Gedanken zum "Königreich Gottes"
Diane Neisius
Zu diesem Thema fällt mir spontan ein Satz ein, den Jesus gesagt hat: "Das
Königreich Gottes ist in euch." Ich glaube, daß hierin bereits alles
gesagt ist, was das Thema angeht, und für uns als Anhängerinnen einer
Mysterienreligion wäre dies vermutlich gar nicht erst der Ausgangspunkt für
einen jahrhundertelangen Streit gewesen. Das "Königreich Gottes", das ich für
mich lieber als das "Einssein mit der Göttin" bezeichne, ist etwas, was
zumindest als Anlage in jedem Menschen drin ist. Es muß allerdings erarbeitet
werden, und zwar aktiv von jedem selbst.
Jesus wußte um die geistige Trägheit seiner Mitmenschen und sprach daher in
Gleichnissen (heute würde man sagen, in tiefenpsychologischen
Schlüsselsymbolen). Seine Gleichnisse sprechen davon, daß der Suchende aktiv
arbeiten muß, um des Königreiches teilhaftig zu werden (Gleichnisse der 10
Jungfrauen, der Knechte, die die Zentner Silber mehren). Einfach warten reicht
nicht, dann ist man unnütz.
Die Gleichnisse sprechen auch davon, daß man alles geben soll, um den
"verborgenen Schatz im Acker" zu bekommen. Das ist auch nicht verwunderlich,
denn welche weltlichen Güter wiegen die Erkenntnis schon auf? Obwohl auch hier
per Gleichnis der Hinweis erfolgt, daß die Saat "zwischen Dornen fallen"
kann.
In der Bergpredigt redet Jesus auch immer wieder davon, daß im Prinzip jeder
das Königreich / das Einssein / die Erleuchtung erlangen kann.
"Ihr seid das Salz der Erde... ihr seid das Licht der Welt." Diese Worte sind
ebenso eindeutig wie der schon anfangs zitierte Satz: "Das Königreich Gottes
ist in euch." Alle Menschen tragen das Potential der Erleuchtung in sich. Alle
können es nutzen, wenn sie bereit sind, sich von irdischen Zwängen zu befreien
("alles hingeben, um den Acker [mit dem Schatz] zu bekommen"), und aktiv an
ihrer geistigen Vervollkommnung zu arbeiten (s. o.).
Im Prinzip beschreibt Jesus also nur in den Worten seiner Zeit, was wir als
Anhängerinnen einer Mysterienreligion zu tun versuchen. Es bleibt daher zu
klären, wie die Anhänger der Religion, die sich auf Jesus als Gründer beruft,
mit diesen Aussagen umgehen.
Ich kann hier aus eigener Anschauung schreiben, denn als Kind war ich
katholisch.
Die Interpretation "selig sind, die da geistig arm sind" wurde ebenso wie
andere Stellen der Bergpredigt sinngemäß auf folgendes komprimiert:
"Stelle keine überflüssigen Fragen, sondern glaube einfach und bete
folgsam, dann kommst Du in den Himmel."
Gerade damit bin ich nicht zurechtgekommen, denn ich war mir meines
Intellektes sehr wohl bewußt, stolz darauf und auch überzeugt, daß er mir ein
wertvolles Instrument auf dem Pfad der Erkenntnis sein würde. Warum ich
deshalb nicht in den Himmel sollte, machte keinen Sinn für mich.
Wie schon oben erwähnt, glaube ich nicht, daß diese fromme katholische
Interpretation das ist, was Jesus wirklich meinte. Da er in Bildern sprach und
sich des Mysteriums im Prozeß der Erkenntnissuche bewußt war, wie ich glaube,
meinte er meiner Meinung nach eher, daß weniger vom Verstand dominierte
Menschen es einfacher haben, das Könireich / die Einheit / das Nirvana zu
erlangen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß ein geschulter und dominanter
Verstand, gewohnt zu hinterfragen und Begründungen verlangend, auf einem
spirituellen Pfad mit seinen unvorhersehbaren Stationen, auf denen man sich
sehr oft nur auf die Intuition verlassen kann, einen ziemlichen Hemmschuh
darstellen kann. Mithin können Menschen, die es eher gewohnt sind, sich auf
ihr Gefühl zu verlassen, es einfacher haben, "das Himmelreich zu erlangen" -
was nicht bedeutet, daß es andere nicht können.
Ein anderer Punkt betrifft materiellen Reichtum. Wenngleich schon in der
Bergpredigt hierzu ein Gleichnis gebracht wurde (s. o.), so gibt es noch
andere Stellen, die meiner Meinung nach fehlinterpretiert wurden - Stichwort
Reichtum. Die Stelle mit dem "Kamel und dem Nadelöhr" ist hier von besonderem
Interesse, denn es ist heutzutage bekannt, daß hier ein Übersetzungsfehler
vorliegt (die hebräischen Wörter für Kamel und Schiffstau klingen fast
gleich). Auch im Gleichnis von der Saat und den Dornen wurde ja erklärt, daß
das Hängen am Materiellen dem Weg der Erkenntnis hinderlich sein kann und
wird. Es wird aber explizit nicht gesagt, daß nur ein Leben in völliger
Askese das Tor zum Himmelreich öffnet, wie es historisch in Mittelalter und
Neuzeit immer wieder behauptet worden ist. Und im Zusammenhang mit dem oben
gezeigten - man muß selbst auch aktiv arbeiten an der eigenen Erleuchtung -
macht es überhaupt keinen Sinn, zu behaupten, ein Leben in Askese sei an sich
schon hinreichend, um in den Himmel zu gelangen. Doch auch das ist in
unserem Kulturkreis von Individuen und Gruppen immer wieder behauptet
worden.
Zusammenfassend meinte Jesus mit seinen Worten über das "Königreich Gottes"
meiner Meinung nach folgendes:
- Das Potential zur Einheit mit der Gottheit ist in uns allen enthalten.
- Wenn das Hängen am Materiellen, der "Innere Schweinehund" und der
rationale Verstand des Menschen in ihren Grenzen gehalten werden, bleibt das
Ziel trotzdem erreichbar. Hinreichend ist das allein aber noch
nicht. Sollten sie nicht in Grenzen gehalten werden können, so kann das
Potential zur Einheit allerdings nicht genutzt werden.
- Zum Erreichen des Ziels muß der Mensch aktiv am Prozeß der Einswerdeung
mitarbeiten. Warten allein ohne etwas Schädliches zu tun allein reicht nicht.
Der Weg der Erleuchtung bzw. Einweihung in die Mysterien muß gesucht werden.
Der Mensch muß zur Gottheit kommen, nicht umgekehrt.
29. März 2003 / ~D.N.
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