Gedanken zu Seth

Diane Neisius


Anmerkung: der vorliegende Text ist die Antwort auf eine Mail-Anfrage eines Seth-Anhängers bezüglich meiner Stellung als Isispriesterin gegenüber dem Gott Seth. (Eckige Klammern kennzeichnen die Hinzufügungen oder Weglassungen gegenüber dem Original.) ~D. N.

[...]
Zunächst mal muß ich Dich korrigieren, wenn Du schreibst, Seth als Gott sei direkt nach der Reichseinigung "verteufelt" worden. Die Reichseinigung von Ägypten erfolgte von Oberägypten aus, in dem der Sethkult weiter als anderswo verbreitet war (großes Zentrum war in Kom Ombos), während Isis und Osiris aus Städten in Unterägypten stammen (Busiris, Buto). Der Gott des unterlegenen Staates wäre also eigentlich Osiris gewesen. Und tatsächlich haben im alten Reich auch eine Reihe von Königen des alten Reiches mit Seth-Titeln regiert, aber nie ist etwa Osiris deswegen "verteufelt" worden. Im neuen Reich waren es vor allem die Ramessiden, deren Familiengott Seth war - angesichts einer Politik, die auf militärische Überlegenheit zielte, wohl kein Wunder. [Seth war u. a. Kriegsgott.] Als Literatur dazu empfehle ich die Bücher von Erik Hornung, sowie die Monographie "Seth - God of Confusion" (Autor weiß ich nicht mehr, es steht aber in der SUB Göttingen [...]) Die Verteufelung von Seth hat meines Wissens nach erst richtig mit dem Niedergang des neuen Reiches und dem Zeitalter des Hellenismus begonnen. Viele Seth-Tempel wurden zu der Zeit zerstört oder für [den Krokodilgott] Sobek umgewidmet, so wahrscheinlich auch der Doppeltempel von Horus und Sobek in Kom Ombos, von dem noch Teile stehen.

Seth als Gott ist natürlich nicht so grade einer zum Kuscheln, das ist auch einer der Gründe, warum ich mich nicht für ihn entschieden habe. Aber das würde auch nicht zu seiner Kraft passen, verkrustete Strukturen aufzubrechen und zu zerstören - das hast Du sehr schön mit der reinigenden Kraft des Gewitters umschrieben. Und das ist auch der Grund, warum ich Seth in der Sonnenbarke nicht missen möchte (er ist ja einer der Neun von Heliopolis). Und damit kommen wir auch schon zu einem ganz wesentlichen Punkt, der das Leben toleranter macht: meiner Meinung nach sind viele Neuheiden nicht zu einem echten Polytheismus fähig, weil sie sich nie von der "christlich-abendländischen" Prägung gelöst haben. Damit bedeutet aber, sich einen persönlichen Gott zu suchen, von allen anderen Unterwerfung zu fordern oder gegen sie zu sein, - halt alles bleibt von der Struktur her so, wie es "immer" war. [...]

Die Akzeptanz, daß es mehrere, sehr verschiedene Götter gibt, von denen Isis eine ist (natürlich als meine persönliche Göttin für MICH die wichtigste, aber nicht als solche automatisch die Obergöttin des gesamten Pantheons), hat für mich letztlich und endlich auch das Eis des "für" und "gegen" gebrochen. Osiris und Seth und die Balance zwischen ihnen kann ich deshalb für mich am besten in einem Bild wiedergeben, in dem beide in je einer Waagschale sitzen. Und Isis-Nut-Ma'at hält die Waage im Gleichgewicht. Weder darf die ursprünglich gerechtfertigte Regentschaft von Osiris ein Übergewicht bekommen, was bedeutet, daß eine Struktur in sich zu sehr eingefahren, dominant und (unter-)drückender Selbstzeck wird, noch darf Seth hemmungslos Revolutionen machen. Beides stört die Harmonie der Welt (Ma'at!) und die freie Entwicklung aller lebenden Wesen.

In der Fellowship of Isis verfolgen wir übrigens als Ziel, selbst via Meditation und Trancereisen Kontakt zu unseren Göttern aufzunehmen. Meditation ist relativ einfach für jeden Menschen erlernbar, Kurse dafür werden schon bei den Volkshochschulen angeboten. Man muß dafür nicht einem Orden oder Tempel angehören. Dieser Kontakt ist auch etwas, was jedes unserer Mitglieder für sich selbst macht, weshalb der Begriff "Channeling" das nicht so trifft. Im Klartext, ich mache das nicht für andere, nur weil ich Priesterin bin. Der Kontakt eines Menschen zu seinem oder ihrem persönlichen Gott ist seine oder ihre ganz persönliche Angelegenheit. Daß ich mich zur Priesterin habe weihen lassen, ist eine persönliche Angelegenheit zwischen Isis und mir und hat nichts damit zu tun, daß ich als solche "die Gläubigen anleiten muß".
[Natürlich könnte ich das aber und würde es auch tun, wenn mich jemand darum bäte.]

Übertragen auf Dich und Dein Interesse an Seth kann ich Dir aus meiner subjektiven Erfahrung also raten, den Kontakt zu ihm via Meditation zu suchen. Ich hatte auf diese Weise eine Begegnung mit ihm, und meine Erfahrung mit ihm ist schon, daß er ein Gott ist, der ziemliche Kräfte in sich vereint. "Vereint" ist dabei schon ein wichtiges Wort, denn es deutet an, daß Seth oder seine Entsprechung in anderen Kulturen nicht jedem Hanswurst, der ihm nächtens auf einem Friedhof Blut opfert, deshalb Macht verleiht. Er ist vielmehr ein Machtsammler, der sich gezielt Leute mit vielversprechenden Anlagen heraussucht. Alle anderen sind ihm ziemlich egal. Das jedenfalls hat er mir während der Meditationen mitgeteilt. Allerdings ist er auch nicht gerade eine Vatergestalt und deshalb ein sehr einsamer Gott, und auch deshalb ist er für mich nicht der Gott meiner Wahl.

Aus diesem Grund ist Seth für mich auch nicht der Teufel meiner Religion. [So etwas existiert in meinem Glauben nicht einmal(!)] Wie gesagt, wir versuchen die überlebten Dualismen zu durchbrechen, denn auch eine Torte, die man auf unendlich viele Weisen in zwei Teile schneiden kann, wie Du schreibst, besteht danach dennoch nur aus zwei Teilen, "meinem" und "dem anderen", was denn doch immer noch zu nah an "gut" und "böse" liegt. Daran ändert leider auch nichts, auf welche Weise die Torte geteilt wird. Wahre Toleranz findet sich historisch überwiegend in polytheistischen Kulturen, in denen "mein" Gott eben verschieden von "vielen anderen" Göttern ist, wie das Studium der antiken Geschichte zeigt. Und das macht den Schritt auch viel leichter, zu sehen, daß ein und derselbe Gott sich auch verschiedenen Menschen in ganz unterschiedlichen Gestalten offenbaren kann. Einem Missionsgedanken ist damit ganz automatisch die Grundlage entzogen, was ich sehr entspannend finde. Und auch der fanatische Glauben daran, allein im Besitz allen Heils zu sein (was letzten Endes dazu führt, daß gekidnapte Flugzeuge in Hochhäuser fliegen), fällt so in einem polytheistischen multikulturellen Glaubenssystem schwerlich auf fruchtbaren Boden. Und das ist noch viel entspannender.

Nun heißt das nicht, weil ich so denke, daß deswegen alle Mitglieder der Fellowship of Isis dem Seth so aufgeschlossen gegenüberstehen. Viele mögen nicht einmal die Göttin in ihren chtontischeren Gestalten verehren, für sie ist zum Beispiel eben Isis die weiße Jungfrau und schon weniger die sinnliche Hathor, und in ihrer Gestalt als unerbittliches Schicksal (wie es etwa als Standbild in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht) mögen sie sie lieber nicht rufen. Da soll es nicht wundern, wenn sie auch zu Seth nicht unbedingt Kontakt haben möchten. Das ist ihre Entscheidung, die ich mich nicht zu kritisieren anmaße. Isis erscheint in ihren 10.000 Gestalten ("Isis Myronominos") nun mal jedem und jeder anders, und eine ihrer Gestalten ist für mich nun mal auch die der Nut, der Mutter auch von Seth. Deswegen überlege ich auch hin und wieder, ob ich in meinem Tempelchen auch für Seth einen kleinen Schrein errichten soll. Was Dich nicht zu der Annahme verleiten sollte, dergleichen gehöre zur Standardausrüstung eines FOI-Zentrums.

Im Umgang mit Meditation, Trance und Magie wird man leider nur zu schnell in die Schublade "Schwarzmagier" eingeordnet. Dabei ist das auch ein Produkt des schon erwähnten dualistischen Denkens, das von den meisten Menschen nicht überwunden ist. In einer Weltanschauung, die nur einen Gott kennt, der alles kann, während alle anderen nichts selbst machen dürfen, muß jemand, der die natürlichen geistigen Gaben benutzt (zu denen auch Magie gehört), als "einer von der anderen (bösen?) Seite" gelten. Das ist fast ein Automatismus. Deswegen hat in der westlichen Welt meines Erachtens die Magie auch noch immer diesen allein dämonischen Ruch. Dabei gibt es nur eine Magie, egal wer und wie sie wirkt. Mich erinnert jegliche andere Argumentation zuweilen daran, als ob jemand behaupten würde, es gebe "gutes" und "schlechtes" Geld, nur weil man bei einem Konto bei der Bank in der Lage ist, sowohl Guthaben als auch Schulden zu erwirtschaften.
Leider ändert das nichts daran, daß fast jeder, der oder die sich auf einen spirituellen Weg macht, sich selbst zunächst einmal auf einem mangels besseren Wissens selbstdefinierten "dunklen" Pfad befindet und von vielen anderen als "Satanist" bezeichnet wird. Selig sind in der Tat, die da geistig arm sind...

Dabei hat Seth (auch als Namensgeber des christlich-abendländischen "Satan" ) zunächst einmal mit Dunkelheit nichts zu tun. Seth ist als Sohn des Sonnengottes genau wie Horus und Osiris ebenfalls ein Aspekt der Sonne, der sengenden Wüstensonne nämlich (siehe die oben schon zitierten Bücher), ein "dunkler" Gott ist eher Osiris mit seinem Unterweltaspekt. Und auch der simple Dualismus "Hell gleich Gut und Dunkel gleich Böse" läßt sich schnell ad absurdum führen. Mit Licht lassen sich beträchtliche Zerstörungen anrichten, man denke nur an Laserstrahlen. Die Welt ist nun mal kein einfach zu begreifender Dualismus.

Wie absurd dualistische Weltbilder zuweilen werden können, zeigt auch das Stichwort Sexualität. "Hexen" und "Magiern" (und allen, die "anders" sind [z. B. auch Homosexuellen]) werden im christlich-abendländischen Gedankengut fast von selbst auch wüste sexuelle Ausschweifungen unterstellt.
Angesichts einer Weltanschauung, die asketische Enthaltsamkeit idealisiert, wundert mich das nicht. Nun hat es den einen oder anderen heidnischen antiken Kult gegeben, in dem orgiastische Riten dazugehörten, man denke etwa an die Bacchanalien, aber das war nicht die Regel in den alten Religionen. Und wenn etwa neuheidnische "Ordensmeister" wie Crowley oder Gardner sich gern mit leichtbekleideten "Novizinnen" umgeben haben, dann entspringt das für mich eher den muffigen Sexualphantasien der viktorianischen Männergesellschaft als einem echten heidnischen Gedanken. Das gilt auch für die "Einweihungsriten", die in manchen Wicca-Zirkeln praktiziert werden und von denen ich durch persönliche Berichte weiß.

"Ordensmeister" wie Crowley und Gardner waren es übrigens auch, die das Regelwerk ihrer Orden selbst schriftlich festgelegt haben, davon bin ich überzeugt, auch wenn es immer wieder bestritten wird. In den echten alten Heidenreligionen hat es keine religiöse Schriften gegeben, die sich anmaßten, ein "Buch des Gesetzes" zu sein. Selbst die Edda wurde erst nach der Christianisierung zusammengeschrieben. Und dafür ist sicher nicht verantwortlich, daß die entsprechenden Völker "primitiv" waren oder keine Schrift besaßen. Wenn ich wieder exemplarisch den Isiskult anführen darf, so war Ägypten eine jahrtausendealte Kulturnation [und Bürokratie(!)] mit hochentwickeltem Schriftsystem, in dem wirklich alles aufgeschrieben wurde, wie die Ausgrabungen zeigen. Aber gerade die religiöse Liturgie oder irgendwelche "Gebote" wurde eben nicht aufgeschrieben, und das nicht einmal in der Spätantike, in der Isis sich über die ganze griechisch-römische Welt ausgebreitet hatte. Die Liturgie war in dieser Welt sogar nicht einmal lokal einheitlich, wie Ausgrabungen zeigen, was angesichts der [verschiedenen] geographischen [Lebensumstände] und psychischen Unterschiede [der Menschen] nicht wundert und dem Bild der Isis Myronominos entspricht. Der Zugang zu den Göttern ist offensichtlich gerade nicht etwas, was aus einem Buch gelernt werden kann oder sonstwie zu vereinheitlichen ist.

Zurück zum Stichwort Sexualität und Seth ist es geradezu absurd, Seth, "Satan" und Sex in einen Topf zu werfen, wie es dualistische Zeitgenossen zuweilen tun. Seth ist ein Krieger- und Wüstengott und somit zunächst einmal "steril". Sexualität nimmt in ihm höchstens als Mittel zur Unterwerfung (mithin als Waffe) Gestalt an, wie etwa im Thronstreit mit Horus. Ein orgiastischer Sethritus ist demnach absurd. Vielleicht gab es auch deshalb schon früh die Tendenz, auch die Göttin Nephthys eher dem Osiris zuzuordnen und mithin Osiris zum Vater von Anubis zu machen, Seth also einsam und unfruchtbar in der Wüste zu lassen, wie es einem wilden Krieger zukam. Dennoch gibt es Gerüchte, daß einer Triade Osiris-Isis-Horus ursprünglich die von Seth-Nephtys-Anubis gleichberechtigt zur Seite stand, was angesichts der ägyptischen Liebe zur Symmetrie naheliegend ist. Einen Beleg dafür habe ich aber bis jetzt noch nicht finden können. Und auch das klingt dann schon ganz anders als der Seth, der nur der böse Mörder von Osiris ist, was angesichts neuerer Forschungen in der ältesten Form des Osirismythos ohnehin nicht so gewesen zu sein scheint, wie ich schon angedeutet habe (siehe z. B. [die Schriften von] Lawrence Durdin-Robertson).
[...]

[Wenn ich also zusammenfassen darf: der Gott Seth ist nicht "der Teufel" des Isisglaubens, so etwas gibt es nicht für mich und es hätte meines Erachtens auch keinen Nutzen. Deswegen ist Seth auch nicht mein "Feind", nur weil ich in inniger Verbindung zur Göttin Isis stehe.]

© 2002 Diane Neisius.



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