Quantenmechanik und Magie

Diane Neisius

Vortrag vom 16. 03. 2003 im Healing of the Stars Lyceum


Inhalt


Einführung
Anschauliche Quantenmechanik
Die Rolle der Zeit
Magie und Naturgesetze
Zusammenfassung
Anmerkung
Referenzen

Einführung


Nur wenigen Menschen, die sich in unserer Zeit mit spirituellen Dingen beschäftigen, ist bekannt, daß es recht handfeste Versuche gibt, die Magie als solche auf eine solide theoretische Grundlage zu stellen. Solide soll dabei nicht bedeuten, hieb- und stichfeste formale Beweisbarkeit im Sinne der modernen Naturwissenschaften, sondern eher ein plausibles Gedankengebäude, das mit unseren Beobachtungen der täglichen magischen Arbeit verifiziert oder widerlegt werden kann. Solche unbewiesenen, aber auch unwiderlegten (und damit immerhin plausiblen) Modellvorstellungen sind ein Werkzeug vieler moderner Wissenschaften - auch wenn uns in populären Magazinen und Büchern immer wieder die Vorstellung vermittelt wird, all das seien gesicherte Erkenntnisse.
Für die Magie gibt es eine Überlegung [1], sie angelehnt an die Quantenmechanik als einen Teil der Natur zu erklären, und damit wird sich der vorliegende Vortrag beschäftigen. Nun wird sicher dem einen oder anderen beim Wort Quantenmechanik in unangenehmer Weise der Physikunterricht der Schule mit seinen gelegentlich schwer durchschaubaren Formeln in Erinnerung kommen, doch keine Sorge. Dieser Vortragstext soll nur eine anschauliche Vorstellung vermitteln und kommt daher völlig ohne Formeln und Diagramme aus. Alles, was man benötigt, ist das, was jeder Magietreibende ohnehin besitzen sollte: eine Menge Vorstellungskraft.

Anschauliche Quantenmechanik


Die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts standen mit ihren Modellvorstellungen vor einem ernsten Hindernis. Ihre Experimente waren weit genug entwickelt, um sich mit sehr kleinen Teilchen in der Größenordnung von Atomen zu befassen. Man baute Glimmröhren, in denen Unterdruck herrschte und die man mit Hochspannungsanlagen traktierte (ein paar der modernen Nachfahren davon sind Neonleuchten, Fernsehröhren und Röntgenapparate). Nichtsdestoweniger zeigten die Atombausteine, die man damit untersuchte, teilweise sehr widersprüchliche Eigenschaften. Elektronen zum Beispiel, die gewöhnlich den elektrischen Strom transportieren, waren, so konnte man demonstrieren, winzige Teilchen, die in einer Vakuumröhre ein kleines Flügelrädchen antreiben konnten (das kann man sich so ähnlich wie mit einem Sandstrahlgebläse vorstellen). Es gab aber auch andere Experimente, bei denen man Elektronen durch einen sehr engen Spalt fliegen ließ - und völlig überraschend bildete sich auf einem dahinter befindlichen Leuchtschirm ein Streifenmuster, wie es sonst nur Wellen erzeugen, die durch eine enge Öfnung laufen.
Waren Elektronen, Licht und all das nun Teilchen oder Wellen? Der Streit darüber hielt teilweise weit bis ins 20. Jahrhundert an. Es war der französische Physiker Louis de Broglie, der die entscheidende Überlegung prägte, daß nämlich jedes Materieteilchen mit einer Welle verknüpft ist und deshalb auch Welleneigenschaften zeigen muß.
Wie hat man sich das nun vorzustellen? Von Welleneigenschaften bemerken wir üblicherweise nichts; wenn ich nach meinem Vortrag durch die Tür nach draußen gehe, dann werde ich voraussichtlich kein Streifenmuster an der Wand bilden. Das liegt einfach daran, daß die Wellenlängen, die zu Materieteilchen gehören, unglaublich klein sind und sich deshalb in unserer normalen Wahrnehmung nicht zeigen. Man bemerkt sie erst, wenn man Atome zu untersuchen beginnt.
Stellen wir uns deshalb als Gedankenexperiment einmal vor, die Wellenlänge eines Apfels sei sehr viel größer, etwa ein halber Meter. Das ist zunächst einmal ganz abstrakt, denn was würde das schon bedeuten? Es würde bedeuten, wenn wir versuchten den Apfel wiederholt durch eine Wand mit Spalt zu werfen, würden die Auftreffpunkte an der Wand dahinter nach einiger Zeit ein Streifenmuster bilden, wie es für Wellen charakteristisch ist. Der Apfel kann also - das ist der wichtige Schluß - nicht an beliebiger Stelle sein. Seine Welle schreibt ihm gewissermaßen die möglichen Aufenthaltsorte vor.
Tatsächlich ist es so, daß schon der auf den Spalt zufliegende Apfel nicht an jedem Ort "ist". Ähnlich, wie beispielsweise in einem Konzertsaal nicht jedes Instrument an jedem Ort gleich gut zu hören ist, weil die Schallwellen eben nur Schwingungsbäuche an bestimmten Orten ausbilden, "befindet" sich der fliegende Apfel auch nur an den Schwingungsbäuchen seiner zugehörigen Welle. Diese abstrakte Welle beschreibt also tatsächlich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Apfels.
Das klingt abenteuerlich. Wie ist es denn nun mit dem ruhenden Apfel, bevor ich ihn greife und zum Spalt werfe? Man kann sich überlegen, daß es gar nicht so einfach ist, den Apfel überhaupt zu erwischen. Wenn er daliegt und eine Wellenlänge von einem halben Meter hat, ferner die Welle seine Aufenthaltswahrscheinlichkeit beschreibt, dann ist der Versuch, ihn zu packen, wie der Griff in eine Lostrommel. Man erwischt den Apfel nur mit einer gewissen Gewinnchance. Mit anderen Worten, es ist überhaupt nicht sicher zu sagen, wo innerhalb seiner Wahrscheinlichkeitswelle sich der Apfel befindet. Er ist gewissermaßen unscharf - möglicherweise würde man ihn nicht einmal sehen können, sondern nur eine mehr oder weniger neblige "Apfelwolke".
Wenn wir unsere Überlegungen mit dem Apfel und seiner Aufenthaltswahrscheinlichkeitswelle noch etwas weiter treiben, können wir uns fragen, ob man den Apfel dann überhaupt zum Beispiel in einen Karton packen könnte. Das geht solange gut, wie der Karton groß genug für die Welle ist oder seine Wände dicker als die Wellenlänge. Ein dünner Karton bereitet Probleme: wenn nämlich die Welle auch außerhalb des Kartons ist, bedeutet das, der Apfel hat dort eine geringe Chance zu sein. Vergleichen wir die Aufenthaltswahrscheinlichkeit wieder mit der Lostrommel, so kann ein Griff in die Welle (also Lostrommel) außerhalb des Kartons eine bestimmte Gewinnchance haben. Mit anderen Worten, der Apfel könnte plötzlich außerhalb des Kartons sein. Dieses Phänomen nennt man Tunneleffekt; es läßt sich in atomarer Größenordnung tatsächlich messen und ist beispielsweise dafür verantwortlich, daß man Mikrochips nicht beliebig klein bauen kann.
Man kann den Apfel aber in einen Karton mit dicken Wänden packen. Der Apfel kann nicht in einer Kartonwand sein; deshalb bleibt er drinnen. Aber auch hier ergeben sich ungewöhnliche Phänomene: beispielsweise bildet der Apfel nun eine stehende Welle im Karton. Wenn wir versuchen, etwas mit ihm anzustellen, etwa den Karton zu schütteln, damit der Apfel drin herumrollt, ist das nicht in beliebigem Maße möglich. Wir würden feststellen, daß bei einer ganz genau bestimmten Menge an Bewegungsenergie die Wahrscheinlichkeitswelle des Apfels einfach in eine höhere Oktave springt.
Dieses Verhalten zeigen Atome, und es ist zum Beispiel der Grund dafür, daß glühende Gase nur Licht ganz bestimmter Wellenlängen aufnehmen und abgeben (man nennt das Spekrallinien). Und diese ganz bestimmten, kleinen Energiebeträge, die aufgenommen oder abgegeben werden, gaben der Quantenmechanik auch ihren Namen: von lateinisch quantum, kleine Menge (auch das alte Apothekergewicht Quentchen leitet sich davon ab).

Die Rolle der Zeit


Nach dem vorstehenden Exkurs in das Reich der quantenmechanischen Phänomene müssen wir uns nun mit einem anderen, scheinbar ganz alltäglichen Phänomen beschäftigen: der Zeit.
Wir haben gesehen, daß jedes Stück Materie, das existiert, nach de Broglie mit einer Welle verknüpft ist. Wellen haben, sofern sie nicht in einem Resonator (einer Flöte zum Beispiel) eingeschlossen sind, eine sehr fundamentale Eigenschaft, sie breiten sich aus. Auch der oben angeführte quantenmechanische Apfel hätte strenggenommen gar nicht auf einem Tisch liegen können: seine Welle hätte sich sofort durch das Zimmer ausgebreitet. Eine solche Ausbreitungsbewegung führt uns aber sofort zum Begriff der Zeit - ist doch Bewegung nichts anderes als eine Wegstrecke, die in einer bestimmten Zeitspanne zurückgelegt wird.
Im Zusammenhang mit der Magie führt uns das nun sofort zu den drei weiteren Begriffen der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Denn schließlich soll mit der Magie recht häufig auf den Verlauf der Zukunft Einfluß genommen werden.
Wir hatten gesehen, daß in der Quantenmechanik Wahrscheinlichkeiten und eine allgemeine Unschärfe von Objekten eine Rolle spielen. In der Zeit ist das im Prinzip ähnlich. Der einzige Zeitpunkt, über den wir mit ziemlicher Sicherheit Bescheid wissen, ist das Jetzt, die Gegenwart. Was ist mit der Zukunft? Da gibt es nur Wahrscheinlichkeiten. Ich darf recht sicher davon ausgehen, am Ende dieses Vortrages noch am Leben zu sein; desgleichen habe ich in einem Jahr oder fünf Jahren noch gute Chancen. In zwanzig Jahren ist das schon nicht mehr so sicher; und in fünfzig Jahren werde ich mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben sein. Gleiches gilt für viele Ereignisse, die in der Zukunft eintreten können; je weiter wir uns vom Jetzt fortbewegen, um so unschärfer werden die Aussagen über die mögliche Zukunft sein müssen.
Interessanterweise gilt etwas ganz Ähnliches für die Vergangenheit. Ein Gedächtnis ist unzuverlässig und läßt sich beeinflussen, das haben wir alle vielleicht schon erlebt. Aufzeichnungen können verlorengehen, Magnetbänder verrauschen, Papier wird brüchig, der Kunststoff einer CD wird spröde. Selbst Tontafeln oder Felsentempel verwittern über eine lange Zeit, so daß jede Form der Informationsspeicherung unzuverlässig ist. Natürlich könnte man Kopien machen, doch Kopierverfahren machen Fehler, so daß die zu bewahrende Information mit der Zeit immer entstellter und unlesbarer wird. Im Prinzip verschwindet deshalb auch die ferne Vergangenheit in einem Schleier der Ungewißheit und Unschärfe, genau wie die Zukunft. Wegen dieser Symmetrie ist es möglich, auf die Vergangenheit in gleicher Weise wie auf die Zukunft mit magischen Mitteln Einfluß zu nehmen.
Der Verfasser des Liber Kaos [1], der die Magie durch quantenmechanische Überlegungen in ein Weltbild unserer Natur einbinden möchte, entwickelt diesen symmetrischen Zeitbegriff aber noch weiter. Er postuliert, daß es neben der Welle der Aufenthaltswahrscheinlichkeit auch noch eine spirituelle Welle gibt, die zu jedem Materieteilchen gehört. Diese spirituelle Welle kann mit anderen wechselwirken; und ebenso, wie das Verhalten eines Materieteilchens durch seine Wahrscheinlichkeitswelle beeinflußt wird, nimmt auch seine spirituelle Welle Einfluß auf das Teilchen. Mit anderen Worten, es ist durch Magie beeinflußbar.
Die Überlagerung vieler komplexer spiritueller Wellenmuster eines lebenden Körpers formt dann beispielsweise ein charakteristisches Muster, das man als Seele umschreiben könnte. Jedes lebende und empfindende Wesen wäre demzufolge, wie es die Beobachtungen Magietreibender ja auch nahelegen, prinzipiell in der Lage, Magie zu wirken.
Kommen wir zurück zum Begriff der Zeit, dann stellt sich natürlich die wichtige Frage, was denn mit diesem komplexen spirituellen Wellenmuster passiert, wenn der Körper, an den es gebunden ist, stirbt. Die Materie, aus der er besteht, zerfällt ja dann. Caroll argumentiert, daß sich daraufhin auch die spirituelle Welle auflöst, ganz ähnlich wie eine Welle, die von einem hineingeworfenen Stein auf einer Teichoberfläche erzeugt wird, sich ausbreitet, kleiner wird und schließlich in der allgemeinen Unruhe der Teichoberfläche untergeht. Aus genau diesem Grund soll es auch keine freien spirituellen Wellenmuster geben können. Das erscheint zunächst sinnvoll, doch haben viele Magietreibende bei ihren Astralreisen Kontakte zu freien Entitäten bekommen. Nach dem Autor des Liber Kaos sind all das nur zufällige Fluktuationen, kleine spirituelle Teichwellen der allgemeinen Unruhe der Oberfläche gewissermaßen, die zufällig ein bestimmtes Muster bilden, das schnell wieder auseinanderläuft. Ähnlich soll es sich mit Erinnerungen an frühere Inkarnarnationen verhalten, die im Prinzip nichts weiter als Fluktuationen aus zufällig aufgesammelten Wellenfragmenten des spirituellen Teiches sein sollen. Aus dem gleichen Grund leugnen die Anhänger der Chaosmagie die Existenz jeglicher Götter; diese werden als Archetypen der menschlichen Seele klassifiziert.
Die Vortragende kann sich dieser Auffassung nicht anschließen. Die Beobachtungen vieler Magietreibender zu unterschiedlichen Zeiten zeigen sehr wohl bestimmte Geistwesen mit bestimmten Eigenschaften, die sehr selbstbestimmt gehandelt haben und handeln, und die man nicht einfach als "menschliche Archetypen" abtun kann. Vom Standpunkt der Wahrscheinlichkeitswellen gibt es dafür sogar eine einleuchtende Erklärung: die Wellengleichung gestattet die Ausbildung sogenannter Solitonen, das sind Einzelwellen, die sich fortbewegen, ohne sich aufzulösen oder auseinanderzulaufen (waren diese dem Autor des Liber Kaos nicht bekannt? [a]). Sie sind über die Zeit hinweg quasi stabil; ein anderes Wort wäre unsterblich.
Solche Solitonwellen werden in der Natur tatsächlich beobachtet, sie treten beispielsweise mehrere Meter hoch in großen Flüssen Asiens und Südamerikas zu bestimmten Jahreszeiten auf, wenn die Flut aufläuft und können Hunderte von Kilometern weit die Flüsse hinauflaufen. Vom Standpunkt einer spirituellen Quantenmechanik aus könnten Seelen, Astralwesen und selbst Götter also solche Solitonwellenmuster sein.
Wir sehen also, daß auch im Bereich der Zeit wieder Wellen und Wahrscheinlichkeiten eine erhebliche Rolle spielen, wenn wir uns auf den quantenmechanischen Denkansatz einlassen.

Magie und Naturgesetze


Es stellt sich nun die Frage, wie eine Magie, die mit Wahrscheinlichkeitswellen oder spirituellen Wellen zu tun hat, sich überhaupt in eine Modellvorstellung der Natur einpassen läßt. Die Vortragende hatte bereits in einem früheren Vortrag darauf hingewiesen [2], daß die Magie dann notwendigerweise bereits bestehende Naturgesetze nicht verletzen darf, beispielsweise den Satz von der Erhaltung der Energie oder den von der Erhaltung der Masse.
Allerdings hatten wir in den vorstehenden Abschnitten gesehen, daß Wahrscheinlichkeiten einen großen Einfluß auf das Verhalten von Materieteilchen nehmen. Die quantenmechanische Welle tut das, und gemäß Caroll's Postulat auch die spirituelle Welle. Wenn der Magietreibende also Einfluß nehmen will, wird er oder sie also das eigene spirituelle Wellenmuster in Wechselwirkung mit dem des zu beeinflussenden Materieteilchens bringen. Dadurch ändert sich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Materieteilchens.
Ganz offensichtlich sind nach diesem Denkansatz also auch für die Magie Wahrscheinlichkeiten im Spiel. Im Prinzip tun wir beim Wirken von Magie nichts anderes, als die ohnehin vorhandenen Wahrscheinlichkeiten zu manipulieren. Das kann auf atomarer Ebene eine Verbiegung der Wellenfunktion bedeuten - den Ort also, wo das Teilchen sich aufhalten kann. Um wieder die Analogie zu der Lostrommel zu bemühen: wir manipulieren für die Ziehung die Anzahl der Nieten in der Trommel. Als Magietreibender, der oder die den Eintritt eines bestimmten Ereignisses erreichen will, wird man gewissermaßen ein paar Nieten entfernen - die Chance auf einen Gewinn wird damit größer. Natürlich hat man trotzdem keine Chance, wenn sich von vorneherein gar kein Gewinnlos in der Lostrommel befindet, etwa, wenn man etwas zu erreichen versucht, was durch andere Naturgesetze verboten wird und damit unerreichbar ist.
Der quantenmechanische Ansatz zeigt uns also, daß sich mit seiner Hilfe die Magie mit den Naturgesetzen vereinbaren läßt. Allerdings zeigt sich auch eine unerwartete Beschränkung: ein magisches Ritual wird bei dieser Betrachtungsweise niemals einen hundertprozentigen Erfolg garantieren können, sondern nur die Chance für einen Eintritt des Gewünschten erhöhen. Es ist deshalb ganz essentiell, sich nicht völlig auf magische Arbeit allein zu verlassen und sich sonst bequem im Sessel zurückzulehnen, sondern trotzdem noch rein weltlich mit aller Kraft für das Gelingen des Gewünschten zu sorgen. Beispielsweise könnte jemand uns um einen "Geldzauber" bitten, der einen Lottogewinn begünstigt. Wenn dieser Jemand allerdings dann gar kein Lotto spielt, war das Ritual offensichtlich vergebens. Ein Erfolg kann in diesem Fall gar nicht eintreten.
Der Ansatz der spirituellen Welle bringt uns aber noch eine weitere Erkenntnis zum magischen Arbeiten. Wenn es wirklich das Wellenmuster der eigenen Seele ist, das die Wechselwirkungen mit der Umwelt in Gang bringt, dann ist das also ein Vorgang auf rein nicht-materieller Ebene. Im Prinzip sind rituelle Handlungen dafür nicht erforderlich. Das soll nicht heißen, daß sie überflüssig sind - rituelle Handlungen können sehr hilfreich sein, den eigenen Geist in einen geeigneten Schwingungszustand zu bringen. Aber wie genau ein Ritual dafür beschaffen ist oder welcher Tradition man folgt, ist nicht wirklich wichtig. Die Hauptsache, es funktioniert für einen selbst. Insbesondere die Hinweise, bestimmte Dinge "genau wie beschrieben und nicht anders" zu machen, sind also eher weniger ernst zu nehmen. Und auch das ist eine Beobachtung, die von vielen Magietreibenden geteilt wird.
Gleiche Überlegungen sind möglich für die eigene innere Überzeugung in Bezug auf das, was man magisch wirken will. Wenn jemand ein Rezept aus einem Magiebuch "nachkocht", ohne wirklich sicher zu sein, daß das Ritual auch in die richtige Richtung wirkt, so wird die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges dadurch ebenfalls beeinflußt. Es sind also mehrere (und darunter recht handfeste rein weltliche) Einflüsse, die das Gelingen eines magischen Rituales beeinflussen, und der oder die Magietreibende hat dafür zu sorgen, daß alle davon eine möglichst große Erfolgschance liefern. Und auch das ist ein Schluß aus der diskutierten Modellvorstellung der Magie, der sich mit den Beobachtungen vieler Magietreibender vereinbaren läßt.
Es lohnt sich vielleicht an dieser Stelle, einen groben Blick auf den Werdegang der Chaosmagier zu werfen, denn für deren spirituellen Weg stellt das Liber Kaos ja gewissermaßen die Grundlage dar. Im Prinzip ist der nicht viel anders als die Ausbildung nach vielen anderen spirituellen Schulen; grob gliedert sich die Entwicklung in die Phasen Ritualmagie, visuelle Magie und freie Magie.
Auch der gemäß dem Liber Kaos agierende Adept der Chaosmagie lernt also zunächst rituelles Arbeiten. Die genaue Ausgestaltung der Riten und der benutzen Gegenstände bleibt dabei dem Einzelnen überlassen. Wie oben schon angedeutet, dienen die Rituale in dieser Entwicklungsstufe nur dazu, das eigene spirituelle Wellenmuster in einen geeigneten Schwingungszustand zu versetzen. In den Riten können übrigens auch Götterfiguren oder Fetische (wie Caroll sich ausdrückt) benutzt werden, die allerdings nicht als Symbole des Göttlichen verstanden werden, sondern als Archetypen der menschlichen Seele. Hier wurden offenbar Anleihen bei C. G. Jungk gemacht.
In der nächsten Phase des Weges werden dann die erlernten magischen Riten nur noch in der Vorstellungskraft des Magietreibenden vollzogen, gewissermaßen im meditativen Zustand visualisiert. Allgemein wird das daher auch als visuelle Magie bezeichnet. Diese Aufeinanderfolge magischer Entwicklungsstufen ist uns so von einer ganzen Reihe magischer Schulen bekannt und führt dazu, daß der oder die Adept(in) nunmehr ohne physische Hilfsmittel seine oder ihre Magie wirken kann.
In der letzten Stufe geht der Chaosmagier dann dazu über, die visuell noch durchgeführte Magiehandlung in einen ungesteuerten Magiestrom aufzulösen. Caroll bezeichnet das als "den ungehemmten Fluß des Chaos durch den Magier als Medium, jederzeit und ohne Kontrolle". Es bleibt im Dunkeln, wozu das dienen soll (möglicherweise ist es aber für Jünger des Chaos, also des Ungeformten, ketzerisch, nach einem Zweck zu fragen).
Führt man sich vor Augen, daß die Quantenmechanik, die im atomaren Maßstab ständig auf jede Materie einwirkt, mit ihren Wahrscheinlichkeitswellen ohnehin für Unschärfen und Unsicherheiten sorgt, so ist das "Chaos" auch ohne das Wirken der Chaosmagier in der physikalischen Grundlage unserer Welt ein Dauerzustand. Die Aufforderung des Liber Kaos, das durch Magie zu verstärken, wirkt daher auf die Vortragende, als fühlte sich ein im stürmischen Ozean treibender Schiffbrüchiger dazu verpflichtet, dauernd kleine Wellen mit den Händen zu erzeugen. Nette Idee, aber bedeutungslos für das Meer. Für Magietreibende würde ein vielversprechenderer Ansatz aber sein, auf den quantenmechanischen Wellenkämmen des stürmischen Ozeans surfen zu gehen, um diese Metapher einmal weiter zu strapazieren. Das freilich würde bedeuten, sich mit der Quantenphysik und ihren Denkschemen weitergehend auseinanderzusetzen, das Rechnen mit Unbestimmtheiten nicht zu scheuen und sich auch der Erkenntnis nicht zu verschließen, daß auch im scheinbaren Chaos der Quanten ganz unerwartet neue Ordnungsprinzipien warten könnten. Einem Denken, dem das Chaos als Gottheitsersatz dient, ist das aber vielleicht nicht angenehm.

Zusammenfassung


Wir haben im vorstehenden Vortrag gesehen, daß es für eine theoretische Modellvorstellung der Magie, die sie analog zu quantenmechanischen Wellen durch Wellenvorgänge zu beschreiben versucht, die Möglichkeit gibt, sie zunächst einmal mit den Modellen der theoretischen Naturwissenschaften in Einklang zu bringen. Die Folgerungen, die sich aus dieser Theorie ergeben, sind in vielen Bereichen mit den Erfahrungen und Beobachtungen Magietreibender in Einklang zu bringen. Gemäß der wissenschaftlichen Vorgehensweise ist das von Peter J. Caroll entwickelte Denkmodell daher zunächst einmal grundsätzlich plausibel und kann für die Überlegungen aller Magietreibenden von Nutzen sein.
Dabei ist es auch wissenschaftliche Vorgehensweise, sein Modell nicht in allen Details zu übernehmen, sondern bestimmte Schlüsse in Frage zu stellen. Den quantenmechanischen Ansatz des Liber Kaos zu akzeptieren heißt daher nicht, auch die Fundierung der Chaosmagie zu übernehmen. Insbesondere an der Stelle nicht, in der das Chaos zu einer Quasireligion wird.
Für den spirituellen Entwicklungsweg des einzelnen Magietreibenden kann daher die angeführte Dreiteilung eine Strukturierung sein, der zu folgen sich lohnt. Mit ritueller Magie zu beginnen, diese in visuelle Magie zu entwickeln und dann zur Quantenmagie überzugehen kann einen individuellen Richtfaden bilden.
Aber auch wenn man diesem Weg nicht folgen will, kann eine Beschäftigung mit der beschriebenen Theorie sinnvoll sein, eröffnet sie doch einen neuen Blick auf die Magie als nicht etwas Absolutes, sondern etwas, was sich in den natürlichen Rahmen der Möglichkeiten in unserer Welt einfügt. Das zeigt dem wachen Geist einmal mehr, daß auch beim magischen Arbeiten der Mensch nicht der Mittelpunkt des Seienden, sondern ein Teil des Großen Ganzen ist.

Anmerkung


[a] Es gibt noch andere Ungereimtheiten dieser Art im Liber Kaos, beispielsweise die Diskretisierung der Zeit (im Gegensatz zum Raum). Nun sagen aber die Gleichungen der Relativitätstheorie, daß die Dimensionen von Raum und Zeit grundsätzlich nicht verschieden sind. Die Vortragende wäre sehr gespannt, was Herr Caroll dazu zu erklären hätte. ~D. N.

Referenzen


[1] Caroll, P. J.:
    Liber Kaos.
    York Beach, 1992.

[2] Neisius, D.:
    Grenzen der Magie.
     http://www.diane-neisius.de/medusa/library/grenzen.html

© 2003 Diane Neisius.



© 2003 Medusa Iseum