In der Mitte vor mir wanden sich die knotigen und verdrehten grauen erstarrten
Beinahe-Schlangenleiber zu einem grotesken Thronsitz zusammen, auf dem eine
Gestalt hockte.
"Mutter?", flüsterte ich beim Nähertreten, um sie eingehender zu betrachten,
denn bisher erkannte ich nur ihre schwarze Silouette in der Dämmerung. Meine
Worte verklangen mit schwachen Echos in der Ferne.
"Dunkle Mutter, Tiamat, Nut, Kali, Die Mondin", erwiderte eine Stimme, die so
rauchig, tief und hohl klang, als käme sie aus unendlichen Weiten, aber auch
gleichzeitig den Eindruck von Härte und kristallener Klarheit erweckte, und
fuhr nach einer kurzen Pause, in der sich die Echos in dem schmalen Raum
verloren, fort: "Die Menschen haben mir viele Namen gegeben. Bei der Kultur,
aus der Du stammst, wäre es wohl angebracht, wenn Du mich Lilith nennst, meine
Tochter."
Wieder entstand eine Pause. Ich konnte jetzt mehr von ihr in dem Halbdunkel
erkennen.
Ihr Gesicht war uralt und dunkelbraun verrunzelt, als sei sie eine
Mumie. Augen waren in den dunklen Höhlen nicht zu erkennen, und ihr Haar, das
dem Schädel nur dünn entsproß, wallte in silbergrauen Wellen glitzernd wie
Spinnweben bis auf den Boden herab. Ihren Körper verbarg ein langes, einstmals
kostbares Gewand, das jetzt jedoch löcherig und vermodert erschien. Die
Juwelen, mit denen es bestickt gewesen war, waren zum Teil abgefallen.
Sie drehte mir den Kopf nur sehr langsam zu, so als lähmte sie Alter, Müdigkeit
oder Trance.
"Warum", entfuhr es mir heftig, "warum, Mutter."
"Du bist gekommen, Tochter, und verlangst für Dich die schlimmste Strafe, die
es geben kann: Erkenntnis." Fast schien es, daß sie den Mund zum Sprechen gar
nicht öffnete, hätte ich nicht für einen Augenblick das gelbliche Schimmern
ihrer Eckzähne erhascht. Unendlich langsam kroch ihre magere braune Hand über
ihren Schoß.
"Ich bete nicht zu Dir, und ich komme nicht, um ein Opfer anzubieten als Teil
eines schmutzigen Handels, Mutter", begann ich noch einmal, "ich komme nur, um
zu fragen, warum." Mit gesenktem Blick fügte ich hinzu: "Es ist so schwer."
"Meine Tochter." Noch immer war die Stimme hohl, fern und hart, bekam nun aber
einen zugleich ehrfurchtgebietenden und tröstenden Beiklang. Der uralte Leib
bewegte sich weiter auf seinem verwachsenen Thron, drehte sich mir zu. Ich sah
eine glänzende schwarze Klaue unter dem löcherigen Kleidersaum verschwinden,
und die Bewegung ließ ahnen, daß sich unter den moderigen dunkelblauen
Stofffalten etwas Schuppiges um ihre Beine wand.
"Du hast viel getan", begann die mumienhafte Gestalt ihre Ausführungen, "hast
zum ersten Mal erschaffen, was längst mein war und mir zurückgegeben. Und das,
obwohl Du wußtest, daß am Ende Schmerz und Verlust für Dich stehen würden. Du
hast nicht gezögert. Das wird nicht vergessen werden." Die Worte verklangen
leise in der grauweißen Höhe, als sie eine kleine Pause machte. Ich bemerkte,
daß das, was ich bisher für die Thronlehne gehalten hatte, ihre
zusammengefalteten ledrigen Schwingen waren, uralt, dunkel, verrunzelt und
voller Spinnweben - wenn nicht ihre Haare darüberwallten.
"Und jetzt bist Du hier, um auch noch die Strafe der Erkenntnis für Dich zu
fordern, so groß ist Dein Schmerz." Sie sprach sehr langsam und deutlich, so
daß sie trotz der vielen Echos sehr deutlich zu verstehen war.
"Ich möchte nur verstehen, warum es so wehtun muß, Mutter", antwortete ich
wahrheitsgemäß.
"Manches muß verloren werden, damit es von anderen gefunden werden kann",
führte die Thronende aus, "und Erschaffenes ist immer verloren für die
Erschaffenden. Sieh mich an. Ich bin die Mutter von allem. Ich bin die
Dunkelheit am Anfang, die rein ist, und ich bin die Weiblichkeit, die
schöpferisch ist. Ich bin das Universum, das ich geboren habe. Aber nicht für
mich. In den Legenden bin ich eine Dämonin, ein Ungeheuer, das Böse. Andere
Kräfte sind jetzt mächtiger als ich. Ich bin die Tote Göttin."
Aber warum muß das denn so sein, Mutter", warf ich heftig ein, "ich habe
das
doch an Deiner Stelle getan. Damit Du zu Deinem Recht kommst. Kann man denn gar
nichts ändern?"
Tränen der Verzweiflung rannen mir über das Gesicht. "Soll alles umsonst
gewesen sein? All der Schwerz, alles, was ich verlor?"
"Tochter." Ihre Stimme, keinen Widerspruch duldend, ließ mich verstummen.
"Nichts, was geschieht, ist jemals umsonst. Das komplexe Muster der Zeit ist in
ständiger Veränderung begriffen, und viele weben daran. Das gesamte Universum
verändert sich langsam, aber setig in allen seinen Dimensionen. Es ist möglich,
daß manche Dinge nie geschehen sein werden."
"Jetzt willst Du mir wieder sagen, daß alles gut wird", antwortete ich mit
einem leichten Unterton von Trotz.
Lilith schüttelte nur beinahe unmerklich den Kopf. Sie hatte sich in der
zwischenzeit sehr langsam mir zugewandt und saß nun frontal und bewegungslos
vor mir. Eine lange Pause entstand, in der nur das leise Geräusch eines weit
entfernt wehenden Windes zu hören war.
"Ich werde Dir etwas erzählen über die Magie", sagte sie schließlich.
"Magie, die nichts weiter als ein Fluß von Lebenskraft ist. Energie, die
geformt und gerichtet wird. Du weißt das, meine Tochter."
Ich nickte. Die schwarzen Augenhöhlen starrten mich direkt an.
"Magie ist nicht gut und böse, schwarz und weiß, wie manche Menschen sagen",
sprach sie leise weiter, "der einzige Unterschied, der besteht, ist der, daß
die sogenannten Weißmagier nur ihre eigene Kraft aus sich heraus verwenden. Wer
aber wirklich Großes schaffen will, muß alle Lebenskraft aus anderen Quellen
sammeln.
Als Raub, böse und Schwarze Magie bezeichnen es daher die Weißmagier, die nicht
verstehen, daß die wirklich großen Dinge weder gut noch böse sind, aber daß sie
gegeben werden, und daß dafür auch etwas genommen werden muß.Das tun selbst die
lichten Götter auf diese Weise.
Es bedeutet aber auch, daß Menschen, die sich auf die große Magie einlassen,
lernen müssen, die Lebenskraft anderer zu trinken. Am Anfang geschieht das
automatisch, denn Dein Geist hat den Instinkt zu überleben, und er wird, wenn
er durch größere Werke geleert ist, die Kraft zu trinken beginnen, wo er sie
nur finden kann. Viele trinken so, unbewußt, auch jene, deren Geist durch
Krankheit oder Verzweiflung geleert ist; ja, sogar manche der empfindenden
Tiere tun es, ohne zu merken, was sie da tun."
Eine kleine Pause entstand, in der die Mutter leicht das mumienhafte braune
Gesicht senkte, bevor sie fortfuhr: "Und in dem Maße, in dem die Werke größer
werden, mußt Du immer bewußter die Lebenskraft anderer Wesen trinken. Du wirst
es nicht mehr lassen, auch wenn Du nicht soviel brauchst, und schon bald werden
Deine Mitgeschöpfe merken, daß Du etwas Unheimliches mit ihnen tust und Dich
fliehen. Du bist eine Vampirin, meine Tochter, eine wahre Tochter Liliths, und
alle Magier, die den Namen verdienen, sind das."
"Aber...", wollte ich einwenden, doch sie fuhr mit Bestimmtheit fort: "Oh, ich
weiß, daß Du kein Blut trinkst. Blut ist nur das Symbol für Lebenskraft, aber
die trinkst Du in großen Mengen von anderen."
Ich machte ein betroffenes Gesicht. Es stimmte. Unbehaglich trat ich auf dem
weichen Boden von einem Fuß auf den anderen.
"Und Dein Geist wird fortfahren, es zu tun", erklärte die uralte Gestalt
schonungslos weiter, "in gewisser Weise wirst Du nicht mehr sterben können,
auch wenn Dein materieller Körper zu funktionieren aufhört. Dein Geist wird
nach Leben hungern und weiter die Kraft aus anderen trinken, anstatt daß Dein
Bewußtsein zerfällt und Deine Seele sich neu inkarnieren muß. Auf diese Weise
sind auch die Tiergeister entstanden, die Deine Vorfahren als die ersten Götter
verehrt haben."
Wieder entstand eine Pause, in der nur der ferne Wind heulte.
"Und, meine Tochter", setzte sie mit leiserer Stimme hinzu, die fast bedauernd
klang, "Dein Hunger wird Dich trinken lassen von jedem, der Dir nahe kommt,
jetzt schon, ob Du willst oder nicht, und Dein Geist wird jenen Geist leeren,
bis er ebenfalls aus Überlebensinstinkt von anderen zu trinken beginnt. Deine
Mitwesen werden sagen, daß Du Ungeheuer gebierst, wie Du selbst eines bist,
Tochter Tiamats, weil sie nicht verstehen."
"Ich werde also immer das verlieren, was ich erschaffe", antwortete ich tonlos.
Meine Tränen waren in der feuchten Kühle des hohen Gewölbes noch nicht
getrocknet. "Alles verlieren, alles zerstören, was ich liebe, immer hungrig
sein und immer auf der Suche..."
"Ich sagte doch, Erkenntnis ist eine Strafe", bemerkte die Alte auf ihrem
Thron, "aber Du wolltest erkennen, und nun hast Du Deinen Willen. Du siehst
jetzt das Warum. Kein Opfer, keine Strafe, Dein Verlust, sondern Teil Deiner
Entscheidung. Und ich weiß, es wird noch andere Verluste, andere Schmerzen für
Dich geben, aber vergiß nicht, daß
ich immer bei Dir sein werde."
"Ja, Mutter, ich werde es nicht vergessen", seufzte ich leise. Die Umrisse von
Thron und Gestalt begannen sich aufzulösen. Ihre Stimme wurde hohler und
ferner, als sie zum Abschied noch hinzufügte:
"Und bewahre Dir die Dunkelheit in Deinem Herzen. Denn die Dunkelheit ist das
einzige, was rein ist."
"Mutter...", rief ich. Aber sie war fort. Der Nebel verzog sich.
Weit hinten fiel Tageslicht in die Höhle.
© 1999 Diane Neisius. Erstveröffentlichung im Rahmen der Veranstaltung "48-Stunden-Uni", Universität Göttingen, 1999.