Es
ist vielleicht an der Zeit, etwas über meine Lehrmethoden zu
berichten. Ehrlich gesagt ist es mir einigermaßen egal, auf
welche Weise eine meiner Studentinnen das Licht herabruft oder den
Kreis zieht, solange sie es tut. Um beim Kreis zu bleiben, ich
halte es für gegenstandslos zu diskutieren, ob sie ihn singt,
tanzt, trommelt, summt oder Reime spricht. Im ersten Semester, in dem
ich mit vielen praktischen Übungen die grundlegenden
Ritualtechniken lehre, gebe ich ihnen allen sehr viel Raum, ihre
eigene Form des Rituals zu finden und mit ihr vertraut zu werden.
Ich verlange von meinen Studentinnen nicht, daß die die Rituale
der klassischen Orden beherrschen (obwohl sie diese in späteren
Semestern noch kennenlernen werden, aber eben auch nur kennenlernen),
sondern daß sie die Idee eines Rituals erfassen und
selbst mit Leben füllen können. Und meine
Studentinnen erweisen sich da stets als sehr erfinderisch, worauf ich
stolz bin.
Meine
Art der Ausbildung ist sicherlich auch durch mein
naturwissenschaftliches Studium geprägt. Naturwissenschaft,
insbesondere Mathematik, bedeutet in erster Linie die Suche nach
neuen Ideen. Bereits bekannte Methoden sind dabei Werkzeuge, nicht
Zweck der Suche; deshalb benötigt eine Mathematikerin zwar
Grundkenntnisse der wichtigsten Verfahren, es ist aber gänzlich
verkehrt, sich das Gehirn zu verstopfen mit dem Lernen aller
bekannten Rechenverfahren. Die stehen in Büchern, wo sie bei
Bedarf nachgeschlagen werden können. Die Konsequenz wäre
nämlich sonst, daß das Denken sich mehr und mehr auf
eingefahrenen Gleisen bewegt. Neue Ideen, neue Erkenntnisse haben
damit aber keine Chance mehr, gefunden zu werden.
Das
übertrage ich in genau dieser Weise auch auf die magische
Ausbildung. Natürlich müssen meine Studentinnen einige
grundlegende Techniken erlernen. Sonst lege ich aber von Anfang an
wesentlich mehr Wert darauf, daß sie ihre Phantasie und ihre
Vorstellungskraft dahingehend trainieren, sich in einer gegebenen
Problemsituation eine Lösung kreativ zu erarbeiten.
Versatzstücke aus bekannten Ritualen können sie dabei ganz
selbstverständlich zu neuen magischen Handlungen
zusammensetzten, ja, ich ermutige sie sogar ausdrücklich
dazu, ihre eigenen Wege zu gehen.
Der
Grund für dieses Vorgehen ist, daß ich von Isis bei der
Gründung des Medusa Iseums zwei ganz explizite
"Dienstanweisungen" bekommen habe. Die erste lautet,
"Lehren heißt Lernen", was für mich
bedeutet, daß ich auch an den Reibungen mit meinen Studentinnen
wachse.
Die
zweite explizite "Dienstanweisung" von Isis lautet, "Jede
Priesterin ist ein Samenkorn." Was nicht weniger bedeutet,
als daß sie in der Lage sein muß, einen kompletten Kult
und eine komplette Liturgie aus dem Nichts zu erschaffen, nur
aufgrund der Inspiration durch die Göttin, wenn eine
entsprechende Notlage eintreten sollte. Von meiner Seite als Lehrerin
muß ich dann im Studium aber explizit die Möglichkeiten
schaffen, daß meine Studentinnen das auch erproben können.
Exakt das ist der Grund, warum ich sie zu dem oben genannten
eigenständigen Vorgehen ermutige und sie keine Übungsreihen
"pauken" lasse.
Und
ich finde genau in so etwas einen der wesentlichen Grundgedanken der
FOI wieder, denn Olivia hat einmal geschrieben: "Jedes
Individuum ist in seiner Einzigartigkeit für die Göttin
wertvoll." Meiner Auffassung nach darf das aber nicht nur für
"einfache" Mitglieder gelten, sondern insbesondere auch für
Eingeweihte und Priesterinnen.
Darüberhinaus
habe ich an mich selbst den Anspruch, daß ich in jeder Etappe
der Ausbildung genau weiß, wie weit meine Studentinnen auf
ihrem Weg bei mir gekommen sind (was nicht ausschließt, daß
sie nebenbei durch eigene Arbeit noch darüber hinausgehende
Fähigkeiten erwerben; das begrüße ich sogar
ausdrücklich auch dann, wenn diese Fähigkeiten mir selbst
nicht so sehr liegen sollten). Wenn es mir jemals geschehen sollte,
daß ich bei einer meiner Studentinnen erst nach der Einweihung
in die Osirianischen Mysterien (also fast am Ende der Ausbildung) auf
den Gedanken käme, sie sei zur Priesterin nicht geeignet, so
hätte nach meiner Auffassung nicht sie, sondern ich als
Lehrerin versagt.
Und
ich habe auch weiterhin vor, so mit dem Gelehrten wie dem Gelernten
umzugehen, daraus mache ich überhaupt kein Geheimnis. Die Hohe
Magie bedeutet neben der Einsicht in meine eigene Seelenstruktur für
mich auch, die (göttlichen) Fähigkeiten des Erschaffens
stetig mehr zu trainieren. Das heißt beispielsweise im Bezug
auf andere Menschen, in jeder Situation, und sei sie noch so
widrig, ohne Verzug magische Hilfe, Rettung oder Schutz leisten zu
können. Dafür muß ich in der Lage sein, mir jederzeit
aus dem Vorhandenen neue magische Werkzeuge zu schaffen, und zwar
auch ohne jede materielle oder rituelle Voraussetzung. Im
Klartext ist das spontan gewirkte gezielte visuelle Magie. Das
Samenkorn, das ich als Priesterin bin, keimt einmal mehr.
Meine
Seele, mein Höheres Selbst und die Verbindung zur Göttin
existieren nun mal nicht für sich allein, sondern verflochten
miteinander in einem komplexen Umfeld ständig wechselnder
unterschiedlichster Interaktionen auf den verschiedenen Ebenen von
Raum-Zeit-Kontinuum und Astral. Deshalb ist für mich das
kreative Erarbeiten von Neuem als ständige Übung von so
eminenter Bedeutung, das kreative Potential des Selbst das
wichtigste Entwicklungsziel. Es ist auf die Magie bezogen letztlich
nichts weiter als Anpassungsfähigkeit an die astrale
Umwelt, und wir wissen sehr gut aus der biologischen Evolutionslehre,
was mit Lebewesen passiert, die ihre Anpassungsfähigkeit
verlieren. Sie sterben aus.
Es
ist mir sehr wohl bewußt, daß dieses kreative Potential,
das einerseits der Anpassung dient, auf der anderen Seite nicht
unkontrolliert bleiben kann. Der sprichwörtliche Schmetterling,
dessen Flügelschlag auf der anderen Seite des Ozeans einen Orkan
auslösen kann, ist mir schon aus meiner naturwissenschaftlichen
Studienzeit bekannt. In der Mathematik definiert man so etwas als ein
"instabiles Problem" (oder auch "instabiles
System"). Diese mathematische Form der Instabilität
tritt sehr häufig in der Natur auf, und daher notwendig auch in
der Magie. Eine inhärente Aufgabe in der Entwicklung des
kreativen Potentials ist es daher unvermeidbar auch,
Verantwortlichkeit im Umgang mit den magischen Kräften zu
lernen. Beides, Kreativität und Verantwortlichkeit, kann also
meiner Auffassung nach nur gemeinsam wachsen. Verantwortlichkeit kann
man nicht erlernen, indem man sich immer nur in bereits
bekannten sicheren Bahnen bewegt. Das ist der Antrieb meiner Studien,
und das ist genau das, was ich an meine Studentinnen weiterzugeben
suche, und zwar von Anfang an.