
"Ach, Ramunan. Das ist lieb von Dir. Aber ich neige nicht zum Suizid", antwortete ich.
"Das haben andere schon vor Dir gedacht."
"Du denkst, ich will meinen Körper aufgeben?"
"Naja. Du könntest im Anfangsstadium der Ablösung sein", bemerkte das Echo der anderen Gedanken.
"Es wäre keine Selbstvernichtung, das weißt Du", gab ich zu bedenken. "Geist ohne Körper kommt in der Natur vor. Es gibt viele Elementargeister. Du kannst es unseren Schwestern nicht verübeln, wenn sie ihren Körper aufgeben und zu ihnen gehen."
"Es haben auch schon welche die Nichtexistenz gesucht."
"Tod nannte man das früher, glaube ich", antwortete ich, "kannst Du es nicht verstehen? Wenn Du Deine Gedanken nicht nur auf diese winzige Welt nahe einer uralten verglühenden Sonne richtest, einer der letzten Inseln von Licht und Wärme, dann siehst Du Tod überall um uns herum."
"Aber wir leben. Diese Welt lebt, solange wir sie hegen. Sie lebt durch uns", gab Ramunans Geist zu bedenken. Ihre Gefühle dabei waren die der Sorge und der Mahnung.
"Und wie lange noch?", wollte ich wissen, "Du weißt, daß die Sonne, so sparsam sie auch mit ihrem Brennstoff umgeht, bald am Ende sein wird. Was dann? Es gibt kaum noch Sonnen, die den Namen verdienen. Auch sie werden bald am Ende sein."
"Es wird immer Wege geben, Licht zu erzeugen", wandte sie ein, "wir werden vielleicht lange arbeiten müssen daran, aber wir könnten noch einmal bei der Bildung einer kleinen Sonne nachhelfen."
"Und in wieviel Milliarden Jahren wird die dann ausgebrannt sein? Sollen wir uns immer mühsamer durch die Zeit schleppen, immer verzweifelter die letzten ausgebrannten Resten dieses siechenden Universums zusammenkratzen, um die nächste Milliarde an Jahren herauszuschinden?"
"Oh." Ramunans Gedanken verrieten nun echte Bestürzung. "Ich wußte nicht, daß es schon so schlimm bei Dir ist."
"Ach, Liebes. Ich will nicht aufgeben. Ich suche nur nach Alternativen", versuchte ich sie zu beruhigen.
"Du klingst aber gar nicht so. Und ich kenne Gedanken dieser Art. Von N'Goma, und ihre bleichen Knochen liegen jetzt vor ihrer Höhle."
"Ich versuche, in anderen Bahnen zu denken. Wir wissen, daß die Natur stets Zyklen durchläuft. Ich denke an den nächsten Zyklus."
In meinem Geist baute ich für meine Partnerin ein Bild auf, das Bild eines Schwarzen Loches, eines dieser Ungetüme im Universum, die unwiederbringlich alles verschlingen. Eines ausgebrannten Kernes eines Riesensternes, der unter seiner eigenen wahnwitzigen Anziehungskraft in sich zusammengebrochen war, die so stark geworden war, daß ihm nichts mehr entkommen konnte. Nicht einmal das Licht, weswegen diese Monster wirklich rabenschwarz aussahen.
"Bitte, nicht das... Sianun, das wirst Du doch nicht machen wollen." Fast klangen die anderen Gedanken flehend.
"Niemand weiß, was hinter einem Schwarzen Loch ist. Raum und Zeit enden an seinen Grenzen. Jenseits der Zeit ist vielleicht ein anderes Universum, ein jüngeres, voll Licht und Leben."
"Bitte tu das nicht. Andere vor Dir hatten die Idee auch schon. Aber keiner ist je wieder zurückgekommen. Sie sind verloren", und ich fühlte die Trauer im Herzen meiner Schwester, während sie das dachte.
"Nichts kann aus einem Schwarzen Loch je wieder zurück. Jedenfalls nicht, solange die hiesigen Naturgesetze gelten. Aber jenseits ist vielleicht alles anders. Wir wissen, daß unsere Naturgesetze nur bis zu seinem Rand gelten."
"Ach, Sianon. Ich werde um Dich weinen, wenn Du gehst. Deine Gedanken sind immer so weit und so schön gewesen, so sehnsüchtig und so tief. Du wirst mir fehlen. Ach Schwester, meine Schwester", rief sie, ehe ihre Empfindungen stark und ungefiltert wurden und sie sich zurückzog.
"Lebwohl, geliebte Schwester", dachte ich.
Die Sonne versank endgültig, und es wurde kalt und dunkel.

Eine Gedankenreise durch das Weltall war für mich immer von neuem faszinierend, daran hatten auch die Äonen meines Lebens nichts ändern können. Körperlos flog ich durch die Leere, ließ die kleine schwach glühende Kohle meiner Sonne weit hinter mir, um die meine winzige Heimatwelt kreiste, auf der in einer Höhle mein schlafender Körper sicher neben einem wärmenden Holzfeuer lag.
Dunkelheit umschloß mich, und die erweiterten Sinne meines Geistes registrierten die vertraute Umgebung innerhalb der beinahe erloschenen Galaxis, das stumpfrote Zentrum, kalte Massenansammlungen, unscheinbare Fünkchen von Sternenasche in weiter Ferne. Ich wußte, daß unter all diesen kreisenden Kadavern auch eines der schwarzen Monster war, unsichtbar lauernd in der Dunkelheit, zu erspüren nur durch seine Anziehungskraft. Ich tastete vorsichtig danach, bemerkte seinen schwachen Sog in weiter Ferne, bewegte mich in Gedankenschnelle darauf zu, hielt noch Abstand, umkreiste seine saugende Schwärze.
Da zog es vorbei vor dem dumpf glühenden Galaxienzentrum, verzerrte das vertraute Bild des rötlichen Nebels wie eine Linse, versuchte sogar seine wenigen Lichtstrahlen noch aufzusaugen, lenkte sie ab und verformte das Sichtbare grob, ein kleiner schwarzer Klecks auf einem aberwitzigen Zerrspiegel. Sogar nach meinem körperlosen Geist begann es zu greifen, zog an mir, lockte mich, seinem Sog nachzugeben und mich fallenzulassen. Ich mußte die rotumrandete Schwärze immerzu ansehen, besann mich. Wenn ich diesen Schritt tat, dann gab es kein Zurück mehr. Nichts entkommt aus dieser Schwerkraftfalle. Niemals. Was immer darin war, hatte mit diesem Universum keine Verbindung mehr.
Ich machte das, was das mentale Äquivalent des Tief-Durchatmens war und umkreiste die unsichtbare dunkle Verlockung weiter, die an mir zog und zerrte. Meine Gedanken waren weit gereist in den Millionen Jahren meines Lebens, hatten die extremsten Orte besucht; ich hatte die Kernfusion im Inneren der Sonne gesehen, hatte die verschmelzenden Atomkerne berührt und hatte mit ihnen gespielt, um zu lernen und zu verstehen. Ich war im tiefen Weltraum gewesen, außerhalb der Galaxienhaufen, wohin kein Licht mehr drang, Jahrhunderte während denen mein zurückgelassener Körper in einer Eishöhle im Gebirge schlief, um zu verstehen, was Kälte und Einsamkeit wirklich bedeuten konnten. Aber an einem Ort wie diesem war ich mit meinen geistigen Kräften noch nie gewesen.
Lebt wohl, Schwestern, dachte ich und ließ mich fallen.

Es war kaum etwas zu spüren, als die rabenschwarze Sphäre auf mich zukam. Die Zeitdehnung wurde stärker, meine Gedanken kamen mit meinem weit entfernt schlafenden Körper außer Tritt, eine vage Beklemmung, die Empfindung eines stockenden Herzschlages, dann nichts mehr. Es wurde dunkel, das schwache rötliche Licht wurde immer schlimmer verzerrt, sammelte sich schließlich in einem dumpfen Punkt weit über mir, ehe es langsam verglühte.
Ich spürte Ansammlungen von Materie, die fielen wie ich, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit immer weiter auf die Mitte zu, in einem Sturz, den nichts aufhalten konnte. Staunend sah ich, wie die Teilchen um mich herum auseinanderbrachen, sich auflösten in ihre Bausteine, aber wie die Kraftfelder, an denen sie klebten, davon nichts erzählen konnten, weil sie schneller mit nach unten gerissen wurden als sie sich ausbreiteten, kleine kraftlose Wellen, die dem gewaltigen Strudel nicht entkommen konnten und daher in ihrer Verzweiflung ihre letzten Botschaften an die Wand des schwarzen Tunnels kritzelten. Ich verstand, daß alles, was an Anziehungskraft von draußen zu spüren war, überhaupt nur dieses im Hals des Schwarzen Loches eingefrorene Gekritzel war, daß im Drinnen alles anders wurde und keine zusammengepreßte Sternleiche den Sturz aufhielt.
Die Teilchen um mich herum barsten immer weiter, wurden immer dichter gepackt und gezogen, immer kleiner wurde der Raum, immer weiter hinein der Sturz. Längst hatten Atome, Atomkerne, ja, sogar die Kernbausteine aufgehört zu existieren, waren zerissen worden in ihre seltsamen Bestandteile, die sich immer dichter zusammendrängten, in immer kleinere Sphären hineinstürzten, zur Mitte, zur Mitte, immer zur Mitte.
Schließlich wurde alles um mich herum kleiner als die Planck-Länge, die unfaßbar winzige Entfernung, innerhalb der die Quantenmechanik ihr großes Lotteriespiel zu spielen beginnt und nichts, was ich kannte, mehr Gültigkeit besaß. Raum und Zeit wurden eins, ihre Dimensionen rollten sich zusammen wie Spiralfedern, tauschten ihre Plätze, narrten mich, als wollten sie mich auslachen. Die Sphäre, die mich so gnadenlos angezogen hatte, entglitt mir, es gab nichts Festes mehr, nur einen wild brandenden Ozean aus formlos kochendem Schaum, in dem die Bläschen herumwirbelten, sich aufblähten und zusammenfielen, Teilchen und Energie in einem plötzlichen Hauptgewinn erzeugten und wieder verschwinden ließen wie in einem Zauberland. Und ich fühlte mich wie eine Alge in dieser Brandung, herumgestoßen, fühlte Angst - sollte ich doch zu weit gegangen sein? Hatte ich nicht Schwestern gehabt, die um mich besorgt waren? Schon löste die Erinnerung daran sich auf in all dem Toben und Brausen.
Doch da berührte mich ein anderer Geist. In diesem Chaos, diesem Ungeformten gab es andere Seelen wie meine, sie griffen nach mir, wir hielten uns gegenseitig wie Schwimmer in einem vom Orkan aufgepeitschten Ozean, um nicht hinweggerissen zu werden ins Ungeformte, wenn gigantische Wogen über uns zusammenschlugen. Wir schwammen im kochenden Schaum des Chaos.
Viele Seelen waren es. Ich fühlte Geister von Tieren, die sterben mußten, als das Schwarze Loch (oder war es ein anderes gewesen?) vor langen Zeitaltern einen bewohnten Planeten zermalmt und verschlungen hatten, und die in ihrer Angst und Verwirrung gar nicht wußten, was geschehen war.
Ich spürte Naturgeister, alt und weise, die wie ich freiwillig hierher gekommen waren, um im Chaosozean des Ungeformten zu schwimmen, und die von meinen Vorfahren Äonen früher vielleicht als Götter betrachtet worden wären. Wir hielten uns aneinander fest, staunten im Sturm des Chaos über all das Nicht-Seiende, das Brodeln des Nicht-Existierens und Nicht-Vergehens. Neugierig begannen einige von uns mit den zusammengerollten herumstiebenden Raum-Zeit-Bläschen zu spielen, sie zu verändern, beobachteten wie sie sich ausdehnten und zusammenfielen.
Eine Idee keimte in uns, wir begannen systematischer zu probieren, setzten Wissen aus unseren verlorenen Existenzen in Kräfte um, zogen Lose in der großen Quantenlotterie, gewannen und verloren. Die Idee wurde konkret, wir besannen uns ein letztes Mal und sahen, daß sie gut war.

Und wir dachten: "Es werde Licht..."

© 2002 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.



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