Quantenmechanik und Magie
Diane Neisius
Vortrag vom 16. 03. 2003 im Healing of the Stars Lyceum
Inhalt
Einführung
Anschauliche Quantenmechanik
Die Rolle der Zeit
Magie und Naturgesetze
Zusammenfassung
Anmerkung
Referenzen
Einführung
Nur wenigen Menschen, die sich in unserer Zeit mit spirituellen Dingen
beschäftigen, ist bekannt, daß es recht handfeste Versuche gibt, die Magie als
solche auf eine solide theoretische Grundlage zu stellen. Solide soll
dabei nicht bedeuten, hieb- und stichfeste formale Beweisbarkeit im
Sinne der modernen Naturwissenschaften, sondern eher ein plausibles
Gedankengebäude, das mit unseren Beobachtungen der täglichen magischen Arbeit
verifiziert oder widerlegt werden kann. Solche unbewiesenen, aber auch
unwiderlegten (und damit immerhin plausiblen) Modellvorstellungen sind ein
Werkzeug vieler moderner Wissenschaften - auch wenn uns in populären Magazinen
und Büchern immer wieder die Vorstellung vermittelt wird, all das seien
gesicherte Erkenntnisse.
Für die Magie gibt es eine Überlegung [1], sie angelehnt an die
Quantenmechanik
als einen Teil der Natur zu erklären, und damit wird sich der vorliegende
Vortrag beschäftigen. Nun wird sicher dem einen oder anderen beim Wort
Quantenmechanik in unangenehmer Weise der Physikunterricht der Schule
mit seinen gelegentlich schwer durchschaubaren Formeln in Erinnerung kommen,
doch keine Sorge. Dieser Vortragstext soll nur eine anschauliche Vorstellung
vermitteln und kommt daher völlig ohne Formeln und Diagramme aus. Alles, was
man benötigt, ist das, was jeder Magietreibende ohnehin besitzen sollte: eine
Menge Vorstellungskraft.
Anschauliche Quantenmechanik
Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts standen mit ihren Modellvorstellungen
vor einem ernsten Hindernis. Ihre Experimente waren weit genug entwickelt, um
sich mit sehr kleinen Teilchen in der Größenordnung von Atomen zu befassen.
Man baute Glimmröhren, in denen Unterdruck herrschte und die man mit
Hochspannungsanlagen traktierte (ein paar der modernen Nachfahren davon sind
Neonleuchten, Fernsehröhren und Röntgenapparate). Nichtsdestoweniger zeigten
die Atombausteine, die man damit untersuchte, teilweise sehr widersprüchliche
Eigenschaften. Elektronen zum Beispiel, die gewöhnlich den elektrischen Strom
transportieren, waren, so konnte man demonstrieren, winzige Teilchen, die in
einer Vakuumröhre ein kleines Flügelrädchen antreiben konnten (das kann man
sich so ähnlich wie mit einem Sandstrahlgebläse vorstellen). Es gab aber auch
andere Experimente, bei denen man Elektronen durch einen sehr engen Spalt
fliegen ließ - und völlig überraschend bildete sich auf einem dahinter
befindlichen Leuchtschirm ein Streifenmuster, wie es sonst nur Wellen
erzeugen, die durch eine enge Öfnung laufen.
Waren Elektronen, Licht und all das nun Teilchen oder Wellen? Der Streit
darüber hielt teilweise weit bis ins 20. Jahrhundert an. Es war der
französische Physiker Louis de Broglie, der die entscheidende Überlegung
prägte, daß nämlich jedes Materieteilchen mit einer Welle verknüpft ist und
deshalb auch Welleneigenschaften zeigen muß.
Wie hat man sich das nun vorzustellen? Von Welleneigenschaften bemerken wir
üblicherweise nichts; wenn ich nach meinem Vortrag durch die Tür nach draußen
gehe, dann werde ich voraussichtlich kein Streifenmuster an der Wand bilden.
Das liegt einfach daran, daß die Wellenlängen, die zu Materieteilchen gehören,
unglaublich klein sind und sich deshalb in unserer normalen Wahrnehmung nicht
zeigen. Man bemerkt sie erst, wenn man Atome zu untersuchen beginnt.
Stellen wir uns deshalb als Gedankenexperiment einmal vor, die
Wellenlänge eines Apfels sei sehr viel größer, etwa ein halber Meter. Das ist
zunächst einmal ganz abstrakt, denn was würde das schon bedeuten? Es würde
bedeuten, wenn wir versuchten den Apfel wiederholt durch eine Wand mit Spalt
zu werfen, würden die Auftreffpunkte an der Wand dahinter nach einiger Zeit
ein Streifenmuster bilden, wie es für Wellen charakteristisch ist. Der Apfel
kann also - das ist der wichtige Schluß - nicht an beliebiger Stelle sein.
Seine Welle schreibt ihm gewissermaßen die möglichen Aufenthaltsorte
vor.
Tatsächlich ist es so, daß schon der auf den Spalt zufliegende Apfel nicht an
jedem Ort "ist". Ähnlich, wie beispielsweise in einem Konzertsaal nicht jedes
Instrument an jedem Ort gleich gut zu hören ist, weil die Schallwellen eben
nur Schwingungsbäuche an bestimmten Orten ausbilden, "befindet" sich der
fliegende Apfel auch nur an den Schwingungsbäuchen seiner zugehörigen Welle.
Diese abstrakte Welle beschreibt also tatsächlich die
Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Apfels.
Das klingt abenteuerlich. Wie ist es denn nun mit dem ruhenden Apfel, bevor
ich ihn greife und zum Spalt werfe? Man kann sich überlegen, daß es gar nicht
so einfach ist, den Apfel überhaupt zu erwischen. Wenn er daliegt und eine
Wellenlänge von einem halben Meter hat, ferner die Welle seine
Aufenthaltswahrscheinlichkeit beschreibt, dann ist der Versuch, ihn zu packen,
wie der Griff in eine Lostrommel. Man erwischt den Apfel nur mit einer
gewissen Gewinnchance. Mit anderen Worten, es ist überhaupt nicht sicher zu
sagen, wo innerhalb seiner Wahrscheinlichkeitswelle sich der Apfel
befindet. Er ist gewissermaßen unscharf - möglicherweise würde man ihn nicht
einmal sehen können, sondern nur eine mehr oder weniger neblige
"Apfelwolke".
Wenn wir unsere Überlegungen mit dem Apfel und seiner
Aufenthaltswahrscheinlichkeitswelle noch etwas weiter treiben, können wir uns
fragen, ob man den Apfel dann überhaupt zum Beispiel in einen Karton packen
könnte. Das geht solange gut, wie der Karton groß genug für die Welle ist oder
seine Wände dicker als die Wellenlänge. Ein dünner Karton bereitet Probleme:
wenn nämlich die Welle auch außerhalb des Kartons ist, bedeutet das,
der Apfel hat dort eine geringe Chance zu sein. Vergleichen wir die
Aufenthaltswahrscheinlichkeit wieder mit der Lostrommel, so kann ein Griff in
die Welle (also Lostrommel) außerhalb des Kartons eine bestimmte Gewinnchance
haben. Mit anderen Worten, der Apfel könnte plötzlich außerhalb des Kartons
sein. Dieses Phänomen nennt man Tunneleffekt; es läßt sich in atomarer
Größenordnung tatsächlich messen und ist beispielsweise dafür verantwortlich,
daß man Mikrochips nicht beliebig klein bauen kann.
Man kann den Apfel aber in einen Karton mit dicken Wänden packen. Der Apfel
kann nicht in einer Kartonwand sein; deshalb bleibt er drinnen. Aber auch hier
ergeben sich ungewöhnliche Phänomene: beispielsweise bildet der Apfel nun eine
stehende Welle im Karton. Wenn wir versuchen, etwas mit ihm anzustellen, etwa
den Karton zu schütteln, damit der Apfel drin herumrollt, ist das nicht in
beliebigem Maße möglich. Wir würden feststellen, daß bei einer ganz genau
bestimmten Menge an Bewegungsenergie die Wahrscheinlichkeitswelle des Apfels
einfach in eine höhere Oktave springt.
Dieses Verhalten zeigen Atome, und es ist zum Beispiel der Grund dafür, daß
glühende Gase nur Licht ganz bestimmter Wellenlängen aufnehmen und abgeben
(man nennt das Spekrallinien). Und diese ganz bestimmten, kleinen
Energiebeträge, die aufgenommen oder abgegeben werden, gaben der
Quantenmechanik auch ihren Namen: von lateinisch quantum, kleine Menge
(auch das alte Apothekergewicht Quentchen leitet sich davon ab).
Die Rolle der Zeit
Nach dem vorstehenden Exkurs in das Reich der quantenmechanischen Phänomene
müssen wir uns nun mit einem anderen, scheinbar ganz alltäglichen Phänomen
beschäftigen: der Zeit.
Wir haben gesehen, daß jedes Stück Materie, das existiert, nach de Broglie mit
einer Welle verknüpft ist. Wellen haben, sofern sie nicht in einem Resonator
(einer Flöte zum Beispiel) eingeschlossen sind, eine sehr fundamentale
Eigenschaft, sie breiten sich aus. Auch der oben angeführte quantenmechanische
Apfel hätte strenggenommen gar nicht auf einem Tisch liegen können: seine
Welle hätte sich sofort durch das Zimmer ausgebreitet. Eine solche
Ausbreitungsbewegung führt uns aber sofort zum Begriff der Zeit - ist doch
Bewegung nichts anderes als eine Wegstrecke, die in einer bestimmten
Zeitspanne zurückgelegt wird.
Im Zusammenhang mit der Magie führt uns das nun sofort zu den drei weiteren
Begriffen der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Denn schließlich soll mit
der Magie recht häufig auf den Verlauf der Zukunft Einfluß genommen werden.
Wir hatten gesehen, daß in der Quantenmechanik Wahrscheinlichkeiten und eine
allgemeine Unschärfe von Objekten eine Rolle spielen. In der Zeit ist
das im Prinzip ähnlich. Der einzige Zeitpunkt, über den wir mit ziemlicher
Sicherheit Bescheid wissen, ist das Jetzt, die Gegenwart. Was ist mit der
Zukunft? Da gibt es nur Wahrscheinlichkeiten. Ich darf recht sicher davon
ausgehen, am Ende dieses Vortrages noch am Leben zu sein; desgleichen habe ich
in einem Jahr oder fünf Jahren noch gute Chancen. In zwanzig Jahren ist das
schon nicht mehr so sicher; und in fünfzig Jahren werde ich mit einiger
Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben sein. Gleiches gilt für viele
Ereignisse, die in der Zukunft eintreten können; je weiter wir uns vom Jetzt
fortbewegen, um so unschärfer werden die Aussagen über die mögliche Zukunft
sein müssen.
Interessanterweise gilt etwas ganz Ähnliches für die Vergangenheit. Ein
Gedächtnis ist unzuverlässig und läßt sich beeinflussen, das haben wir alle
vielleicht schon erlebt. Aufzeichnungen können verlorengehen, Magnetbänder
verrauschen, Papier wird brüchig, der Kunststoff einer CD wird spröde. Selbst
Tontafeln oder Felsentempel verwittern über eine lange Zeit, so daß jede Form
der Informationsspeicherung unzuverlässig ist. Natürlich könnte man Kopien
machen, doch Kopierverfahren machen Fehler, so daß die zu bewahrende
Information mit der Zeit immer entstellter und unlesbarer wird. Im Prinzip
verschwindet deshalb auch die ferne Vergangenheit in einem Schleier der
Ungewißheit und Unschärfe, genau wie die Zukunft. Wegen dieser Symmetrie ist
es möglich, auf die Vergangenheit in gleicher Weise wie auf die Zukunft mit
magischen Mitteln Einfluß zu nehmen.
Der Verfasser des Liber Kaos [1], der die Magie durch quantenmechanische
Überlegungen in ein Weltbild unserer Natur einbinden möchte, entwickelt diesen
symmetrischen Zeitbegriff aber noch weiter. Er postuliert, daß es neben der
Welle der Aufenthaltswahrscheinlichkeit auch noch eine spirituelle
Welle gibt, die zu jedem Materieteilchen gehört. Diese spirituelle Welle
kann mit anderen wechselwirken; und ebenso, wie das Verhalten eines
Materieteilchens durch seine Wahrscheinlichkeitswelle beeinflußt wird, nimmt
auch seine spirituelle Welle Einfluß auf das Teilchen. Mit anderen Worten, es
ist durch Magie beeinflußbar.
Die Überlagerung vieler komplexer spiritueller Wellenmuster eines lebenden
Körpers formt dann beispielsweise ein charakteristisches Muster, das man als
Seele umschreiben könnte. Jedes lebende und empfindende Wesen wäre
demzufolge, wie es die Beobachtungen Magietreibender ja auch nahelegen,
prinzipiell in der Lage, Magie zu wirken.
Kommen wir zurück zum Begriff der Zeit, dann stellt sich natürlich die
wichtige Frage, was denn mit diesem komplexen spirituellen Wellenmuster
passiert, wenn der Körper, an den es gebunden ist, stirbt. Die Materie, aus
der er besteht, zerfällt ja dann. Caroll argumentiert, daß sich daraufhin auch
die spirituelle Welle auflöst, ganz ähnlich wie eine Welle, die von einem
hineingeworfenen Stein auf einer Teichoberfläche erzeugt wird, sich
ausbreitet, kleiner wird und schließlich in der allgemeinen Unruhe der
Teichoberfläche untergeht. Aus genau diesem Grund soll es auch keine freien
spirituellen Wellenmuster geben können. Das erscheint zunächst sinnvoll, doch
haben viele Magietreibende bei ihren Astralreisen Kontakte zu freien Entitäten
bekommen. Nach dem Autor des Liber Kaos sind all das nur zufällige
Fluktuationen, kleine spirituelle Teichwellen der allgemeinen Unruhe der
Oberfläche gewissermaßen, die zufällig ein bestimmtes Muster bilden, das
schnell wieder auseinanderläuft. Ähnlich soll es sich mit Erinnerungen an
frühere Inkarnarnationen verhalten, die im Prinzip nichts weiter als
Fluktuationen aus zufällig aufgesammelten Wellenfragmenten des spirituellen
Teiches sein sollen. Aus dem gleichen Grund leugnen die Anhänger der
Chaosmagie die Existenz jeglicher Götter; diese werden als Archetypen der
menschlichen Seele klassifiziert.
Die Vortragende kann sich dieser Auffassung nicht anschließen. Die
Beobachtungen vieler Magietreibender zu unterschiedlichen Zeiten zeigen sehr
wohl bestimmte Geistwesen mit bestimmten Eigenschaften, die sehr
selbstbestimmt gehandelt haben und handeln, und die man nicht einfach als
"menschliche Archetypen" abtun kann. Vom Standpunkt der
Wahrscheinlichkeitswellen gibt es dafür sogar eine einleuchtende Erklärung:
die Wellengleichung gestattet die Ausbildung sogenannter Solitonen, das
sind Einzelwellen, die sich fortbewegen, ohne sich aufzulösen oder
auseinanderzulaufen (waren diese dem Autor des Liber Kaos nicht bekannt? [a]).
Sie sind über die Zeit hinweg quasi stabil; ein anderes Wort wäre
unsterblich.
Solche Solitonwellen werden in der Natur tatsächlich
beobachtet, sie treten beispielsweise mehrere Meter hoch in großen Flüssen
Asiens und Südamerikas zu bestimmten Jahreszeiten auf, wenn die Flut aufläuft
und können Hunderte von Kilometern weit die Flüsse hinauflaufen. Vom
Standpunkt einer spirituellen Quantenmechanik aus könnten Seelen, Astralwesen
und selbst Götter also solche Solitonwellenmuster sein.
Wir sehen also, daß auch im Bereich der Zeit wieder Wellen und
Wahrscheinlichkeiten eine erhebliche Rolle spielen, wenn wir uns auf den
quantenmechanischen Denkansatz einlassen.
Magie und Naturgesetze
Es stellt sich nun die Frage, wie eine Magie, die mit
Wahrscheinlichkeitswellen oder spirituellen Wellen zu tun hat, sich überhaupt
in eine Modellvorstellung der Natur einpassen läßt. Die Vortragende hatte
bereits in einem früheren Vortrag darauf hingewiesen [2], daß die Magie dann
notwendigerweise bereits bestehende Naturgesetze nicht verletzen darf,
beispielsweise den Satz von der Erhaltung der Energie oder den von der
Erhaltung der Masse.
Allerdings hatten wir in den vorstehenden Abschnitten gesehen, daß
Wahrscheinlichkeiten einen großen Einfluß auf das Verhalten von
Materieteilchen nehmen. Die quantenmechanische Welle tut das, und gemäß
Caroll's Postulat auch die spirituelle Welle. Wenn der Magietreibende also
Einfluß nehmen will, wird er oder sie also das eigene spirituelle Wellenmuster
in Wechselwirkung mit dem des zu beeinflussenden Materieteilchens bringen.
Dadurch ändert sich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Materieteilchens.
Ganz offensichtlich sind nach diesem Denkansatz also auch für die Magie
Wahrscheinlichkeiten im Spiel. Im Prinzip tun wir beim Wirken von Magie nichts
anderes, als die ohnehin vorhandenen Wahrscheinlichkeiten zu manipulieren. Das
kann auf atomarer Ebene eine Verbiegung der Wellenfunktion bedeuten - den Ort
also, wo das Teilchen sich aufhalten kann. Um wieder die Analogie zu der
Lostrommel zu bemühen: wir manipulieren für die Ziehung die Anzahl der Nieten
in der Trommel. Als Magietreibender, der oder die den Eintritt eines
bestimmten Ereignisses erreichen will, wird man gewissermaßen ein paar Nieten
entfernen - die Chance auf einen Gewinn wird damit größer. Natürlich hat man
trotzdem keine Chance, wenn sich von vorneherein gar kein Gewinnlos in der
Lostrommel befindet, etwa, wenn man etwas zu erreichen versucht, was durch
andere Naturgesetze verboten wird und damit unerreichbar ist.
Der quantenmechanische Ansatz zeigt uns also, daß sich mit seiner Hilfe die
Magie mit den Naturgesetzen vereinbaren läßt. Allerdings zeigt sich auch eine
unerwartete Beschränkung: ein magisches Ritual wird bei dieser
Betrachtungsweise niemals einen hundertprozentigen Erfolg garantieren können,
sondern nur die Chance für einen Eintritt des Gewünschten erhöhen. Es
ist deshalb ganz essentiell, sich nicht völlig auf magische Arbeit allein zu
verlassen und sich sonst bequem im Sessel zurückzulehnen, sondern trotzdem
noch rein weltlich mit aller Kraft für das Gelingen des Gewünschten zu sorgen.
Beispielsweise könnte jemand uns um einen "Geldzauber" bitten, der einen
Lottogewinn begünstigt. Wenn dieser Jemand allerdings dann gar kein Lotto
spielt, war das Ritual offensichtlich vergebens. Ein Erfolg kann in
diesem Fall gar nicht eintreten.
Der Ansatz der spirituellen Welle bringt uns aber noch eine weitere Erkenntnis
zum magischen Arbeiten. Wenn es wirklich das Wellenmuster der eigenen Seele
ist, das die Wechselwirkungen mit der Umwelt in Gang bringt, dann ist das also
ein Vorgang auf rein nicht-materieller Ebene. Im Prinzip sind rituelle
Handlungen dafür nicht erforderlich. Das soll nicht heißen, daß sie
überflüssig sind - rituelle Handlungen können sehr hilfreich sein, den eigenen
Geist in einen geeigneten Schwingungszustand zu bringen. Aber wie genau ein
Ritual dafür beschaffen ist oder welcher Tradition man folgt, ist nicht
wirklich wichtig. Die Hauptsache, es funktioniert für einen selbst.
Insbesondere die Hinweise, bestimmte Dinge "genau wie beschrieben und nicht
anders" zu machen, sind also eher weniger ernst zu nehmen. Und auch das ist
eine Beobachtung, die von vielen Magietreibenden geteilt wird.
Gleiche Überlegungen sind möglich für die eigene innere Überzeugung in Bezug
auf das, was man
magisch wirken will. Wenn jemand ein Rezept aus einem Magiebuch "nachkocht",
ohne wirklich sicher zu sein, daß das Ritual auch in die richtige Richtung
wirkt, so wird die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges dadurch ebenfalls
beeinflußt. Es sind also mehrere (und darunter recht handfeste rein weltliche)
Einflüsse, die das Gelingen eines magischen Rituales beeinflussen, und der
oder die Magietreibende hat dafür zu sorgen, daß alle davon eine
möglichst große Erfolgschance liefern. Und auch das ist ein Schluß aus der
diskutierten Modellvorstellung der Magie, der sich mit den Beobachtungen
vieler Magietreibender vereinbaren läßt.
Es lohnt sich vielleicht an dieser Stelle, einen groben Blick auf den
Werdegang der Chaosmagier zu werfen, denn für deren spirituellen Weg stellt
das Liber Kaos ja gewissermaßen die Grundlage dar. Im Prinzip ist der nicht
viel anders als die Ausbildung nach vielen anderen spirituellen Schulen; grob
gliedert sich die Entwicklung in die Phasen Ritualmagie, visuelle Magie und
freie Magie.
Auch der gemäß dem Liber Kaos agierende Adept der Chaosmagie lernt also
zunächst rituelles Arbeiten. Die genaue Ausgestaltung der Riten und der
benutzen Gegenstände bleibt dabei dem Einzelnen überlassen. Wie oben schon
angedeutet, dienen die Rituale in dieser Entwicklungsstufe nur dazu, das
eigene spirituelle Wellenmuster in einen geeigneten Schwingungszustand zu
versetzen. In den Riten können übrigens auch Götterfiguren oder
Fetische (wie Caroll sich ausdrückt) benutzt werden, die allerdings
nicht als Symbole des Göttlichen verstanden werden, sondern als Archetypen der
menschlichen Seele. Hier wurden offenbar Anleihen bei C. G. Jungk gemacht.
In der nächsten Phase des Weges werden dann die erlernten magischen Riten nur
noch in der Vorstellungskraft des Magietreibenden vollzogen, gewissermaßen im
meditativen Zustand visualisiert. Allgemein wird das daher auch als visuelle
Magie bezeichnet. Diese Aufeinanderfolge magischer Entwicklungsstufen ist uns
so von einer ganzen Reihe magischer Schulen bekannt und führt dazu, daß der
oder die Adept(in) nunmehr ohne physische Hilfsmittel seine oder ihre Magie
wirken kann.
In der letzten Stufe geht der Chaosmagier dann dazu über, die visuell noch
durchgeführte Magiehandlung in einen ungesteuerten Magiestrom aufzulösen.
Caroll bezeichnet das als "den ungehemmten Fluß des Chaos durch den Magier als
Medium, jederzeit und ohne Kontrolle". Es bleibt im Dunkeln, wozu das dienen
soll (möglicherweise ist es aber für Jünger des Chaos, also des Ungeformten,
ketzerisch, nach einem Zweck zu fragen).
Führt man sich vor Augen, daß die Quantenmechanik, die im atomaren Maßstab
ständig auf jede Materie einwirkt, mit ihren Wahrscheinlichkeitswellen ohnehin
für Unschärfen und Unsicherheiten sorgt, so ist das "Chaos" auch ohne das
Wirken der Chaosmagier in der physikalischen Grundlage unserer Welt ein
Dauerzustand. Die Aufforderung des Liber Kaos, das durch Magie zu verstärken,
wirkt daher auf die Vortragende, als fühlte sich ein im stürmischen Ozean
treibender Schiffbrüchiger dazu verpflichtet, dauernd kleine Wellen mit den
Händen zu erzeugen. Nette Idee, aber bedeutungslos für das Meer. Für
Magietreibende würde
ein vielversprechenderer Ansatz aber sein, auf den quantenmechanischen
Wellenkämmen des stürmischen Ozeans surfen zu gehen, um diese Metapher
einmal weiter zu strapazieren. Das freilich würde bedeuten, sich mit der
Quantenphysik und ihren Denkschemen weitergehend auseinanderzusetzen, das
Rechnen mit Unbestimmtheiten nicht zu scheuen und sich auch der
Erkenntnis nicht zu verschließen, daß auch im scheinbaren Chaos der Quanten
ganz unerwartet neue Ordnungsprinzipien warten könnten. Einem Denken, dem das
Chaos als Gottheitsersatz dient, ist das aber vielleicht nicht angenehm.
Zusammenfassung
Wir haben im vorstehenden Vortrag gesehen, daß es für eine theoretische
Modellvorstellung der Magie, die sie analog zu quantenmechanischen Wellen
durch Wellenvorgänge zu beschreiben versucht, die Möglichkeit gibt, sie
zunächst einmal mit den Modellen der theoretischen Naturwissenschaften in
Einklang zu bringen. Die Folgerungen, die sich aus dieser Theorie ergeben,
sind in vielen Bereichen mit den Erfahrungen und Beobachtungen Magietreibender
in Einklang zu bringen. Gemäß der wissenschaftlichen Vorgehensweise ist das
von Peter J. Caroll entwickelte Denkmodell daher zunächst einmal grundsätzlich
plausibel und kann für die Überlegungen aller Magietreibenden von
Nutzen sein.
Dabei ist es auch wissenschaftliche Vorgehensweise, sein Modell nicht in allen
Details zu übernehmen, sondern bestimmte Schlüsse in Frage zu stellen. Den
quantenmechanischen Ansatz des Liber Kaos zu akzeptieren heißt daher nicht,
auch die Fundierung der Chaosmagie zu übernehmen. Insbesondere an der Stelle
nicht, in der das Chaos zu einer Quasireligion wird.
Für den spirituellen Entwicklungsweg des einzelnen Magietreibenden kann daher
die angeführte Dreiteilung eine Strukturierung sein, der zu folgen sich lohnt.
Mit ritueller Magie zu beginnen, diese in visuelle Magie zu entwickeln und
dann zur Quantenmagie überzugehen kann einen individuellen Richtfaden
bilden.
Aber auch wenn man diesem Weg nicht folgen will, kann eine Beschäftigung mit
der beschriebenen Theorie sinnvoll sein, eröffnet sie doch einen neuen Blick
auf die Magie als nicht etwas Absolutes, sondern etwas, was sich in den
natürlichen Rahmen
der Möglichkeiten in unserer Welt einfügt. Das zeigt dem wachen
Geist einmal mehr, daß auch beim magischen Arbeiten der Mensch nicht der
Mittelpunkt des Seienden, sondern ein Teil des Großen Ganzen ist.
Anmerkung
[a]
Es gibt noch andere Ungereimtheiten dieser Art im Liber Kaos, beispielsweise
die Diskretisierung der Zeit (im Gegensatz zum Raum). Nun sagen aber die
Gleichungen der Relativitätstheorie, daß die Dimensionen von Raum und Zeit
grundsätzlich nicht verschieden sind. Die Vortragende wäre sehr
gespannt, was
Herr Caroll dazu zu erklären hätte. ~D. N.
Referenzen
[1] Caroll, P. J.:
Liber Kaos.
York Beach, 1992.
[2] Neisius, D.:
Grenzen der Magie.
http://www.diane-neisius.de/medusa/library/grenzen.html
© 2003 Diane Neisius.
© 2003
Medusa Iseum