Tefnut, der Lotos und die Zeit

von

Diane Neisius


Inhalt


Tefnut in der Theogonie von Heliopolis
Tefnut und der Lotos
Tefnut und die komplexe Zeit
Zusammenfassung

Tefnut in der Theogonie von Heliopolis


Das Götterpaar Schu und Tefnut sind die ersten beiden Götter, die von Ra erschaffen wurden (oder aus ihm hervorgegangen sind), wenn man der Kosmogonie von Heliopolis folgt. Während Schu in Darstellungen relativ häufig zu sehen ist, bleibt Tefnut, die immerhin hier die erste rein weibliche Gottheit ist, überraschend diffus. Nicht einmal ihr Name erlaubt klare Rückschlüsse über ihre Bedeutung:


sollte sich ägyptisch "Tefenet" lesen, die Schreibarten


"Tef-Nut" oder


(wörtlich: "Die Ausgespiene")

sind spätzeitlich und vielleicht eher als Anspielungen auf "Mutter von Nut" oder "Tochter von Ra" zu verstehen. Die Ableitung des Namens von "tef", "speien" mit Bedeutung "Herrin der Feuchtigkeit" ist nach Helck, Lexikon der Ägyptologie jedenfalls wenig wahrscheinlich. Er gibt dagegen die eine weit interessantere Deutung des Namens als Ableitung von "tefen", "verformen" (insbesondere von Metallgegenständen, das Treiben von Schalen etc.). Schu und Tefnut wären demnach "der Trocknende" (Sonne) und "die sich Verformende" (Mond) und ständen in ihrer Dualität für die Abfolge von Tag und Nacht, mithin die Zeit. Soweit die Ägyptologie.
Versucht man ein wenig mehr, den spirituellen Aspekt von Tefnut zu erfassen, muß man sehen, ob sich das so gewonnene Bild der Göttin in einen Glaubensaspekt des Universums einfügt. Die Stellung von Tefnut ist als Tochter der Urkraft Ra verbürgt, und ihre Kinder sind Nut und Geb, die Personifikationen von Himmel und Erde. Die rein duale Genealogie endet damit, denn Nuts Kinder sind bekanntlich Osiris, Isis, Seth und Nephtys, mit denen dann auch schon die gesamte Osirianische Mythologie beginnt. Schu und Tefnut und Geb und Nut haben damit eine gewisse Sonderstellung unter den Göttern, die es durchaus rechtfertigt, Tefnut mit der Zeit in Verbindung zu bringen.

Danach gehen aus der spirituellen, ungeformten Urenergie des Universums, aus Ra, Amun, Atum oder Ptah, wie immer man das nennen will, zunächst Raum und Zeit hervor. Nachdem die Raum - Zeit, also der Kosmos, so wie wir ihn physikalisch wahrnehmen können, entstanden ist, formen sich darin die Verkörperungen der elementaren Kräfte als nächster Schritt. Gewissermaßen ist jetzt die Bühne und mit ihr die Götter, die auf ihr agieren, entstanden.
Geb und Nut als Himmel und Erde sind recht leicht als "Raum" zu identifizieren. Der Luftgott Schu, der die beiden trennt (und durch diesen Akt den Welt - Raum gewissermaßen aufspannt), führt in den Raum die Bewegung ein. Luft ist ein sehr bewegliches Element. Ist Bewegung gleich Zeit? Denn Zeit ist in ihrem Wesen nicht erfaßbar, sie kann nur anhand von Bewegung überhaupt wahrgenommen werden: der Mond bewegt sich um die Erde, die Erde um die Sonne, die Erde dreht sich, wodurch sich scheinbar die Himmelskörper von Horizont zu Horizont bewegen, und das war für die Menschen das erste Zeitmaß. Sand rieselt durch ein Stundenglas, Zeiger kreisen vor einem Zifferblatt: alles Bewegungen. Sogar in einer modernen Digitaluhr führt ein Kristall hochfrequente Schwingungen aus.
Somit ist Tefnut die Göttin, die sich mit ihrem Gefährten durch Bewegung offenbart, ein harmonischer Teil des Bildes, das uns die Theogonie von Heliopolis bietet. Dazu paßt auch gut, daß von Tefnut selbst nur ein diffuses, wenig differenziertes Bild überliefert ist. Sie als Herrin der Zeit ist schwer verstandlich erfaßbar, ebenso wie das Wesen der Zeit selbst, das sich ja auch nur mittelbar durch Bewegung bemerkbar macht.
So auch Tefnut, die uns eher in Personifikationen anderer Göttinnen begegnet.

Tefnut und der Lotos


Die seltenen Darstellungen der Göttin Tefnut zeigen diese meist löwenköpfige Frau, die sich i. a. nicht von der Darstellung Sachmets unterscheidet. Darauf haben schon eine ganze Reihe von Autoren hingewiesen (siehe wieder Helck, a.a.O.). Das sollte nicht überraschen, denn es gibt eine ganze Reihe von Löwengöttinnen in Oberägypten, der Aspekt der reißenden Löwin offenbart sich also nicht nur in Sachmet. Aber ebenso wie Sachmet ist auch Tefnut nicht nur wild, sondern hat auch eine sanfte Seite, die sehr schön in der Geschichte von der Heimkehr der Sonnenkatze erzählt wird. So wie Sachmet - Bastet kann auch Tefnut die sanfte, liebevolle Tochter des Sonnengottes sein, die von Heimweh geplagt wird, wenn Thoth ihr von zuhause erzählt.
Auch zu Hathor besteht eine Verbindung, denn hier erzählt uns ja die geschichte von der Aussendung des Sonnenauges, daß diese Göttin eine wilde und zerstörerische Seite hat. Als Tochter von Ra hat sie ihren normalen Sitz auf seiner Stirn, von wo aus sie mit ihrem Gift- oder Gluthauch seine Feinde vernichtet, ein Aspekt, der auch auf Tefnut zutrifft. Andererseits hat Hathor eine viel bedeutendere Rolle als nährende Himmelskuh und Göttin der Liebe, was sie wiederum in die Nähe von Bastet rückt.
Wir haben also einerseits Verbindungen von Sachmet, Hathor und Bastet zu Tefnut. Andererseits sind genealogisch mit Tefnut natürlich, wie ich schon vorher beschrieben habe, Nut und Isis als Tochter und Enkelin verbunden. Alle diese Verbindungen fügten sich für mich in einem Moment der Trance zum Bild einer Lotosblüte:

Das Bild war für mich sehr erschütternd und von einer überwältigenden Kraft. Vielleicht ist es kein Zufall, daß so viele Bilder von Göttinnen mit einem Lotosszepter dargestellt sind.
Tefnut als Tochter der Sonne sitzt verborgen im Herzen des Lotos. Aspekte von ihr werden nur durch die sich öffnenden Blütenblätter sichtbar, als Sachmet, Hathor, Bastet, über denen das Sonnenauge aufsteigt. Sie zeigt sich als liebevolle Mutter, die ihre Kinder wütend verteidigen kann, aber auch kundige Heilerin ist; sie ist leidenschaftliche Geliebte und nährende Kraft; sie zeigt sich als die, die Geborgenheit und Wärme gibt.
Auf der anderen Seite entspringt aus dem Blütengrund der Stengel, Tefnut hält als Herrin der Zeit das Universum in Bewegung, denn sie ist der unmittelbare weibliche Aspekt der schöpferischen Urkraft Ra, und schließlich tritt sie uns Menschen ganz unten in Gestalt der Isis gegenüber, der Personifikation, die so weit symbolisch vermenschlicht ist, daß wir sie begreifen und verehren können, auch wenn ihr wahres Wesen verborgen bleibt.
Isis-Tefnut als Herrin der Zeit klingt auch bei Apuleius durch, wenn sie sich offenbart: "Ich habe Macht über die Schicksale."
Das wahre Wesen der Göttin bleibt also im Herzen der Blüte verborgen - wir können nur ihre Gesichter in Stengel und Blütenblättern interpretieren.

Tefnut und die komplexe Zeit


Versteht man Tefnut als die Herrin der Zeit, dann muß man, wenn man über die Göttin meditiert, auch Gedanken an das, was sie beherrscht, verwenden.
Was ist Zeit? Meßbar wird sie nur durch Bewegung, sicheres Wissen haben wir nur über die Gegenwart, das "Jetzt!", dessen wir uns bewußt sind. Die Zukunft erschließt sich uns nur durch diffuse Spekulationen oder Visionen, die Vergangenheit liegt in unseren ebenso diffusen Erinnerungen. Je weiter man sich vom "Jetzt" entfernt, umso unschärfer und unsicherer werden die Geschehnisse. In der fernen Vergangenheit - was sagen Ruinen und Tonscherben, Überlieferungen, die oft kopiert und damit verfälscht wurden, schon über die Menschen, die damit lebten? Über ihre Wirklichkeit? Was bedeutet denn "Wirklichkeit" noch vor der alles zermalmenden Kraft der Zeit? Liest man Geschichtsbücher, so gewinnt man stets den Eindruck, die Ereignisse vor 1000, 2000, 3000 Jahren seien recht sicher bekannt. Befaßt man sich näher mit den Wissenscaften Archäologie und Geschichte, so stellt man schnell fest, daß ein Gutteil davon pure Spekulation ist, teilweise recht offensichtlich von kultureller und weltanschaulicher Herkunft des Forschers beeinflußt. Als kleines Beispiel kann man ein Geschichtsbuch aus den Dreißiger Jahren lesen...
Sicher ist an der Vergangenheit also nichts. Stimmt es, daß das Wetter besser war, als ich Kind war, die Sommer wärmer, die Winter mit richtigem Schnee? Das läßt sich noch relativ leicht kontrollieren. Haben Gestalten wie König Artus oder Karl der Große wirklich gelebt? Das wird schon schwieriger zu entscheiden. Die meisten von uns glauben, daß Kaiser Karl gelebt hat, weil wir es in der Schule gelernt haben. Was, wenn die Schulbücher fehlerhaft sind? Unsere heutige Jahreszählung wurde erst im Hochmittelalter, zweihundert Jahre nach Karl, eingeführt, und es gibt Wissenschaftler, die Argumente dafür vorbringen, daß die Jahreszählung ungenau ist und Karl eine ebenso mythische Gestalt wie Artus. Gleichwohl glauben viele Menschen, daß beide wirklich existiert haben. Werden sie dadurch nachträglich wirklich?
In der Zukunft sieht es nicht besser aus. Während ich mir recht sicher sein kann, mit der restlichen Tinte im Füller (das Originalmanuskript ist handschriftlich, Anm.) noch zuende schreiben zu können, ist die weitere Zukunft recht diffus - bin ich in 5 Jahren noch in dieser Stadt, in 50 Jahren noch am Leben? Werden Menschen in 500 Jahren andere Welten besiedelt haben? Vielleicht, wenn genügend daran glauben, daß es so ist? Beispielsweise glaubte um 1900 niemand so recht daran, daß ernsthaft Menschen zum Mond gelangen können. Aber einige Menschen hatten als Kinder Jules Vernes "Reise zum Mond", damals Science Fiction, gelesen und glaubten daran. Sie folgten ihrer Vision und begründeten die Grundlagen der Raketentechnik. 70 Jahre später standen Menschen auf dem Mond. War das möglich, weil schließlich doch immer mehr Menschen daran glaubten, daß es geht? Hat auch hier der Glaube die sprichwörtlichen Berge versetzt?
Nach diesen Exkursen über Vergangenheit und Zukunft sehen wir, daß alles davon abhängt, wie wir glauben, daß es gewesen ist oder sein wird. Und deshalb folge ich auch den Ausführungen der Eingangskapitel (den Rest halte ich für weniger sinnvoll) von Carols "Liber Kaos" über die quantenmechanische Ausbreitung von Wahrscheinlichkeitswellen und seinem Begriff der "retroaktiven Magie" - kurz gesagt, dienen magische Techniken nur dazu, den Glauben daran zu beeinflussen, ob etwas in der Zukunft geschehen wird - oder auch, in bemerkenswerter Symmetrie - ob in der Vergangenheit etwas geschehen ist. Den Glauben an etwas in der Vergangenheit zu verändern nennt Carol "retroaktive Magie". Sie verändert die Vergangenheit in unserer subjektiven Wirklichkeit.
Wenn es aber möglich ist, die Vergangenheit zu beeinflussen, dann kann Zeit nicht der Faden sein, der so unveränderlich abgespult wird. Dann ist Zeit nicht so linear, wie wir sie zumeist erfahren, und Tefnut nicht die Schicksalsgöttin, die spinnt und den Faden irgendwann unwiderruflich abschneidet. Dann muß Zeit vielmehr ein Gewebe sein, das auf ungeheuer komplexe Weise verflochten ist und an dem Sie webt. Sie kann jeden Punkt des Gewebes verändern, Vergangenheit, Zukunft, kann ganze Muster heraustrennen. Trennt sie gerade jetzt das Muster, das wir "Kaiser Karl" nennen, aus dem Gewebe, da Zweifler aufgetaucht sind? Oder wird sie das Muster ausbessern, die Zweifel sich als haltlos herausstellen, Karl auch weiterhin "wirklich existiert" haben?
Ich muß immer daran denken, wie ich nach meiner gescheiterten Beziehung in tiefem Schmerz Isis nach dem Warum fragte und sie mir antwortete: "Beruhige Dich. Einiges wird vielleicht nie geschehen sein...". In einer linearen Zeit wäre das nicht möglich. In einer komplexen Zeit, in der das ganze Gewebe sich ändern kann, schon.
So offenbart sich Zeit für mich als etwas, das ebenso komplex und von so verborgener Gestalt ist wie ihre auch ihre Herrin.

Zusammenfassung


Tefnut als löwenköpfige Herrin der Zeit erschließt sich mir nicht als die Schicksalsgöttin mit Spindel und Sichel, sondern als die Große Weberin. Sie ist es, die die ineinander verwobenen Schicksalsfäden verändert, unablässig, und ihr Wesen ist genauso verborgen wie das Herz der Lotosblüte, das sie als Szepter in ihrer Hand trägt.
Gleich der magischen Einweihungsspirale führt auch in das Herz der Blüte ein spiraliger Weg. Aber diese Spirale ist hat nicht endlich viele Stationen, die beschritten werden können, sie ist logarithmisch, unendlich oft windet sie sich enger und enger um das Zentrum, das nie erreicht werden kann. Das Wesen der Göttin ist in letzter Konsequenz nicht durchschaubar.
Diese Spirale kann, ebenso verwickelt wie das Zeitgewebe, in ihrer Gesamtheit nicht durchlaufen, sondern bestenfalls erahnt werden. Das letzte Verstehen ist vielleicht nur möglich, indem man - auf anderen Wegen - im Wesen der Göttin selbst aufgeht.

© 2000 Diane Neisius.



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