Samarkand
Diane Neisius
für Anja
Es war feige. Ich wußte es.
Ich bemühte mich fast krampfhaft, den Blick nicht über meine Schulter
zurückwandern zu lassen zu den weißen Türmen und Kuppeln in der Wüste, von
denen ich fortritt.
Eine Kriegerin war ich, eine der gefürchteten sarmatischen Panzerreiterinnen,
und weder ich noch eine oder einer meiner Stammesgenossen wäre je vor einer
physischen Gefahr geflohen. Ich dachte es, während ich die Lanze, die mich
um mehr als Schrittlänge überragte, mit der Rechten fester umklammerte und das
Ende des langen Schaftes auf dem Steigbügel aufstützte.
Und dennoch war ich auf der Flucht.
Fortgelaufen aus der Stadt der Händler. Wegen einer Frau.
Ich packte die Zügel energischer, trieb mein Roß zu größerer Schnelligkeit an,
doch es schnaubte nur weiße Dampfwölkchen in die frühmorgendliche Kälte, so
als spürte es, daß es mir mit der Eile gar nicht wirklich ernst war.
Wüste und Steppe riefen mich nach vorn. Und sie zog mich zurück.
Ich wußte, wenn ich mich umdrehte, würde ich hinter meinem Rücken die blasse
Sonne über den im Nebel verschwimmenden Silouetten der Türme von Samarkand
aufgehen sehen, weißen Glanz über zartgrauen Schleiern der Feuchtigkeit, die
die gnadenlose Kälte der Wüstennacht hatte auskondensieren lassen und die nun
in der schnell zunehmenden Wärme des beginnenden Tages aufstieg.
Und in einem der Türme würde sie bald aufwachen und bemerken, daß ich
fortgeritten war ohne ein Wort des Abschieds.
Ich habe es nicht einmal versucht, sagte ein aufrührerischer Gedanke
irgendwo
in den verschlungenen Irrpfaden zwischen meinem Kopf und meinem Herz.
Wie hätte es denn gehen sollen, antwortete die gleich einer
Getreidemühle
ausgeschliffene, monotone, weil unzählige Male schon gedachte Entgegnung
darauf. Ich schüttelte den Kopf, der einfach nicht klarwerden wollte, nicht
klarwerden konnte, weil ich in diesem Dilemma steckte, gleichzeitig vor und
zurückwollte, und mir doch vorkam, als käme ich in beiden Richtungen keinen
Fußbreit voran.
Ein Jaulen neben den Hufen meines langsam durch karge Landschaft schreitenden
Reittieres ließ mich aufmerken. Mein Begleiter, mehr Wolf als Hund, halbwild
und ebenso unabhängig und freiheitsliebend wie ich, mußte meinen inneren
Aufruhr bemerkt haben. Fragend blickte er nach oben zu mir, lief ruhig neben
Roß und Reiterin her, anstatt wie sonst stürmisch hinaus in die Weite des
Landes zu rennen, wenn wir eine der Städte verließen, in die er mir ohnehin
nur widerwillig und mit gesträubtem Fell folgte.
Aber heute war eben nichts wie sonst.
Schon konnte ich die Wärme der steigenden Sonne im Rücken meines Kettenhemdes
spüren. War sie schon wach?
Ohne daß ich es wollte, malte ich mir aus, wie sie nach mir sehen würde, mich
suchen würde in der lichtdurchfluteten Weiße ihrer Gemächer im Tempel. Ich
hatte sehen wollen, wie die Fremden aus der Ferne die Große Mutter in einem
Haus verehrten statt auf der bloßen Erde, war in die Stadt der Händler
geritten, in der sich alles traf, Waren vom Kaiserreich im fernen Westen zum
Kaiserreich im fernen Osten und umgekehrt transportiert wurden, Römer, Perser,
Hunnen, Chinesen, Turkmenen und noch mehr Völker, deren Namen ich nicht einmal
kannte, durcheinanderwimmelten und ihre zahlosen Sprachen sich ineinander
verwoben. Und mitten darin, eine Oase der Ruhe in dem niemals endenden Gebrüll
und Gefeilsche der Märkte, der weiße Tempel der Mutter, innen weiß und licht
und schön, nach Rächerwerk duftend und einladend, auszuruhen auf dicken
Teppichen nach langer Reise durch die Wüste.
Und da war sie gewesen, eine der Priesterinnen in ihren fremdartig aussehenden
weißen Gewändern, und der Duft ihrer sandfarbenen Haut und der Blick ihrer
dunkel lockenden Augen hatte mich eingefangen gleich einem Zauber aus dem Zelt
eines alten Schamanen.
Die Senke zwischen den Hügeln war nähergekommen, und meine Träume von ihr
rissen abrupt ab. Der Weg wurde uneben, und ich mußte mich konzentrieren,
meinem Pferd helfen, damit es nicht strauchelte. Für kurze Zeit tauchten wir
in die noch kühlen blaugrauen Schatten eines der Hügel ein, und mit
Erleichterung dachte ich daran, daß nun wenigstens nicht mehr die mahnenden
Umrisse der Stadt am Horizont hinter mir zu sehen waren. Die Steppe hatte mich
wieder. Hatte sie?
Denn auch wenn nichts zu sehen war außer Hügeln, Sand und Dornbüschen, Weite
bis zum Glast des Horizonts und wolkenloses Blau darüber, zog es an mir in
eine bestimmte Richtung. Gleich einem dieser magnetischen Südweiser, den die
chinesischen Karawanenführer benutzten, hätte ich genau sagen können, wo die
Stadt lag.
Ich seufzte, und Wolf blickte mit gespitzten Ohren zu mir herauf und legte den
Kopf schief. Ja, dachte ich, Du magst sie auch, nicht wahr? Du hast
Dich sogar
streicheln lassen von ihr. Das durfte noch niemand außer mir.
Vor meinen Augen stieg das Bild auf, wie sie uns bewirtet hatte in ihren
Privatgemächern im Tempel, und sie hatte Wolf mit kleinen Stückchen Fleisch
von irgendeiner Art Vogel gefüttert. Wir hatten viel gelacht, griechischen
Wein getrunken, uns mühsam und doch leicht mit Gesten verständigt, weil sie
neben ihrer eigenen, kehlig und geheimnisvoll klingenden Sprache nur die der
römischen Händler verstand, und ihre silbernen Armreifen hatten leise
geklingelt, als sie im Kerzenlicht des Abends ihre holzkohlenschwarzen Haare
aufreizend zurückgeworfen hatte.
Wir waren uns näher gekommen, sie schien nichts dabei zu finden,
Zärtlichkeiten mit mir zu tauschen, die Nacht bei einer Frau zu liegen. Sie
war in diesem Punkt anders als die meisten Ausländer, die sich über die
Freiheit, die mein Volk sich in diesem Punkt nahm, mokierten oder gar als
selbstverständlich voraussetzten, daß ich ein junger Mann sei, nur weil ich
Waffen führte, und mich wüst beschimpften, wenn sie ihren Irrtum schließlich
bemerkten.
Sie war anders gewesen als die Gefährtinnen, die ich vor ihr hatte, zärtlich
und erfahren, exotisch, es war aufregend gewesen wie eine Jagd, als ich
bemerkte, daß sie ihre Körperhaare entfernt hatte, was dem Liebesspiel eine
ungeahnte Intensität gab.
Aber es war nicht nur das. Etwas verband meine Seele mit ihrer. Vielleicht
hatte die Große Mutter mich mit Absicht zu ihr geführt, verband mich mit ihr,
wand ihren Schlangenleib um uns, preßte mich an sie, ohne daß ich etwas
dagegen tun konnte.
War es so, wenn man den Menschen fand, mit dem man sein Leben verbringen
sollte?
Wieder seufzte ich, blickte auf aus meinen zäh dahinfließenden Gedanken und
Träumen, bemerkte verwundert, wie hoch die Sonne schon im Himmel brannte.
Hunger ließ meinen Magen knurren, doch ich rastete nicht, sondern klaubte nur
etwas der trockenen Wegzehrung aus meinem Beutel. Lustlos kaute ich darauf
herum, warf Wolf ein paar Bröckchen hinunter. Er kläffte und schnappte gierig
danach.
Ich starrte angestrengt in Richtung des staubigen Horizontes, an dem rein gar
nichts zu erblicken war außer fernen Hügeln. Nicht einmal die Spur eines
Tieres war zu entdecken, nichts, das mich hätte ablenken können von den
Bildern in meinem Kopf, die nun wieder aufsteigen wie schon zuvor. Von den
Tagen, die ich bei ihr verbracht hatte, einer märchenhaften Welt zwischen
wehenden weißen Schleiern in ihren Gemächern, Nächte der Leidenschaft und der
Liebe mit ihr, ohne Worte, in denen sie ihre Liebe mit ihren Lippen auf meine
Haut schrieb; an einem Tag hatte sie mich, eine Fremde, sogar zusehen lassen
bei ihren Riten im Hauptraum des Tempels, und auch ihre Schwestern schien das
nicht zu stören. Ich hatte ihren Gesängen zu Ehren der Erdmutter gelauscht,
die ernst und feierlich waren und trotz ihrer Fremdheit mein Herz ganz tief
innen berühren konnten. Ich durfte vor ihrem Bild der Mutter, einer silbernen
Frau mit Hörnern, sogar meine Schamanenwurzel kauen und eine Geistwanderung
machen, um die Erdmutter zu sehen, wie sie sie sah. Es waren Tage wie in einem
Traum, der nicht zu enden schien, den wir beide nicht enden lassen wollten,
der nicht endete.
Bis die Steppe mich rief.
Nicht schon wieder, dachte ich, denn die Getreidemühle meiner Gedanken
würde
nun den Nachmittag über wieder dieselben Körner mahlen wie schon gestern und
vorgestern. Mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor, daß mein Herz brannte, meine
Tränen in den Sand fielen, ich sie so vermißte und doch nicht bei ihr bleiben
konnte. Die Steppe rief.
Ich war eine Sarmatin, eine freie Kriegerin, und ich konnte gehen, wohin ich
wollte, leben, wo und mit wem ich wollte. Das war mein Recht, ich schuldete
niemand auf der Welt etwas dafür außer vielleicht den Göttern, wenn sie mich
sicher geleiteten. Ich konnte überall auf der Welt leben. Ich hätte überall
auf der Welt leben können mit meiner weißgewandeten Frau.
Nur nicht in einem Haus in der Stadt.
Der Tempel wurde in dem Moment zu meinem Gefängnis, in dem ich erkannte, daß
meine Geliebte ihn niemals verließ. Niemals. Nicht, um auf dem Markt einkaufen
zu gehen oder sonst etwas. Nicht, daß ihre Haut die Sonne nicht vertrug wie
das bei den weißhäutigen Wilden von weit weg der Fall war, die die Römer
manchmal dabeihatten. Sie liebte den Tempelgarten, und in der milden Wärme des
Abends stieg sie oft auf das Dach des weißen Gebäudes, um die Sterne
anzusehen. Aber immer blieb sie innerhalb des Geländes, auf dem der Tempel
stand. Wenn ich hätte bei ihr bleiben wollen, dann wäre ich eingesperrt
gewesen für den Rest meiner Tage. Ich, die Steppenwölfin.
Ich bin frei, dachte ich, frei wie die Tiere der Steppe. Auch sie
versuchen zu
fliehen, wenn sie eingesperrt werden. Sie nagen an Stricken, wühlen im Boden,
treten loses Holz heraus, nur um einen Durchschlupf zu gewinnen, der ihnen die
Freiheit bringt. Es ist ihr Geburtsrecht genau wie meines. Ich habe richtig
gehandelt. Ich lasse mich nicht einsperren.
Ich habe sie es nicht einmal versuchen lassen. Ich habe es nicht versucht. Ich
bin fortgelaufen. Und genau das ist feige.
Die Sonne hatte mich längst überholt, stand nun vor mir. Mit meiner endlos
mahlenden Gedankenmühle hatte ich es kaum gemerkt, kaum die Hitze gespürt, die
sie unter meinem Spitzhelm ausbrütete, war noch froh über den Schweiß, den sie
laufen ließ, weil ich meine Tränen in den herabrinnenden Bächen verstecken
konnte.
Wolf war fort, stöberte irgendeinem kleinen Tier in den trockenen Büschen
nach, die den schnurgeraden Pfad säumten, dem mein hellgefärbtes Roß mehr auf
eigenen Entschluß hin folgte. So tief in meinen mahlenden Gedanken versunken,
hatte ich die Hügel westlich von Samarkand hinter mir gelassen und war in die
Trockensteppe hinausgeritten, die einige Tagereisen weiter in die Sandwüste
überging, eine weite, flache Ebene ohne Abwechslung oder Ablenkung. Die
Strecke, die ich zurückgelegt hatte, war eine erbärmliche Leistung für einen
so leichten Weg.
Schon färbte sich ein Hauch Gold in die weißen Sonnenstrahlen. Ich beschloß,
mein Nachtlager gleich hier aufzuschlagen - in der Wüste wird es schnell
dunkel, und in dieser flachen Ebene war ein Ort so gut wie der andere -, also
rammte ich die Lanze in den Boden und brachte mein Reittier zum Stehen.
Wenigstens konnte mich der Aufbau des kleinen Lagers für eine Weile
ablenken.
*
Das kleine Feuer aus Dung und dürren Ästen schien an diesem Abend kaum wärmen
zu wollen. Aber es war nicht nur die Kälte der Wüstennacht, die mich frösteln
ließ.
Was sie wohl macht.
Die Pracht des Sternenhimmels erinnerte mich daran, bei ihr auf dem Tempeldach
gesessen zu haben. Wärme schien bei diesem Gedanken völlig unpassenderweise
einzig zwischen meinen Schenkeln aufsteigen zu wollen.
Der junge Mond stand tief über dem letzten Dämmerungsstreif im Westen. Mein an
die eingerammte Lanze gebundenes Roß schnaubte in der Dunkelheit, senkte aber
wieder beruhigt den Kopf, als es merkte, daß nur Wolf von seinem Streifzug zu
uns heimkam und sich in die Nähe des Feuers legte. Mein Blick wanderte von ihm
zu den jungen Mondhörnern.
Vielleicht kannst Du mir helfen, Vater.
Routiniert suchte ich in dem trübroten Schein des kleinen Feuers nach dem
Beutel mit den Schamanenwurzeln, schnitt etwas davon ab und begann das
faserige und bitter schmeckende Stück zu kauen.
Schon bald stieg der vertraute leichte Schwindel im Kopf auf, und die Sterne
begannen Lichtnadeln nach unten zu stechen. Die Gerüche der Nacht wurden
deutlicher, Dung und Asche, Pferd und ungewaschener Mensch im Lager, gedörrter
Staub und verdorrte Büsche drum herum. Kleine Tiere hasteten in einiger
Entfernung durch die trockene Vegetation, trauten sich noch nicht an das
Feuer, um nach Essensresten zu stöbern.
Ich atmete tief durch, die Kühle der Nacht brannte in meinen Lungen, stieß
meinen Geist nach oben, spürte Wolfsfell auf meiner Haut, rannte meiner Nase
nach den Ahnenpfad am Himmel entlang, den buschigen Schweif stolz erhoben,
eine freie Wölfin auf der Jagd.
Sternsplitter stoben um mich herum, Lichtnadeln, denen ich ausweichen mußte.
Die Geistersteppe im Nachthimmel ist auf ihre Weise dornig, aber eine
Geisterwölfin ist flink und geschickt wie der Wind.
Schließlich fand ich die Spur, die ich suchte, schnüffelte mich an ihr entlang
kreuz und quer zwischen den Sternen, kam ihm näher, hörte Sein
vorwurfsvolles
Kläffen aus der Richtung des Mondes, stürmte mit lang hängender Zunge auf ihn
zu.
In der Mulde des Mondes lag Er, ein großer weißer Wolf, der Vater aller Wölfe,
der Geliebte der Mutter Erde weit unter uns.
Hilf mir, Vater.
Er blickte mich aufmerksam und mit gespitzten Ohren an. Die Zunge strahlte
silbernes Licht aus, während sein Fell von einem milchigen Weiß war.
Tochter, was führt Dich zu mir. Ich sehe Angst, Verlust und Verwirrung in
Deinem Herzen.
Ich legte mich ehrerbietig vor der Mondmulde nieder, bettete den Kopf auf die
Pfoten.
Ach, Vater... es ist eine Frau, eine Fremde aus Samarkand.
Milde blickten die grauen Wolfsaugen auf mich.
Es ist nicht nur EINE Frau, glaube ich. Sollte es DIE Frau für Dich
sein?
Ich ließ die Ohren hängen.
Ja.
Liebe und Verstehen sprachen aus den Zügen des weißen Wolfes, der um ein
vielfaches größer war als ich.
Und Du bist weggelaufen, noch bevor ihr ein Rudel werden konntet.
Ich schielte verlegen nach oben.
Vater, die Steppe rief. Sie sperrt sich ein im Tempel.
Die große weiße Nase vor mir schnüffelte prüfend.
Hast Du Dich vielleicht schon gefragt, warum sie das tut?
Erstaunt und überrascht hob ich den Kopf.
Nein...
Ein leichtes Jaulen entrang sich dem silbern leuchtenden Maul. Dachte ich's
mir doch. Dann sagte der Mondwolf zu mir:
Sie kommt von weit her und ist fremd hier. Du bist eine Wolfskriegerin
Deines
Volkes und brauchst nichts zu fürchten. Aber sie stammt von einem Volk, bei
dem Frauen und insbesondere Priesterinnen keine Waffen berühren. Ja, sie
lernen nicht einmal in ihrer Jugend, sie zu benutzen. Sie verläßt den Tempel
nie, weil sie seinen Schutz braucht, und nicht, weil sie sich darin einsperren
will. Und sie liebt Dich, weil Du die Kriegerin bist, nach der sie sich
gesehnt hat, die sie beschützt vor den Waffen der anderen Krieger, und die sie
dafür mit ihren magischen Zaubergesängen vor feindlichen Schamanen beschützen
kann. Deshalb hat die Große Schlange sich eure Wege kreuzen lassen.
Erschrocken setzte ich mich auf die Hinterpfoten.
Ist das wahr?
Der große Wolf ließ wieder seine silberne Zunge sehen.
Ja. Und Du bist weggelaufen wie eine trotzige Welpe.
Die silberne Zunge begann mein Gesicht zu lecken, denn ein Strom von Tränen
lief durch mein Fell.
Du meinst, sie wird mit mir mitkommen?
Eine Mischung von Jaulen, Kläffen und Schluchzen kämpfte in meiner Brust
miteinander.
Das mußt Du sie selbst fragen.
Langsam begann die leuchtende Mulde im Himmel blasser zu werden, und der Vater
der Wölfe entfernte sich von mir.
Bleib noch...
Aber ich spürte nur noch eine Welle von Zuneigung und Trost, ehe das Leuchten
des milchweißen Felles sich verfärbte und nur noch ein langgezogenes hallendes
Heulen den Horizont entlanghallte.
Ich sprang auf, weil wieder die Sterne mit ihrem spitzen Licht nach mir
pieksten. Langsam setzte ich eine Pfote vor die andere, trabte durch den
schwarzen Himmel, immer schneller, und als ich die Ahnenbrücke erreichte,
rannte ich so schnell ich konnte auf den schlafenden Leib der Mutter Erde
hinunter.
*
Angestrengt starrte die Ägypterin in Richtung der Hügel. Boten, die sie in die
Stadt geschickt hatte, brachten nur die Auskunft zurück, die Kriegerin, die
für ein paar Tage im Tempel gewohnt hatte, habe Samarkand in Richtung Westen
verlassen. Seit sie dies wußte, hielt die Priesterin Ausschau vom Dach des
kleinen Tempelheiligtums. Ihre Schwestern, die sehr wohl verstanden hatten,
was hier vorgegangen war, warfen ihr mitleidige Blicke zu, denn sie hielten
ihr Warten für vergebens.
Stunde um Stunde hatte sie in der Nacht vor der großen Statue der Göttin
gewacht und gebetet, und kaum daß es hell wurde, war sie auf das Dach gerannt
und hielt Ausschau, selbst in der glühenden Mittagshitze.
Ihre Augen hingen am Horizont, nahmen nicht das lärmende Treiben in den Gassen
unter ihr noch die ziehenden Karawanen vor den Toren der Stadt wahr. Schon
mehrmals hatte sie einzelne Reiter als winzige Punkte über die Hügel kommen
sehen, aber stets waren es nur reitende Boten oder Späher der Karawanenführer
gewesen.
Wieder erschien ein Punkt in der Kimme zwischen zwei Hügeln. Dieser schien es
allerdings mächtig eilig zu haben, denn schon aus dieser Entfernung sah man
die Staubfahne, die er hinter sich her zog, einen solchen Galopp ritt er
schnurgerade auf die Stadt zu. Schon kurze Zeit später konnte man erkennen,
daß es eine Kriegergestalt war, ein sarmatischer Panzerreiter, der gerüstet
und mit eingelegter Lanze wie zu einem tollkühnen Angriff auf die Mauern
heranstürmte. Und ein ganzes Stück dahinter folgte ein kleiner Begleiter, ein
Hund - oder ein Wolf?
Aus dem Hoffen wurde immer mehr Gewißheit, wer diese Kriegergestalt war, die
da so eilig zur Stadt ritt. Die Priesterin schloß die Augen, deren sorgfältig
gezogener schwarzer Lidstrich nun langsam in den aufsteigenden Tränen zu
zerfließen begann.
"Ich danke Dir, Göttin", flüsterte sie inbrünstig, "ich danke Dir so sehr",
ehe sie sich umwandte und mit wehenden Gewändern die Treppe hinunterrannte.
© 2001 Diane Neisius. Erstveröffentlichung.
© 2002
Medusa Iseum