Studium am Medusa Iseum

von

Rev. Diane Neisius

Es ist vielleicht an der Zeit, etwas über meine Lehrmethoden zu berichten. Ehrlich gesagt ist es mir einigermaßen egal, auf welche Weise eine meiner Studentinnen das Licht herabruft oder den Kreis zieht, solange sie es tut. Um beim Kreis zu bleiben, ich halte es für gegenstandslos zu diskutieren, ob sie ihn singt, tanzt, trommelt, summt oder Reime spricht. Im ersten Semester, in dem ich mit vielen praktischen Übungen die grundlegenden Ritualtechniken lehre, gebe ich ihnen allen sehr viel Raum, ihre eigene Form des Rituals zu finden und mit ihr vertraut zu werden. Ich verlange von meinen Studentinnen nicht, daß die die Rituale der klassischen Orden beherrschen (obwohl sie diese in späteren Semestern noch kennenlernen werden, aber eben auch nur kennenlernen), sondern daß sie die Idee eines Rituals erfassen und selbst mit Leben füllen können. Und meine Studentinnen erweisen sich da stets als sehr erfinderisch, worauf ich stolz bin.
Meine Art der Ausbildung ist sicherlich auch durch mein naturwissenschaftliches Studium geprägt. Naturwissenschaft, insbesondere Mathematik, bedeutet in erster Linie die Suche nach neuen Ideen. Bereits bekannte Methoden sind dabei Werkzeuge, nicht Zweck der Suche; deshalb benötigt eine Mathematikerin zwar Grundkenntnisse der wichtigsten Verfahren, es ist aber gänzlich verkehrt, sich das Gehirn zu verstopfen mit dem Lernen aller bekannten Rechenverfahren. Die stehen in Büchern, wo sie bei Bedarf nachgeschlagen werden können. Die Konsequenz wäre nämlich sonst, daß das Denken sich mehr und mehr auf eingefahrenen Gleisen bewegt. Neue Ideen, neue Erkenntnisse haben damit aber keine Chance mehr, gefunden zu werden.
Das übertrage ich in genau dieser Weise auch auf die magische Ausbildung. Natürlich müssen meine Studentinnen einige grundlegende Techniken erlernen. Sonst lege ich aber von Anfang an wesentlich mehr Wert darauf, daß sie ihre Phantasie und ihre Vorstellungskraft dahingehend trainieren, sich in einer gegebenen Problemsituation eine Lösung kreativ zu erarbeiten. Versatzstücke aus bekannten Ritualen können sie dabei ganz selbstverständlich zu neuen magischen Handlungen zusammensetzten, ja, ich ermutige sie sogar ausdrücklich dazu, ihre eigenen Wege zu gehen.

Der Grund für dieses Vorgehen ist, daß ich von Isis bei der Gründung des Medusa Iseums zwei ganz explizite "Dienstanweisungen" bekommen habe. Die erste lautet, "Lehren heißt Lernen", was für mich bedeutet, daß ich auch an den Reibungen mit meinen Studentinnen wachse.
Die zweite explizite "Dienstanweisung" von Isis lautet, "Jede Priesterin ist ein Samenkorn." Was nicht weniger bedeutet, als daß sie in der Lage sein muß, einen kompletten Kult und eine komplette Liturgie aus dem Nichts zu erschaffen, nur aufgrund der Inspiration durch die Göttin, wenn eine entsprechende Notlage eintreten sollte. Von meiner Seite als Lehrerin muß ich dann im Studium aber explizit die Möglichkeiten schaffen, daß meine Studentinnen das auch erproben können. Exakt das ist der Grund, warum ich sie zu dem oben genannten eigenständigen Vorgehen ermutige und sie keine Übungsreihen "pauken" lasse.
Und ich finde genau in so etwas einen der wesentlichen Grundgedanken der FOI wieder, denn Olivia hat einmal geschrieben: "Jedes Individuum ist in seiner Einzigartigkeit für die Göttin wertvoll." Meiner Auffassung nach darf das aber nicht nur für "einfache" Mitglieder gelten, sondern insbesondere auch für Eingeweihte und Priesterinnen.
Darüberhinaus habe ich an mich selbst den Anspruch, daß ich in jeder Etappe der Ausbildung genau weiß, wie weit meine Studentinnen auf ihrem Weg bei mir gekommen sind (was nicht ausschließt, daß sie nebenbei durch eigene Arbeit noch darüber hinausgehende Fähigkeiten erwerben; das begrüße ich sogar ausdrücklich auch dann, wenn diese Fähigkeiten mir selbst nicht so sehr liegen sollten). Wenn es mir jemals geschehen sollte, daß ich bei einer meiner Studentinnen erst nach der Einweihung in die Osirianischen Mysterien (also fast am Ende der Ausbildung) auf den Gedanken käme, sie sei zur Priesterin nicht geeignet, so hätte nach meiner Auffassung nicht sie, sondern ich als Lehrerin versagt.

Und ich habe auch weiterhin vor, so mit dem Gelehrten wie dem Gelernten umzugehen, daraus mache ich überhaupt kein Geheimnis. Die Hohe Magie bedeutet neben der Einsicht in meine eigene Seelenstruktur für mich auch, die (göttlichen) Fähigkeiten des Erschaffens stetig mehr zu trainieren. Das heißt beispielsweise im Bezug auf andere Menschen, in jeder Situation, und sei sie noch so widrig, ohne Verzug magische Hilfe, Rettung oder Schutz leisten zu können. Dafür muß ich in der Lage sein, mir jederzeit aus dem Vorhandenen neue magische Werkzeuge zu schaffen, und zwar auch ohne jede materielle oder rituelle Voraussetzung. Im Klartext ist das spontan gewirkte gezielte visuelle Magie. Das Samenkorn, das ich als Priesterin bin, keimt einmal mehr.
Meine Seele, mein Höheres Selbst und die Verbindung zur Göttin existieren nun mal nicht für sich allein, sondern verflochten miteinander in einem komplexen Umfeld ständig wechselnder unterschiedlichster Interaktionen auf den verschiedenen Ebenen von Raum-Zeit-Kontinuum und Astral. Deshalb ist für mich das kreative Erarbeiten von Neuem als ständige Übung von so eminenter Bedeutung, das kreative Potential des Selbst das wichtigste Entwicklungsziel. Es ist auf die Magie bezogen letztlich nichts weiter als Anpassungsfähigkeit an die astrale Umwelt, und wir wissen sehr gut aus der biologischen Evolutionslehre, was mit Lebewesen passiert, die ihre Anpassungsfähigkeit verlieren. Sie sterben aus.
Es ist mir sehr wohl bewußt, daß dieses kreative Potential, das einerseits der Anpassung dient, auf der anderen Seite nicht unkontrolliert bleiben kann. Der sprichwörtliche Schmetterling, dessen Flügelschlag auf der anderen Seite des Ozeans einen Orkan auslösen kann, ist mir schon aus meiner naturwissenschaftlichen Studienzeit bekannt. In der Mathematik definiert man so etwas als ein "instabiles Problem" (oder auch "instabiles System"). Diese mathematische Form der Instabilität tritt sehr häufig in der Natur auf, und daher notwendig auch in der Magie. Eine inhärente Aufgabe in der Entwicklung des kreativen Potentials ist es daher unvermeidbar auch, Verantwortlichkeit im Umgang mit den magischen Kräften zu lernen. Beides, Kreativität und Verantwortlichkeit, kann also meiner Auffassung nach nur gemeinsam wachsen. Verantwortlichkeit kann man nicht erlernen, indem man sich immer nur in bereits bekannten sicheren Bahnen bewegt. Das ist der Antrieb meiner Studien, und das ist genau das, was ich an meine Studentinnen weiterzugeben suche, und zwar von Anfang an.


03. September 2004 ~D.N.



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