Mythologie der Göttin unter der Lupe

Diane Neisius

Auf der Suche nach der "ursprünglichen" Mythologie, die alle späteren entscheidend mitbestimmt hat, sind dem oder der Interessierten gewisse Grenzen gesetzt. Diese Grenzen sind ganz einfacher Natur und durch die zur Überlieferung notwendige Erfindung der Schrift gegeben: vorher hat einfach niemand etwas aufschreiben können. Nun ist die älteste bekannte Schriftform, der Vorläufer der Keilschrift, in Sumer vor rund 5000 Jahren aufgetaucht, in einer Gesellschaft, die schon in einer hochentwickelte Stadtkultur lebte. Es darf daher nicht verwundern, wenn die in dieser Zeit erstmals niedergeschriebenen Göttermythen also keinesfalls ursprünglich sind, sondern bereits Konglomerate aus mehreren Geschichten, wie beispielsweise bei "Inannas Abstieg in die Unterwelt" [2]. Auch das altbabylonische "Enuma Elish" fällt in diese Kategorie [3,4], was natürlich den Ruhm der damaligen Dichter, mehrere prosaische Vorlagen zu einem literarischen Gesamtepos zu verschmelzen, nicht mindern soll. Gleichwohl muß diese Art von Filter beachtet werden, wenn es um die nicht schriftlich überlieferten Vorläufer dieser Mythen gehen soll.

Interessiert man sich speziell für Inanna, dann lohnt es sich mit der Stadt Uruk zu beginnen, wo ihr Hauptkultort war und sich eines der ältesten Zentren der sumerischen Kultur befand [1,2]. Inanna, die alle möglichen Eigenschaften und Titel trug, war zu Beginn der mesopotamischen Hochkultur eine der bedeutensten Gottheiten überhaupt, doch in den jüngeren Götterlisten rutscht sie in der Hierarchie immer weiter nach unten [2]. Doch zeigt schon allein die Schreibung ihres Namens, was sie ursprünglich war: (N)in-an-na bedeutet "Herrin des Himmels", was besser in die Triade der Hauptgötter Sumers paßt als der männliche An, (wörtlich nur: "der Himmel" als Personifikation), der mit En-lil (wörtlich: "Herr der Luft"; das schließt die Erdoberfläche ein) und En-ki (wörtlich: "Herr der Erde"; damit ist hier das unterirdische Reich gemeint) sonst immer genannt wird. Möglicherweise ist Inanna also schon früh aus dieser obersten Triade ausgegliedert worden, ohne jedoch ihren Namen zu verlieren.
Sie hat in der offiziellen mesopotamischen Theologie also kontinuierlich an Rang verloren, obwohl eine ganze Reihe an Gebeten und persönlichen Widmungen an sie auch aus neuerer Zeit bekannt sind; nicht zuletzt findet sich Inanna/Ishtar ja in den großen Gottheiten der klassischen Antike wie Isis, Astarte, Aphrodite und möglicherweise sogar Freyja wieder [6], um nur einige zu nennen. Sie dürfte also in der "Volksfrömmigkeit" recht tief verankert gewesen sein, wenn auch im offiziellen Gebrauch die herrschenden Götter andere waren - vielleicht, weil in einer zunehmend patriarchaleren Welt eine echte Himmelskönigin nicht mehr recht ins politische Programm paßte.
Es ist also interessant zu fragen, wie die "ursprüngliche" Inanna aussah. Nimmt man, da aus der archaischen Periode Schriftzeugnisse fehlen, Ausgrabungsergebnisse zu Hilfe, so stellt man fest, daß die Keramik aus Uruk nicht sehr unterschiedlich ist von der der el'Obed-Kultur, die sich auch weiter nördlich in Kurdistan findet und als einer der Vorläufer des frühen Sumer gilt [5]. Hier findet man auch durchweg weibliche Idole und Göttin-Figuren, die den steinzeitlichen Figürchen und den maltesischen Muttergottheiten nicht unähnlich sind. Es liegt also nahe, daß eine matriarchalisch organisierte Stammesgemeinschaft von Norden in die mesopotamische Tiefebene eingewandert ist, sich im Gebiet um Uruk niedergelassen und ihre Göttin mitgebracht hat, als die verschiedenen Völker miteinander zu dem verschmolzen, was scheinbar so plötzlich als "die Sumerer" aus dem Nichts auftaucht.

Die Theorie einer matriarchalisch orientierten Göttin paßt auch recht gut zu dem, was uns die Teile der sumerischen Mythologie über Inanna erzählen. Zum einen ist sie Herrin über die Lebenskraft an sich, denn sie läßt die Pflanzen gedeihen, zum anderen regiert sie Liebe, Leidenschaft und Krieg, sie hat die "me's", die göttlichen Gesetze, in ihren Händen, sie setzt Könige in der "Heiligen Hochzeit" ein und stößt sie bei Nichtgefallen auch leicht wieder vom Thron. Sie läßt nicht einen Augenblick Zweifel daran, wer die Herrin im Haus ist. Auch die Titel, mit denen sie bedacht wird, nennen sie "Herrin der Götter" (s. o.!), und sie wird sogar mit Ninhursag, der Geburtsgöttin, die Himmel und Erde geboren hat, identifiziert [2].
Obwohl sie der Liebe recht hemmungslos frönt, ist sie verheiratet, doch ihr Gemahl Dumuzi (der nur von ihren Gnaden überhaupt zum Gott wurde) ist nirgends als der Vater ihrer Kinder Lulal und Schara (vgl. Osiris und Seth!) genannt, sondern dies ist vielmehr der personifizierte Himmel An [2].
Wir haben also eine starke, unabhängige und sehr selbstbestimmte Göttin vor uns, die ihre Geschicke recht zielstrebig in die Hand nimmt und sogar für ein mögliches Scheitern vorsorgt, wie in "Inannas Absteig in die Unterwelt" und "Inanna und Enki" berichtet wird. Fast wie ein Bruch erscheinen dagegen die (literarisch nichtsdestoweniger sehr schönen) Liebeslieder für Dumuzi, in der Inanna, ganz folgsame Tochter, sich flugs um ihre Mitgift (!) kümmert und ihren Widerstand gegen die Heirat mit Dumuzi auf Zureden des Bräutigams recht schnell aufgibt. Einerseits zeigt das natürlich die beiden Seiten der Leidenschaft dieser Göttin, andererseits sind hier schon deutlich patriarchalische Sitten eingearbeitet.

Eine so starke und selbstbestimmte Göttin mußte einem sich entwickelnden Patriarchat natürlich ein Dorn im Auge sein. Die kriegerische Göttin wurde in ihre Schranken gewiesen, und es gab eine regelrechte Auseinandersetzung zwischen den Göttern, die in den Mythen ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat.
Es ist schon recht erstaunlich, daß eine so mächtige Göttin, deren einer Hauptaspekt der Kampf ist, so wenig Geschichten hinterlassen hat, in denen von ihren Kämpfen berichtet wird. In "Gilgamesh und der Himmelsstier" steckt sie sogar eine ziemlich dumme Niederlage ein - sie hatte Gilgamesh die Feindschaft erklärt, nachdem dieser sich geweigert hatte, mit ihr die Heilige Hochzeit zu vollziehen, die ihn nach dem alten Recht erst als König von Uruk legitimiert hätte. Stattdessen zieht er als eine Art mesopotamischer Rambo durch die bekannte Welt, um "Ungeheuer" zu erschlagen und zu plündern, was das Zeug hält, und sich dafür auch noch als großer Held feiern zu lassen. Es fällt nicht schwer, hinter dieser Abenteuergeschichte ganz massive gesellschaftliche Auseinandersetzungen versteckt zu sehen, die vielleicht auch mit der ganz realen politischen Macht der Inanna-Hohepriesterin zu tun hatten. Die Tatsache, daß es in Sumer eine nur von gebildeten Frauen und Priesterinnen gesprochene Hochsprache, das "Emesal", gab [2,6], ist ebenfalls ein deutlicher Hinweis in diese Richtung.
Der Kampf der Götter wird aber an einer anderen Stelle noch viel deutlicher, nämlich im altbabylonischen Schöpfungsmythos "Enuma Elish". Die Göttin, die hier agiert, ist Tiamat (sumerisch die Geburtsgöttin Ninhursag, mit der Inanna auf einigen Götterlisten aber identifiziert wird), die sogar im biblischen Kontext noch als "tehom" auftaucht [7].
Wir lesen hier von einer richtiggehenden Schlacht, in der Tiamat und ihre 12 Mitstreiter natürlich niedergeworfen werden; der siegreiche Luftgott Marduk (sumerisch Enlil) spaltet ihren Körper in Himmel und Erde und erschafft somit das Universum.
Die frühere sumerische Fassung erwähnt davon, zumindest was die Schöpfung selbst angeht, nichts. Hier ist es Ninhursag, die Himmel und Erde gebiert. Gleichwohl ist Enlil, ihr Enkel, ein rechter Tunichtgut, der sich flugs der Erde bemächtigt und nebenbei auch noch eine Göttin vergewaltigt - wofür am Ende auch noch sie (und nicht er) als Ereschkigal dauerhaft in der Unterwelt landet.
Nichtsdestoweniger sind die Spuren eines Kampfes zwischen den Göttern in den Mythologien erhalten geblieben. Auch der griechische Göttervater Zeus erobert den Himmelsthron erst nach Aufstand und Krieg gegen die Titanen, und selbst noch in der Bibel ist vom Aufstand der Engel gegen den Gott Jehovah die Rede, der aber selbstredend mit dem Höllensturz des aufmüpfigen Lucifer beendet wird.
Und ganz selbstverständlich sind natürlich die in der Unterwelt eingesperrten oder verbannten Engel oder Götter die "Bösen", die nur ihre gerechte Bestrafung empfangen haben.

Es ist ein wenig verdächtig, daß diese ganze Entwicklung seit einigen Jahrtausenden stringent abläuft, daß es am Anfang weibliche Gottheiten waren (ehe weibliche Gottheiten ohnehin nur noch Nebenrollen spielten), die unterworfen wurden und daß gleichzeitig alles Weibliche in den Gesellschaften Stück für Stück dämonisiert wurde, eine Entwicklung, die mit den Auswüchsen des "christlichen" Mittelalters ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, als die weiblichen Reize als "teuflisch" galten.
Und parallel dazu wurde die Göttin, wenn man sie schon nicht per Dekret abschaffen konnte, immer mehr entschärft - wenn wir einmal beim alten Orient bleiben, so war Ishtar noch kriegerisch, was bei Astarte schon abnahm, und Aphrodite und noch mehr Venus ist dann nur noch Liebesgöttin, die nicht einmal mehr ihre Liebespfeile selbst abschießt, sondern dafür einen kleinen Jungen bemüht. Maria und Fatima schließlich wird nicht einmal mehr Göttlichkeit zugestanden, sondern sie sind "Magd des Herrn" oder gar nur "Schwiegertochter des Propheten".
Und alles, was dem recht fest im Sattel sitzenden Patriarchat gefährlich werden kann - weibliche Lust, Unabhängigkeit vom Patriarchen, "Eigensinn", Sinnlichkeit, naturnahe weibliche Weisheit und Magie, wird schlicht und einfach als "böse" gebranntmarkt und in die Unterwelt verbannt, wo "mann" es nicht mehr sieht. In der christlich-jüdisch-muslimischen Hölle brennt also im Prinzip nichts anderes als Inannas Feuer der Leidenschaft.
(Ob die heutigen selbsternannten "Satanisten" da nicht sehr überrascht wären?)

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den ältesten mythologischen Texten deutliche Spuren einer Auseinandersetzung zwischen den Gesellschaftsformen Matriarchat und Patriarchat zu finden sind. Wenngleich die Schrift erst erfunden wurde, nachdem das Patriarchat schon das Übergewicht hatte und daher die Mythologie der Göttin nicht mehr unverfälscht ist, läßt sich die ältere Gesellschaftsform mehr als nur deutlich ahnen. Der "Kampf der Götter", den die Göttin damals verloren hat, hat also dennoch nicht dazu geführt, daß sie völlig entrechtet und vergessen wurde - sie ist gewissermaßen nur ein weiteres Mal in die Unterwelt abgestiegen.

24/4/2002 D.N.

Referenzen:

[1] Kramer, S. N.:
    Die Geschichte beginnt mit Sumer
    List Verlag, München 1959.

[2] Reallexikon der Assyriologie Bd. V
    Stichwort Inanna/Ishtar

[3] Heidel, A.:
    The Babylonian Genesis
    Chicago 1951.

[4] Pritchard, J. B.:
    Ancient Near Eastern Texts (Supplement)
    o. O. 1969.

[5] Cassin, E., Bottero, J., Vercoutter, J.:
    Weltbild Weltgeschichte Bd. 2 ( = Fischer Weltgeschichte Bd. 2)
    Die Altorientalischen Reiche I
    Weltbild Verlag, Augsburg 1998.

[6] Zingsem, V.:
    Göttinnen großer Kulturen
    dtv, München 1999.

[7] Striewe, C. M.:
    Tiamats Töchter
    Polarlicht 7(2001),
    auch:
     http://www.geocities.com/medusa_iseum/library/drachen.html

Zum Thema Ishtar/Inanna lesenswert auch:

    Heiser, I.:
    Die Göttin Ishtar
     http://www.geocities.com/medusa_iseum/library/ishtar.html



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