Vereinigung von Himmel und Erde - Ritual für Tiamat

Anmerkung: Tiamat gehört zu den großen primordialen Gottheiten, deren sehr ambivalente Energien extreme Reaktionen bei den Teilnehmern auslösen können. Das Ritual ist also ganz sicher nicht für Personen geeignet, die sich nicht in einem ausgeglichenen Seelenzustand befinden oder aber wenig Erfahrung mit Trance- und Meditationstechniken haben. Die moralischen und psychischen Vorbehalte eines jeden Teilnehmenden sollten vorab persönlich geklärt werden, damit nicht bei Einzelnen im Ritual "Grenzen überschritten" werden.

Vorbereitung: der Umfang der benötigten Materialien hängt von der genauen Ausgestaltung der Vereinigung selbst ab, die bewußt nicht festgelegt wird, sondern ein gut Teil Spontanität und direkte Inspiration enthalten soll. Ein Vorrat an bunten Tüchern, Körpermalfarben, Theaterrequisiten u. ä. ist aber in jedem Fall sinnvoll.
Auch können von den Darstellerinnen von Himmel und Erde, die über eine gewisse Improvisationsfähigkeit verfügen sollten, vorab Tanz-Sequenzen geprobt werden, eine feste Choreographie ist aber zu einengend, siehe auch den Kommentar im Text unten.

Der Altar sollte zusätzlich zur normalen Ausstattung mit einer größeren Drachenfigur versehen werden, eine neue Kerze oder Feuerschale, Weihrauch und Wasser von einer Quelle im Wald sollten bereitstehen. Die beiden Darstellerinnen von Himmel und Erde sollten sich, wenn sie das Ritual nicht allein vollziehen, etwas abseits meditativ auf die Vereinigung vorbereiten können.
Für die Priesterin sollte ein Ritualdolch bereitliegen.

Invokation: Wir rufen Dich, große Tiamat, Urgöttin, die außerhalb von allem immer existiert hat, auch als es noch kein Davor und Danach gab. Laß Deine überwältigende Kraft durch uns strömen, damit wir Deine verstreuten Teile wieder zusammenfügen können! Nimm uns die Angst vor Deinen Schattenseiten, die genauso Du sind wie das strahlende Licht der Sonne!

Orakel der Göttin Tiamat: Es ist gut, daß ihr mich ruft, um einen kleinen Zyklus zu schließen und einen neuen zu beginnen. Die Zyklen des Weltalles sind mein Pulsschlag, der Pulsschlag von Werden und Vergehen, und er ist so langsam und so gigantisch, daß die meisten von euch nichts davon bemerken.
Die Kontinente der Erde wandern gemächlich über meinen Körper, Millionen Jahre lang, um sich zu vereinigen, auseinanderzubrechen und sich wieder zu vereinigen. Sterne entstehen an meinem dunklen Leib, aus Gas und Staub, und sie leuchten Milliarden von Jahren, ehe sie sich aufblähen und in ihrem Todeskampf zucken und explodieren - was sie wieder zu Gas und Staub in der Dunkelheit macht, aus denen neue Sterne entstehen.
So wichtig ihr selbst euch auch nehmt, so gehört ihr doch nur zu den kleinsten meiner Kinder. Ihr seht nur einen winzigen Sekundenbruchteil eines einzigen Zyklus und verschließt die Augen vor dem Rest. So seht ihr nicht einmal die vielen kleineren Zyklen, nicht die eurer eigenen Seelen, nicht die ungezählten ineinandergeschachtelten noch kleineren, fürchtet euch vor dem Tod, ohne den es doch keine Wiedergeburt gibt. Wie wollt ihr da meine Zyklen verstehen können?
Und so fürchtet ihr mich als das Chaos, den Drachen, der zerstört und verschlingt und daher in euren Mythologien von anderen Göttern getötet werden mußte. Ich bin Himmel und Erde zugleich, die an dem Ort, den ihr "Anfang" nennt, getrennt werden, und deshalb mögen viele von euch fürchten, die Vereinigung von Himmel und Erde sei das Ende der Welt, "weil doch eben in ihrem Anfang Himmel und Erde voneinander getrennt wurden." Aber diese Sichtweise ist zu kurzsichtig und ängstlich auf die Erhaltung eures eigenen kurzfristigen materiellen Wohlergehens bedacht. Sie ist linear und nicht zyklisch wie die unendliche Spirale, in der ich meinen Schlangenleib winde. Anfang und Ende sind eins, und auch nur ein Punkt unter vielen in dem unendlich komplexen Raumzeitgewebe, das meine vielen Töchter weben. An manchen Punkten teile ich mich, und an manchen vereinige ich mich. Ich bin.
Und deshalb konnten eure Heldengötter mich auch nicht wirklich töten, wie das so naiv in vielen Geschichten geschrieben steht. Ich stehe außerhalb der Zeit, überrage alles, was ich aus mir geboren habe und das deshalb ein Teil von mir ist. Kann eine eurer Hände behaupten, sie habe den ganzen Körper erschlagen und beherrsche die Leiche jetzt? Schwerlich doch wohl kann an einer Leiche einzig noch die Hand leben.
So ist es auch mit mir. An einigen Punkten teile ich mich und gebe meinen Kindern meinen Leib, um daraus zu schöpfen. An anderen Punkten vereinige ich mich wieder und reiße das Seiende, das dabei nicht untergeht, hinüber in den nächsten Zyklus. Das ist mein Leben, von dem alles, was existert, ein winziger Teil ist.
Wenn also ihr ausziehen wollt, mich zu suchen, dann sage ich euch nur: ihr seid schon in mir. Wenn ihr mich sehen wollt, seht euch Alles an. Wenn ihr fragt, was ich bin, ob Göttin oder Ungeheuer, so sage ich: Ich bin alles, was ist, alles, was jemals war, alles was jemals sein wird, alles, was jemals sein könnte, und auch alles, was überhaupt hätte gewesen sein können. ICH BIN.

Priester: Ihr seht, Gefährtinnen und Gefährten, wir müssen uns nicht etwa versammeln, um unsere getötete Mutter zusammenzufügen und wiederzuerwecken. Die Worte im Enuma Elish sind nur das Gleichnis einer einzigen Sichtweise der Schöpfung, die Marduk aus dem Leib seiner Mutter vorgenommen hat. Er ist ihr Sohn, nicht ihr Feind, und daher sollten wir alle Gedanken an Kampf oder Rache aus unseren Herzen verbannen.
Mummu Tiamat lebt!

Priesterin: Gleichwohl sind die verstreuten Teile des Mutterdrachens die Bestandteile unserer Welt. Himmel und Erde sind getrennt in dem winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit, die wir Menschen wahrnehmen können. In vielen Mythologien der Welt gibt es Legenden eines abgeschlagenen Drachenhauptes, das zu Sonnen- oder Mondfinsternissen Sonne und Mond verschlingen will und nicht hinunterschlucken kann, weil ja der abgeschnittene Körper fehlt.
Wir verstehen jetzt, daß diese Sichtweise zu einseitig ist, daß die Eklipsen vielmehr die Wiedervereinigung von Tiamats Sonnenhaupt mit ihrem Schlangenschwanz, von Himmel und Erde, die Wiedergeburt und Erneuerung der Welt bedeutet!

Darstellerin des Himmels: Ich bringe der Göttin diesen Weihrauch dar. Möge er aufsteigen zum Himmel und mir die Inspiration der sternübersäten Nut gewähren!
(Weihrauch wird dargeboten)

Darstellerin der Erde: Ich bringe der Göttin dieses Wasser aus einer Quelle in der Erde dar. Möge es den Grundstein dieses Schreins befeuchten und mir die Inspiration der vollbusigen Gaia gewähren!
(Quellwasser wird über dem Altar versprengt)

Teilnehmer: Ich bringe der Göttin diese neue Kerze dar. Möge ihr Licht in unsere Herzen leuchten und sie öffnen für den nie versiegenden Lebensstrom, den uns die Mutter spendet.
(neue Kerze wird entzündet)

Priester: Luft, Wasser und Licht sind nun hier versammelt, die drei Heiligen Elemente, die die Grundlage allen Lebens sind und deren Vereinigung die Welt symbolisiert.

Priesterin: So laßt uns als nächstes die verstreuten Teile unserer Mutter symbolisch einsammeln, um sie wieder zusammenzufügen, und dabei die Namen ihrer Töchter intonieren.

Priester: Ich preise Deinen Leib, Deinen schwarzen Schuppenschwanz, oh Tiamat, der sich durch die Tiefen des Himmelsozeanes windet. Obwohl Marduk ihn einst zertrennt hat, trägt er in der Nacht noch immer die zwölf Tierkreiszeichen, die Deine zweitgeborenen Kinder sind.
(er zieht mit seinem Stab einen liegenden Kreis um die Teilnehmer)
Dies ist der Schwanz des Drachen!

(Darstellerin des Himmels nimmt bequeme Meditationshaltung ein und unternimmt eine kurze Trancereise zu einer Himmels/Meeresgöttin ihrer Wahl, um deren Energien in sich aufzunehmen. Die anderen Teilnehmer intonieren während dieser Zeit leise (!) die Namen verschiedener Göttinnen des Nachthimmels, z.B. Nut, Selene, Nephthys, Artemis etc.)

*** kurze Pause ***

Priesterin: Ich preise auch Deine Schwingen, Große Tiamat, die weit ausgebreitet das All umspannen. Unaufhörlich bewegen sie sich und halten so die sieben Planeten, die Geschwister der Erde, Deine erstgeborenen Kinder, in Bewegung durch die weiten Räume unseres Sonnensystems. Und auch die Erde selbst bewegst Du dadurch, erzeugst ihren wirbelnden Tanz durch den sternübersäten Jahreskreis.
(sie streckt die Arme weit nach oben und zur Seite aus)
Dies sind die Flügel des Drachen!

(Darstellerin des Himmels und der Erde tauschen die Plätze. Darstellerin der Erde nimmt bequeme Meditationshaltung ein und unternimmt eine kurze Trancereise zu einer Luft/Vegetationssgöttin ihrer Wahl, um deren Energien in sich aufzunehmen, während die Teilnehmer die Namen verschiedener Frühlingsgöttinnen, z.B. Brigidh, Ostara, Demeter etc. intonieren)

*** kurze Pause ***

Priester: Ich preise Deine langen Hörner, mächtige Tiamat, die der Steinbock von Dir geerbt hat. Gleich Erzadern liegen sie noch immer in der Tiefe der Erde, und in ihrem Inneren bergen sie die Schönheiten der unterirdischen Schätze und die Fruchtbarkeit des Bodens, die Du unter unseren Füßen verborgen hast. Wenn die drei heiligen Elemente Licht, Luft und Wasser zusammenkommen, vereinigen sie sich zu Erde und Leben, das Deine Füllhörner verstreuen.
(er deutet mit dem Stab gebogene Linien auf dem Boden an)
Dies sind die Hörner des Drachen!

(Darstellerin der Erde unternimmt eine kurze Tranceriese zu einer Erdgöttin ihrer Wahl, um deren Energien in sich aufzunehmen, während die Teilnehmer eine Erdhöhle in fruchtbarem schwarzen Boden um sie herum visualisieren, die voller Wurzeln und Edelsteine ist, dabei können auch noch Namen von Erdgöttinnen intoniert werden, z.B. Gaia, Nerthus,...)

*** kurze Pause ***

Priesterin: Ich preise Deinen feurigen Odem, Mutter Tiamat, das Feuer, das uns allen den Lebensfunken gegeben hat, Göttern, Menschen und Tieren. Dein ist das Eine, das in den Herzen von Sternen, wo Atome verschmolzen werden, ebenso brennt wie in unseren Herzen, wenn uns die Leidenschaften antreiben. Wir sind Deine Kinder, Mutter, wir atmen das Licht Deines Lebens, das Du uns durch die Glut der Sonne schenkst, die Dein Haupt ist.
(sie ballt die Hand vor dem Altar zur Faust)
Dies ist das Feuer des Drachen!

(Darstellerin der Erde und des Himmels tauschen die Plätze. Darstellerin des Himmels nimmt bequeme Meditationshaltung ein und unternimmt eine kurze Trancereise zu einer Sonnengöttin ihrer Wahl, um deren Energien in sich aufzunehmen. Die Teilnehmer visualisieren gleißend helle Sonnenstrahlen, die sie umgeben, dabei können auch noch Namen von Sonnen/Feuergöttinnen intoniert werden, z.B. Amaterasu, Pelee, Hathor, Grainne etc.)

Priester: Möge die Vereinigung nun beginnen!

Die Teilnehmer bilden einen Kreis vor dem Altar. Die Darstellerinnen von Himmel und Erde stellen sich einander gegenüber auf. Grob soll die Bewegungsrichtung der beiden dabei in einer Spirale auf die Mitte zu laufen, wo sie sich am Schluß symbolisch vereinigen.
Wie dies genau ausgestaltet wird, bleibt der spontanen Inspiration der Darstellerinnen überlassen. Die Spanne kann von Pantomime über Tanz zu Bewegungstheater reichen, der Schwerpunkt soll aber immer auf Bewegung und weniger auf Rezitation beruhen. Wenn das Bedürfnis nach Gesang besteht, so ist wortloser zu bevorzugen.
Die Zuschauer können am Anfang eingebunden werden, wenn die Darstellerinnen sich noch außen bewegen, und sie beide noch zusätzlich schmücken oder bemalen, wobei erdige Farben für die Darstellerin der Erde und Blau, Silber und Gold für die Darstellerin des Himmels geeignet sind. Wenn die Darstellerinnen sich dann weiter innen auf der Spirale bewegen, werden lichte und dunkle Energien visualisiert, die in Himmel und Erde einfließen und die Bewegung auf den Vereinigungspunkt hin antreiben.
Falls Musik zur Untermalung gewünscht wird, sind Trommelrythmen geeignet, besonders, wenn die Teilnehmer selbst für die Darstellerinnen trommeln.
Wie weit die Vereinigung selbst am Schluß dargestellt wird, bleibt dem persönlichen Geschmack überlassen, sollte aber mit allen Teilnehmenden abgesprochen sein. Eine pantomimische Ausgestaltung vor einem größeren Teilnehmerkreis endet vielleicht in einer symbolischen Umarmung, ein Pärchen, daß dieses Ritual allein in seinen Privaträumen ausführt, vollzieht am Schluß vielleicht den Großen Ritus.
Wenn jedenfalls Himmel und Erde sich mehr oder weniger symbolisch vereinigen, rufen alle Teilnehmer auf dem Höhepunkt der Vereinigung laut TIAMAT aus, um die angesammelte Spannung in den Vereinigungspunkt spirituell zu entladen.

Priesterin: Tiamat ist zusammengefügt! Himmel und Erde sind vereint! Die Schöpfung beginnt neu!
(sie hebt ihren Ritualdolch hoch über den Kopf)
Die Mutter gibt der Welt die Energien des Allerersten Anfangs wieder!
(alle Teilnehmer visualisieren Blitze, die sich aus der Dolchspitze lösen und in alle Himmelsrichtungen springen. Der Energiestrom kann sehr stark werden und zum Teil auch auf die Teilnehmer überspringen, während dieser Phase können auch Visionen von der Göttin empfangen werden. Der Strom soll so lange wie möglich aufrechterhalten werden)

Priester: Wir danken der Göttin Tiamat für die Erneuerung, die der Vereinigung innewohnt, und für die große Kraft, die sie uns und der Welt gegeben hat. Wir haben einen neuen Zyklus begonnen. Ein neuer Funken des Lebensfeuers ist gezündet worden.

(Alle setzen sich nieder. Erfahrungsberichte werden ausgetauscht, Getränke und eine Kleinigkeit zu essen werden ggfs. zur Stärkung gereicht)

Priesterin: Tiamat hat den nächsten Zyklus neu erschaffen. Himmel und Erde, die Göttlichen Schwestern, haben einander in Liebe umarmt. Das Licht des Allerersten Males ist neu gegeben worden. Die Welt lebt wieder!
Im Namen der Großen Göttin der ungezählten Namen segne ich alles, was in diesem Zyklus neugeboren worden ist: die Seraphim, die Drachen und die Feen, die Menschen, die Tiere und die Pflanzen, das Plankton der Ozeane, den fruchtbaren Boden und den glühenden Kern unserer Mutter Erde selbst.

Priester: Mögen sie alle leben in Liebe und Glück solange der Zyklus währt!

Alle Teilnehmer: So möge es sein!

- Ende -

© 2001 Diane Neisius



© 2002 Medusa Iseum