(K)Ein Weihnachtsmärchen

Sarina Stützer


Du möchtest, dass ich Dir ein Märchen erzähle, mein Kind? Also höre gut zu. Es lebte einmal vor sehr langer Zeit ein einem sehr weit entfernten Land ein Volk, das sich für sehr fortschrittlich hielt. Es hatte das Geheimnis des Fliegens gelöst, viele schlimme Krankheiten besiegt und die Landwirtschaft so weit entwickelt, dass niemand mehr hungern musste. Trotzdem gab es in diesem Land noch seltsame Bräuche. Zum Beispiel fingen die Menschen zu einer bestimmten Jahreszeit im Wald Kaninchen, von denen es damals noch genug gab. Als das Volk in dem Land immer größer wurde, ging es nicht mehr, dass jeder sich sein Kaninchen selbst im Wald holte. Deshalb begannen einige Bewohner des Landes, Kaninchen zu züchten, damit zur bestimmten Jahreszeit genug Kaninchen da waren.

Wenn die Menschen ein Kaninchen gefangen oder gekauft hatten, schnitten sie ihnen die Hinterbeine ab und setzten sie aufrecht in Vasen. Oft erledigten die Kaninchenzüchter das Abschneiden, damit die Käufer nicht so viel Arbeit mit den Kaninchen hatten. Manchmal nahmen die Züchter Hunderte Kaninchen, schnitten ihnen die Hinterbeine ab und fuhren in die Stadt, um sie dort anzubieten. Die Kaninchen, die nicht verkauft wurden, wurden weggeworfen, denn für das nächste Jahr mussten sowieso neue gezüchtet werden, und ohne Hinterbeine konnte man ja sonst mit ihnen nichts anfangen.

Die Vasen mit den Kaninchen stellten die Menschen dann in eine besonders geschmückte Ecke ihres Wohnzimmers und fanden das sehr festlich. Die Kaninchen schrien furchtbar, wenn ihnen die Beine abgeschnitten wurden, und auch noch eine Zeit lang, wenn sie in den Vasen standen. Das fanden die Menschen etwas unangenehm, denn Kaninchen können herzzerreißend schreien. Aber nach einer Woche wurden die Schreie leiser, weil die Kaninchen schwächer wurden und langsam starben. Zum Schluss wimmerten sie nur noch so leise, dass es nicht mehr besonders störte. Wenn sie später ganz tot waren, blieben sie noch eine kleine Weile frisch. Danach klappten die Ohren herunter, das Fell wurde struppig und begann auszufallen. Deshalb entwickelten die Züchter Kaninchenrassen, die länger frisch blieben als die normalen Kaninchen. Aber irgendwann starben auch sie, und spätestens, wenn die Leichen begannen zu stinken, wurden sie aus den Vasen genommen und weggeworfen. In manchen Städten gab es extra Kaninchenabholdienste, damit nicht überall die weggeworfenen Kaninchen herumlagen. So starben jedes Jahr Tausende und Tausende Kaninchen einen langsamen Tod, nur um zwei bis drei Wochen in den Wohnzimmern herumzustehen und hübsch auszusehen.

Nun wirst Du sagen, mein Kind, dass Du froh bist, nicht in einem Land mit solch grausamen Bräuchen zu leben. Aber du irrst. Bei uns heißen die Kaninchen Weihnachtsbäume. Wir können nur ihre Schreie nicht hören.



© 2003 Medusa Iseum