Die geflügelte Schlange


Diane Neisius

Auszug


Das Thema der geflügelten Schlange ist derartig komplex, daß ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Es umfaßt ja nicht nur meine Göttin, meine Drachenmagie und die dunklen Pfade, auf denen ich in den vergangenen Jahren unterwegs war, sondern viel mehr, mein Selbst, mein Sein, meine Inkarnationen und das große Ganze, von dem ich ein Teil bin.
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Es stellt sich natürlich die Frage, warum denn ausgerechnet in diesem Leben die Erkenntnis über all diese Dinge kommt. Das ist aber gar nicht so zufällig, wie es scheint. Denn die Wissenschaft von der Vergangenheit, die mehr tut als Kunstschätze zu rauben und antike Ruinen nicht nur zum Plündern ausgräbt, sondern sich für die Menschen interessiert, wie sie früher gelebt haben, hat sich erst in dieser meiner Lebensspannen voll entwickelt. Ich hätte im 19. Jahrhundert oder zur Renaissancezeit gar keine Chance gehabt, konkret mehr über all diese dumpfen Ahnungen am Grunde meiner Seele zu haben. Erst jetzt besteht die Chance, die Mosaiksteinchen zusammenzusetzen, und auch, vielleicht Versäumtes aus der Vergangenheit nachzuholen.
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Nun ist es nach meinem Dafürhalten ja ohnehin so, daß die Bewohner der Anderwelt nicht exakt die Feen, Engel, Drachen, Dämonen und so weiter sind, als die unser physischer Verstand sie wahrnimmt. Das Denken ist stark symbolverhaftet, und rein geistige Wesen sind verstandlich so wenig erfaßbar wie Götter, die möglicherweise nichts weiter als höher organisierte Einheiten von ihnen sind. Insofern halte ich auch nichts von der Unterteilung in Gut und Böse, in Engel und Dämonen. Was aber verwirrend für mich war, ist mein Hingezogensein zu einer Seite, der Unterlegenen nämlich. Einerseits hielt ich nie etwas von einer Aufteilung, andererseits ordne ich mich aber ein.

Studiert man Mythologie, so stößt man immer wieder darauf, daß es in dieser Welt eine Spaltung gegeben hat. Eine Seite war in einem Kampf, der meist als der ultimative Kampf zwischen Gut und Böse oder Licht und Finsternis dargestellt wird, unterlegen und gestürzt, ob nun aus dem Himmel, um fortan die Hölle zu regieren, oder um aus dem erschlagenen Körper die Welt zu formen, wie nach dem Kampf zwischen Tiamat und Marduk. Eine Seite war die chaotische, aufständische, aber auch primordiale, die niedergeworfen wurde. Das zieht sich durch alle Kulturen von der Babylonisch-Sumerischen über die Griechisch-Römische bis hin zur Christlich-Abendländischen. Es fällt dabei auf, daß die unterlegenen [und damit per Definition] bösen Kräfte des Chaos meist die Gestalt von Drachen oder Schlangen haben.
Nun wird aber die Schlange oder der Drachen durchaus als Symbol der Weisheit gesehen. Man denke an den Äskulapstab, der noch heute das Symbol der Heilkunde ist. Auch die Frage nach dem Huhn und dem Ei wird man wohl eher als Gleichnis von der Schlange und dem Weltenei lesen dürfen, etwas, was in den Schöpfungsgeschichten vieler Völker seinen Platz hat. Und wie inzwischen bekannt ist, geht auch die Göttin Isis mit einiger Sicherheit auf eine Schlangengöttin As zurück.
Die Schlange ist aber auch mit der Weiblichkeit verbunden, mit dem Gebären, symbolisiert durch ihre Häutung auch Verjüngung und Wiedergeburt, Unsterblichkeit schlechthin und damit die Verbindung der verschiedenen Zeitebenen in ihrer Komplexität. Das Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange ist ein uraltes Symbol für das Universum, für Unendlichkeit, die Ewigkeit, das Allumfassende. Die Schlange, insbesondere die geflügelte, verkörperte in den ältesten Zeiten die Erd/Universumsgöttin, die Zyklen der Zeit, die konstante Erneuerung, das Rad der Wandlung, mithin die verborgenste und mächtigste Kraft in unserer Welt überhaupt.
Nun hat ja meine Hingezogenheit zu Drachen und ihrer Magie, zu dracoiden Wesen wie Melusina und Medusa vielleicht einen Grund. Wenn, wie mir inzwischen bekannt ist, die antiken Schlangenpriesterinnen Masken getragen haben, dann ist vielleicht auch der Hintergrund der Sage um Medusa einfach der einer Demaskierung einer Schlangenpriesterin. Jemand eine Maske herunterzureißen, mithin jemand sein Geheimnis (und damit Macht) zu entreißen, kann in einer Sage leicht zu einer Enthauptung verzerrt werden, zumal der Held dann ja auch die (magische?) Maske mitnimmt. Insofern habe ich vielleicht diese Geschichte um Medusa nicht nur als Geschichte mit ideologischem Programm, sondern deshalb geschrieben, weil ich wirklich Medusa bin - eine Medusa, eine Priesterin einer uralten Göttin, deren Kraft sich in der geflügelten Schlange verkörpert.
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Es wäre nun ein Leichtes, den Kampf der Mächte feministisch auszuschlachten, wie das ja auch schon verschiedentlich geschehen ist. Ich bin hier sehr vorsichtig. Es ist unbestreitbar so, daß in unserer Gesellschaft und Kultur das Männliche schon lange sehr dominant ist und auch ein gut Teil Ungerechtigkeiten gegen Frauen begangen hat. Nichtsdestoweniger möchte ich nicht das Männliche und alle männlichen Götter als Erzfeinde der Frauen verdammen. Die Welt lebt von Polaritäten, auch der Polarität zwischen den Geschlechtern. Und das sage ich ganz bewußt und obwohl ich lesbisch bin. Denn die Welt wird von einer Umkehrung der Verhältnisse, wie sie sind, nicht besser werden.
Mithin glaube ich nicht, daß die Spaltung, die ich beschrieben habe, zwischen Männern und Frauen besteht. Ein logischerer Ansatz wäre vielleicht der einer Spaltung zwischen braven und rebellischen Frauen, Eva und Lilith, den Engeln im Himmel und den Gefallenen Finsterlingen in der Unterwelt, um nur einmal die christliche Mythologie zu ziteren. Hier ist sicher noch einiges an Denkarbeit vonnöten.

Der Weg durch die Zeitalter ist das wahre Ziel im Leben. In allen Leben, die die Seele bilden, zu immer höherem Sein. Auch hier gilt, daß das letzte Hemd, das man wieder und wieder anhat, keine Taschen hat. Alles, was man mitnimmt, ist in der Seele eingeprägt, und nur dort, weil ja auch das Gehirn des Körpers etwas ist, was vergehen muß. Vielleicht habe ich auch deshalb das Bedürfnis, mit leichtem Gepäck durch dieses Leben zu reisen. Es wird niemals eine materielle Sicherheit geben.

Ich danke Göttin As für diese Erkenntnis. So sei es!

© 2000 Diane Neisius



© 2002 Medusa Iseum