Interessiert man sich speziell für Inanna, dann lohnt es sich mit der Stadt
Uruk zu beginnen, wo ihr Hauptkultort war und sich eines der ältesten Zentren
der sumerischen Kultur befand [1,2]. Inanna, die alle möglichen Eigenschaften
und Titel trug, war zu Beginn der mesopotamischen Hochkultur eine der
bedeutensten Gottheiten überhaupt, doch in den jüngeren Götterlisten rutscht
sie in der Hierarchie immer weiter nach unten [2]. Doch zeigt schon allein die
Schreibung ihres Namens, was sie ursprünglich war: (N)in-an-na bedeutet
"Herrin des Himmels", was besser in die Triade der Hauptgötter Sumers paßt als
der männliche An, (wörtlich nur: "der Himmel" als Personifikation), der mit
En-lil (wörtlich: "Herr der Luft"; das schließt die Erdoberfläche ein) und
En-ki (wörtlich: "Herr der Erde"; damit ist hier das unterirdische Reich
gemeint) sonst immer genannt wird. Möglicherweise ist Inanna also schon früh
aus dieser obersten Triade ausgegliedert worden, ohne jedoch ihren Namen zu
verlieren.
Sie hat in der offiziellen mesopotamischen Theologie also kontinuierlich an
Rang verloren, obwohl eine ganze Reihe an Gebeten und persönlichen Widmungen
an sie auch aus neuerer Zeit bekannt sind; nicht zuletzt findet sich
Inanna/Ishtar ja in den großen Gottheiten der klassischen Antike wie Isis,
Astarte, Aphrodite und möglicherweise sogar Freyja wieder [6], um nur einige
zu nennen. Sie dürfte
also in der "Volksfrömmigkeit" recht tief verankert gewesen sein, wenn auch im
offiziellen Gebrauch die herrschenden Götter andere waren - vielleicht, weil
in einer zunehmend patriarchaleren Welt eine echte Himmelskönigin nicht mehr
recht ins politische Programm paßte.
Es ist also interessant zu fragen, wie die "ursprüngliche" Inanna aussah.
Nimmt man, da aus der archaischen Periode Schriftzeugnisse fehlen,
Ausgrabungsergebnisse zu Hilfe, so stellt man fest, daß die Keramik aus Uruk
nicht sehr unterschiedlich ist von der der el'Obed-Kultur, die sich auch
weiter nördlich in Kurdistan findet und als einer der Vorläufer des frühen
Sumer gilt [5]. Hier findet man auch durchweg weibliche Idole und
Göttin-Figuren, die den steinzeitlichen Figürchen und den maltesischen
Muttergottheiten nicht unähnlich sind. Es liegt also nahe, daß eine
matriarchalisch organisierte Stammesgemeinschaft von Norden in die
mesopotamische Tiefebene eingewandert ist, sich im Gebiet um Uruk
niedergelassen und ihre Göttin mitgebracht hat, als die verschiedenen Völker
miteinander zu dem verschmolzen, was scheinbar so plötzlich als "die Sumerer"
aus dem Nichts auftaucht.
Die Theorie einer matriarchalisch orientierten Göttin paßt auch recht gut zu
dem, was uns die Teile der sumerischen Mythologie über Inanna erzählen. Zum
einen ist sie Herrin über die Lebenskraft an sich, denn sie läßt die Pflanzen
gedeihen, zum anderen regiert sie Liebe, Leidenschaft und Krieg, sie hat die
"me's", die göttlichen Gesetze, in ihren Händen, sie setzt Könige in der
"Heiligen Hochzeit" ein und stößt sie bei Nichtgefallen auch leicht wieder vom
Thron. Sie läßt nicht einen Augenblick Zweifel daran, wer die Herrin im Haus
ist. Auch die Titel, mit denen sie bedacht wird, nennen sie "Herrin der
Götter" (s. o.!), und sie wird sogar mit Ninhursag, der Geburtsgöttin, die
Himmel und Erde geboren hat, identifiziert [2].
Obwohl sie der Liebe recht hemmungslos frönt, ist sie verheiratet, doch ihr
Gemahl Dumuzi (der nur von ihren Gnaden überhaupt zum Gott wurde) ist nirgends
als der Vater ihrer Kinder Lulal und Schara (vgl. Osiris und Seth!) genannt,
sondern dies ist vielmehr der personifizierte Himmel An [2].
Wir haben also eine starke, unabhängige und sehr selbstbestimmte Göttin vor
uns, die ihre Geschicke recht zielstrebig in die Hand nimmt und sogar für ein
mögliches Scheitern vorsorgt, wie in "Inannas Absteig in die Unterwelt" und
"Inanna und Enki" berichtet wird. Fast wie ein Bruch erscheinen dagegen die
(literarisch nichtsdestoweniger sehr schönen) Liebeslieder für Dumuzi, in der
Inanna, ganz folgsame Tochter, sich flugs um ihre Mitgift (!) kümmert und
ihren Widerstand gegen die Heirat mit Dumuzi auf Zureden des Bräutigams recht
schnell aufgibt. Einerseits zeigt das natürlich die beiden Seiten der
Leidenschaft dieser Göttin, andererseits sind hier schon deutlich
patriarchalische Sitten eingearbeitet.
Eine so starke und selbstbestimmte Göttin mußte einem sich entwickelnden
Patriarchat natürlich ein Dorn im Auge sein. Die kriegerische Göttin wurde in
ihre Schranken gewiesen, und es gab eine regelrechte Auseinandersetzung
zwischen den Göttern, die in den Mythen ihre deutlichen Spuren hinterlassen
hat.
Es ist schon recht erstaunlich, daß eine so mächtige Göttin, deren einer
Hauptaspekt der Kampf ist, so wenig Geschichten hinterlassen hat, in denen von
ihren Kämpfen berichtet wird. In "Gilgamesh und der Himmelsstier" steckt sie
sogar eine ziemlich dumme Niederlage ein - sie hatte Gilgamesh die Feindschaft
erklärt, nachdem dieser sich geweigert hatte, mit ihr die Heilige Hochzeit zu
vollziehen, die ihn nach dem alten Recht erst als König von Uruk legitimiert
hätte. Stattdessen zieht er als eine Art mesopotamischer Rambo durch die
bekannte Welt, um "Ungeheuer" zu erschlagen und zu plündern, was das Zeug
hält, und sich dafür auch noch als großer Held feiern zu lassen. Es fällt
nicht schwer, hinter dieser Abenteuergeschichte ganz massive gesellschaftliche
Auseinandersetzungen versteckt zu sehen, die vielleicht auch mit der ganz
realen politischen Macht der Inanna-Hohepriesterin zu tun hatten. Die
Tatsache, daß es in Sumer eine nur von gebildeten Frauen und Priesterinnen
gesprochene Hochsprache, das "Emesal", gab [2,6], ist ebenfalls ein deutlicher
Hinweis in diese Richtung.
Der Kampf der Götter wird aber an einer anderen Stelle noch viel deutlicher,
nämlich im altbabylonischen Schöpfungsmythos "Enuma Elish". Die Göttin, die
hier agiert, ist Tiamat (sumerisch die Geburtsgöttin Ninhursag, mit der
Inanna auf einigen Götterlisten aber identifiziert wird), die sogar im
biblischen Kontext noch als "tehom" auftaucht [7].
Wir lesen hier von einer richtiggehenden Schlacht, in der Tiamat und ihre 12
Mitstreiter natürlich niedergeworfen werden; der siegreiche Luftgott Marduk
(sumerisch Enlil) spaltet ihren Körper in Himmel und Erde und erschafft somit
das Universum.
Die frühere sumerische Fassung erwähnt davon, zumindest was die Schöpfung
selbst angeht, nichts. Hier ist es Ninhursag, die Himmel und Erde gebiert.
Gleichwohl ist Enlil, ihr Enkel, ein rechter Tunichtgut, der sich flugs der
Erde bemächtigt und nebenbei auch noch eine Göttin vergewaltigt - wofür am
Ende auch noch sie (und nicht er) als Ereschkigal dauerhaft in der Unterwelt
landet.
Nichtsdestoweniger sind die Spuren eines Kampfes zwischen den Göttern in den
Mythologien erhalten geblieben. Auch der griechische Göttervater Zeus erobert
den Himmelsthron erst nach Aufstand und Krieg gegen die Titanen, und selbst
noch in der Bibel ist vom Aufstand der Engel gegen den Gott Jehovah die Rede,
der aber selbstredend mit dem Höllensturz des aufmüpfigen Lucifer beendet
wird.
Und ganz selbstverständlich sind natürlich die in der Unterwelt eingesperrten
oder verbannten Engel oder Götter die "Bösen", die nur ihre gerechte
Bestrafung empfangen haben.
Es ist ein wenig verdächtig, daß diese ganze Entwicklung seit einigen
Jahrtausenden stringent abläuft, daß es am Anfang weibliche Gottheiten waren
(ehe weibliche Gottheiten ohnehin nur noch Nebenrollen spielten), die
unterworfen wurden und daß gleichzeitig alles Weibliche in den Gesellschaften
Stück für Stück dämonisiert wurde, eine Entwicklung, die mit den Auswüchsen
des "christlichen" Mittelalters ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, als die
weiblichen Reize als "teuflisch" galten.
Und parallel dazu wurde die Göttin, wenn man sie schon nicht per Dekret
abschaffen konnte, immer mehr entschärft - wenn wir einmal beim alten Orient
bleiben, so war Ishtar noch kriegerisch, was bei Astarte schon abnahm, und
Aphrodite und noch mehr Venus ist dann nur noch Liebesgöttin, die nicht einmal
mehr ihre Liebespfeile selbst abschießt, sondern dafür einen kleinen Jungen
bemüht. Maria und Fatima schließlich wird nicht einmal mehr Göttlichkeit
zugestanden, sondern sie sind "Magd des Herrn" oder gar nur "Schwiegertochter
des Propheten".
Und alles, was dem recht fest im Sattel sitzenden Patriarchat gefährlich
werden kann - weibliche Lust, Unabhängigkeit vom Patriarchen, "Eigensinn",
Sinnlichkeit, naturnahe weibliche Weisheit und Magie, wird schlicht und
einfach als "böse" gebranntmarkt und in die Unterwelt verbannt, wo "mann" es
nicht mehr sieht. In der christlich-jüdisch-muslimischen Hölle brennt also im
Prinzip nichts anderes als Inannas Feuer der Leidenschaft.
(Ob die heutigen selbsternannten "Satanisten" da nicht sehr überrascht
wären?)
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den ältesten mythologischen Texten deutliche Spuren einer Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaftsformen Matriarchat und Patriarchat zu finden sind. Wenngleich die Schrift erst erfunden wurde, nachdem das Patriarchat schon das Übergewicht hatte und daher die Mythologie der Göttin nicht mehr unverfälscht ist, läßt sich die ältere Gesellschaftsform mehr als nur deutlich ahnen. Der "Kampf der Götter", den die Göttin damals verloren hat, hat also dennoch nicht dazu geführt, daß sie völlig entrechtet und vergessen wurde - sie ist gewissermaßen nur ein weiteres Mal in die Unterwelt abgestiegen.
24/4/2002 D.N.
Referenzen:
[1] Kramer, S. N.:
Die Geschichte beginnt mit Sumer
List Verlag, München 1959.
[2] Reallexikon der Assyriologie Bd. V
Stichwort Inanna/Ishtar
[3] Heidel, A.:
The Babylonian Genesis
Chicago 1951.
[4] Pritchard, J. B.:
Ancient Near Eastern Texts (Supplement)
o. O. 1969.
[5] Cassin, E., Bottero, J., Vercoutter, J.:
Weltbild Weltgeschichte Bd. 2 ( = Fischer
Weltgeschichte Bd. 2)
Die Altorientalischen Reiche I
Weltbild Verlag, Augsburg 1998.
[6] Zingsem, V.:
Göttinnen großer Kulturen
dtv, München 1999.
[7] Striewe, C. M.:
Tiamats Töchter
Polarlicht 7(2001),
auch:
http://www.geocities.com/medusa_iseum/library/drachen.html
Zum Thema Ishtar/Inanna lesenswert auch:
Heiser, I.:
Die Göttin Ishtar
http://www.geocities.com/medusa_iseum/library/ishtar.html