Amun oder Die Matrix

Diane Neisius

Dieser Text ist meiner Freundin Kerstin Vieluf gewidmet und wurde von mir für sie niedergeschrieben zu einer Zeit, als sie sich hartnäckigen Bekehrungsversuchen eines Bekannten ausgesetzt sah.
Nun sollte der Leser nicht glauben, daß Kerstin sich zu irgendetwas, das sie nicht will, einfach so überreden läßt, aber ich fühlte mich als ihre Freundin doch verpflichtet, ihr "Pulver" für die Argumentationskanone zu liefern.

In Liebe und Dankbarkeit für fünf Jahre Freundschaft und ungezählte Lektionen in "Unangepaßtheit".

Imbolc 2001.

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Warum der ägyptische Amun? Nun, über Götter beginnt man am besten zu meditieren, indem man ihren Namen deutet. "Amun" bedeutet sinngemäß "der Verborgene" (sic!), "der in allem ist". Ursprünglich war er nur der lokale (Luft-) Gott von Theben, aber er ist mit dem Aufstieg der Stadt zum Reichsgott Ägyptens geworden. Seine Gestalt dürfte den meisten heutigen Menschen aus den monumentalen Bauwerken des Neuen Reiches bekannt sein, wo er zusammen mit den Pharaonen dargestellt ist. Dergleichen war natürlich politisches Programm damals. Weltanschaulichen Gedanken ist solche Darstellung nicht so nützlich.
Die Ägypter waren ein sehr sinnenfreudiges Volk, was aus der Fülle und der Fertigkeit der Dokumente, die sie hinterlassen haben, hervorgeht. Noch in den Gräbern stellen sie die Freuden des Lebens dar, und es gibt eine antike Geschichte, in der die Zecher in einer Taverne beim Betrachten einer mumienförmigen Weinkanne sagen: "Komm, laß uns den Wein genießen. Wir werden nur zu bald auch so aussehen!" (wie eine Mumie, also ein Leichnam, nämlich).
Und auch die Schrift in ihrer ganzen Grammatik ist reich an metaphorischen Ausdrücken, und mich hat es nicht überrascht, daß sie so lange in Bildern geschrieben haben, auch noch, als es schon praktischere Schriftsysteme gegeben hat.

Was nun die Volksfrömmigkeit angeht, so sind uns an Amun, den "Guten Gott", viele Gebete überliefert, die nicht unbekannt erscheinen dürften, um Gesundung, glückliche Wiederkehr oder kleine Alltäglichkeiten betreffend ("Lieber Amun, mach, daß ich meine Miete bezahlen kann"). Es gibt Unmengen von Skarabäen und anderen Amuletten mit dem (teilweise verschlüsselten) Namen von Amun, und der Handel mit derlei Devotionalien dürfte ein lukrativer Nebenerwerb für die großen Tempel gewesen sein. Und rief natürlich Scharlatane auf den Plan, die mehr oder weniger gute Imitationen anboten. Die menschliche Natur hat sich in den letzten Jahrtausenden nicht wirklich geändert.
Gleichwohl ist das nicht alles. Innerhalb der Tempel sah das Ganze etwas anders aus, aber das hat auch mit der magischen Natur der Hieroglyphen zu tun.

Schreiben, insbesondere das volle Bilderalphabet, konnten nur die Priester. Und man muß sich ein bißchen mit der Natur der Schrift beschäftigen, um zu sehen, wie wichtig das ist. Die Ägypter glaubten nämlich, daß der Akt des Schreibens eine magische Verbindung zwischen dem realen Objekt und dem Schriftzeichen herstellt (eine Vorstellung, die es so ähnlich z. B. noch im Voodoo gibt). Tatsächlich vermied man es, Schriftzeichen zu verwenden, die gefährliche oder "böse" Tätigkeiten darstellten; nach Möglichkeit wurde dergleichen umschrieben oder, wenn es gar nicht anders ging, unvollständig oder verstümmelt dargestellt, um nur ja keine Gefahr auf den Schreiber oder sein Anliegen herabzurufen. Und es ist auch deshalb von so großer Bedeutung, mit welchen Schriftzeichen genau beispielsweise ein Name geschrieben war. Ein harmlos scheinender Brief konnte von einem wüsten Fluch bis zu einem Liebeszauber alles sein, je nachdem, mit welchen Zeichen er geschrieben war. Dennoch war insbesondere den gebildeten Priestern durchaus klar, daß die Verbindung rein symbolischer Natur war. Ob ich nun ein steinernes Bild des Gottes aufstelle oder das Wort


schreibe, ist in gewissem Maße egal, weil beide nur eine symbolisch - magische Verbindung zu der Kraft Amun, dem "Verborgenen", "dessen wahre Gestalt niemand kennt", herstellen.
Die Symbolik Amuns geht aber noch weiter. Als Luftgott im Windhauch präsent, ist er für die Ägypter die Lebenskraft schlechthin (für sie war damals die Luft das magische Element, aus dem das Leben kam, was möglicherweise auch nur eine Metapher für die immer präsente, aber unsichtbare Kraft der Geisterwelt ist). Es gibt lange religiöse Traktate aus dem Altertum darüber, daß es im Prinzip ja nur eine magisch - göttliche Grundkraft gibt, nämlich Amun, der in seinem Wesen aber viel zu komplex ist, um von den Menschen durchschaut zu werden, gleichwohl aber in allem präsent ist und sich deshalb den Menschen in der Maske kleinerer Götter offenbart.
In Griechenland gingen die Philosophen sogar noch weiter und definierten Zeus/Jupiter (-Ammon) als ein sehr transzendentes allgemeines Prinzip, in dem die ethischen und moralischen Prinzipien der Welt begründet liegen und das deshalb für den Alltagsgebrauch nur von beschränktem Wert sei.

Den Menschen außerhalb der Tempel durfte man mit dergleichen aber nicht kommen. Es wundert mich auch überhaupt nicht mehr, daß praktisch alle antiken Religionen Mysterienkulte waren, bei denen nur die "Eingeweihten" Zutritt zu den inneren Heiligtümern der Tempel hatten. Denn nicht einmal, wenn eine transzendentalere Sicht der Dinge von höchster Stelle verordnet wurde, war das wirklich durchzusetzen.
Als beispielsweise der Pharao Echnaton verkündete, es gebe nur eine einzige magisch-göttliche Quelle der Lebenskraft, deren Symbol die sichtbare Sonnenscheibe sei, waren nur wenige Jahre nach seinem Tod alle seine Reformen rückgängig gemacht, er selbst als Ketzer verunglimpft, verfehmt und aus der offiziellen Geschichtsschreibung gestrichen. Ich möchte an dieser Stelle sinngemäß und leider nur aus dem Gedächtnis aus einem großen religionswissenschaftlichen Werk , dessen Name mir leider entfallen ist, zitieren:

"Vielleicht war es deshalb, daß die Menschen der Spätantike sich dem Nazarener zuwandten. Sie konnten mit den traditionellen Göttern und ihrem philosophisch-transzendentalen Symbolgehalt nichts mehr anfangen. Ein allgemeines moralisches Prinzip kann man nicht für das eigene persönliche Mißgeschick verantwortlich machen. Sie wollten lieber den Zimmermann aus Galiläa, der 'einer von ihnen' war, der Leiden und Hinrichtung auf sich genommen hatte, damit jeder einzelne von ihnen trotz seines schlechten und untugendhaften Lebens einmal in den Himmel kommen würde..."

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Es waren diese Gedanken, zu denen sich alles in einer stillen Stunde beim Ausschneiden und Einkleben der Bilder von Tempelruinen, Obelisken und Säulen kondensiert hat.
Vielleicht gibt es zwei Entwicklungsstadien menschlicher Seelen, von denen die Mehrzahl wirklich lieber den Papa will, der sie an die Hand nimmt und den sie per Gebet anbetteln können, ihnen den Hintern abzuwischen, wenn sie mit Bauchschmerzen auf dem Klo sitzen. Und es gibt die älteren Seelen, die verstanden haben, daß das göttliche Prinzip komplexerer Natur ist und nicht explizit personifiziert werden kann, daß es, um eine Metapher zu benutzen, zwar das Spielfeld ist, aber nicht die Regeln verbiegen kann und will und schon gar nicht von sich aus wegen eines Mitspielers den Flug des Balles verändert. Deshalb ist für uns Zeus-Jupiter-Amon-Re die große Matrix, aber für andere ist er der große Papa, der im Himmel sitzt und alles sieht und düster die Augenbrauen zusammenzieht, wenn sie Sonntags nicht in die Kirche gehen.
All das gibt einen deutlichen Hinweis darauf, daß die Menschen sich in der Tat seit Tausenden von Jahren nicht verändert haben. Vielleicht wird es auch immer so bleiben, daß einer Mehrheit, die keine Eigenverantwortung will, sondern einfache Rezepte zum Seligmachen vorzieht, eine Minderheit gegenübersteht, die sich als spirituell eigenverantwortlich agierendes Teil des Ganzen sieht. Die antike Lösung, das Innen und das Außen der Tempel so scharf zu trennen, war meiner Meinung nach gar nicht so schlecht.
Warum soll schließlich jeder Depp "in den Himmel" (oder eine bessere Inkarnation) kommen können, ohne sich wenigstens ein paar Gedanken zu machen, ein bißchen Mühe zu geben? Seelen entwickeln sich schließlich aus sich heraus, durch Eigenverantwortlichkeit und nicht durch nachgekochte Rezepte.

© 2001 Diane Neisius



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