Viel gibt es zu lesen an Spekulationen über das, was da im Jahr 1908 als
gleißend heller Feuerball über den sibirischen Himmel raste und anschließend
explodierte, um mehr als 2000 km2 Nadelwald zu vernichten. Die
einen argumentierten, es müsse ein großer Meteorit gewesen sein, andere sagen,
daß ein außerirdisches Raumschiff explodiert sein müsse, noch andere bemühen
so exotische Objekte wie ein schwarzes Mini-Loch oder eine völlig neue Art von
vulkanischen Aktivitäten. Auch Experimente "verückter Wissenschaftler" mit
einer neuen Art von "Wunderwaffe" wurden diskutiert.
Was da am Morgen des 30. Juni 1908 in der sibirischen Taiga passierte, war
lange Zeit des 20.
Jahrhunderts wirklich rätselhaft. Denn obwohl von außen alle Anzeichen eines
sehr großen Meteoritenfalles gegeben waren (des größten überhaupt im 20. Jh.),
fand sich niemals auch nur die Spur eines Kraters. Da die Beobachtungen der
Augenzeugen in dem betreffenden Gebiet Erscheinungen wie "einen gleißenden
Feuerball", eine "furchtbare Explosion", "versengende Hitze", "Aufsteigende
Rauchsäulen" und andere beschrieben, die an die uns leider vertrauten Bilder
von Atomexplosionen erinnern, gab es schon bald Spekulationen darüber, ob da
1908 nicht ein UFO abgestützt war. Denn schließlich gab es auf der Erde 1908
noch keine atomaren Geräte.
Demgegenüber argumentierten die "seriösen" Wissenschaftler, die an
Atomexplosionen erinnernden Beschreibungen seien nicht verläßlich, denn 1908
konnte keine Atomexplosion über Sibirien stattgefunden haben - im
gesamten Gebiet wurde niemals eine Spur von Radioaktivität jenseits des
natürlichen Wertes gefunden.
Beide, die UFOlogen als auch die "seriösen" Wissenschaftler, müssen sich nach
Meinung der Autorin Kritik gefallen lassen.
Die UFOlogen, weil nicht jedes
Phänomen, das uns Menschen an einen uns vertrauten technischen Vorgang
erinnert, deshalb automatisch von Außerirdischen verursacht worden sein muß.
Mutter Natur ist wesentlich einfallsreicher, als wir uns das träumen
lassen.
Die "seriösen" Wissenschaftler, weil Menschen im allgemeinen recht genau
beschreiben können, was sie gesehen haben (das beweisen die Beobachtungen des
Sikhote-Alin-Meteoritenfalles von 1947, die gut zu den Funden passen), selbst
wenn sie dafür wegen ihrer kulturellen Herkunft zuweilen recht eigenartige
Worte benutzen. Wenn aber Beobachtungen nicht zu wissenschaftliche
Modellvorstellungen passen, ist es Zeit, die Modellvorstellungen zu überprüfen
und nicht die Beobachtungen zu verwerfen.
Erst relativ spät im 20. Jahrhundert kam man auf den Gedanken, daß unser
vermeintlich sicheres Wissen über Meteoritenfälle (großer Meteorit gleich
großer Feuerball gleich großer Einschlagkrater) vielleicht doch etwas
unvollständig ist. Die Überlegungen gingen dahin, ob nicht ein Himmelskörper
aus leicht verdampfbarem Material die Erde getroffen hatte, etwa ein Brocken
Kometeneis. Merkwürdig war indessen wieder einmal, daß in den Wochen vor der
Explosion kein Komet nahe der Erde beobachtet worden war.
Trotzdem galt lange Zeit ein Bruchstück des Kometen Encke als
aussichtsreichster Kandidat für dieses Szenario. Jedoch zeigte sich, als die
Rechnerkapazitäten und damit verbunden Simulationen ausgeklügelter wurden, daß
ein Eisbrocken viel zu hoch in der Erdatmosphäre verpuffen würde, um die
verheerenden Auswirkungen des Tunguska-Ereignisses zu zeigen.
Wirklich lösen konnte man das Rätsel erst, als ein eigentlich bekanntes
Phänomen bei Meteorbeobachtungen näher theoretisch untersucht wurde, nämlich
das Auseinanderbrechen im Flug. Eigentlich haben nur solide
Eisenmeteoriten eine Chance, die Erdoberfläche in einem Stück zu erreichen.
Steinmeteoriten zerbrechen in der Regel, oft in mehreren Phasen, in mittleren
Höhen. Erst als dieses Verhalten genügend genau modelliert werden konnte (z.B.
von Hill & Goda 1993, s.u.) löste sich das Geheimnis um das
Tunguska-Ereignis.
Man geht heute davon aus, daß 1908 ein Steinmeteoroid mit einem Durchmesser
von
etwa 80 Metern mit einer Geschwindigkeit von 22 km/s in einem Winkel von 30
Grad über dem Horizont in die Atmosphäre eingetreten ist. Ein solcher
Steinmeteoroid hat eine nur geringe Materialfestigkeit; in genügend dichten
Schichten der Atmosphäre wird er sehr schnell immer weiter zerbrechen. Die
kleinen Bruchstücke werden in Luft fast sofort abgebremst. Folglich wird die
gesamte kinetische Energie des Meteoroiden (die die Energie einer großen
Wasserstoffbombe erreicht) in einem kurzen Stück der Flugbahn freigesetzt. Die
Folge ist eine Explosion, die alle Charakteristiken einer großen Atomexplosion
hat.
Für die vorliegende Website habe ich das Modell von Hill & Goda nachprogrammiert, um die Energiefreisetzung beim Auseinanderbrechen modellieren zu können. Die Rechnungen liegen den Bildern zugrunde, die allerdings mein persönliches "Artwork" sind und zum Teil von den Bildern aus dem Buch von Michael Light (s.u.) inspiriert sind (das Programm hat kein Grafik-Front-End). Falls einer meiner Leser selbst damit herumprobieren möchte, den C Quellcode stelle ich als freie Software unter der GPL (General Public License) zum Download bereit (s.u.)
Die Explosionswolke stieg nach dem Ereignis in eine geschätzte Höhe von 60 km und breitete sich auf über 200 km Durchmesser aus, ehe sie sich auflöste. Am Abend des Tages und in den folgenden Nächten gab es in Europa Leuchterscheinungen durch den feinen Staub in der hohen Atmosphäre.
Es ist etwas beklemmend, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn der
Tunguska-Meteoroid die Erde nur einige Jahrzehnte später, mitten im "Kalten
Krieg", getroffen hätte. Die atmosphärische Erscheinung der Pilzwolke wäre mit
Sicherheit als Atomschlag der jeweils verfeindeten Supermacht gedeutet worden.
Ein weltweiter thermonuklearer Krieg wäre unvermeidlich gewesen.
Vielleicht hätte, zu spät, ein Wissenschaftler gemerkt, daß gar keine
Radioaktivität freigesetzt worden wäre... wir alle haben jahrelang auf Messers
Schneide gelebt, ohne es zu wissen.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden gelegentlich durch Frühwarnsatelliten
Blitze und Feuerbälle in der Erdatmosphäre registriert, die als illegale
Atomversuche gedeutet wurden (meistens über dem Meer; u.a. Israel und
Südafrika verdächtigt). Jedoch konnte nie eine Spur gefunden werden. Es liegt
daher nahe, daß auch das solche Meteoriten waren.
Man mag sich fragen, was eigentlich passiert, wenn noch größere
Steinmeteoriten die Erde treffen. Das Ergebnis der Simulationsrechnungen ist
etwas erschreckend.
Sehr große und damit extrem seltene Asteroiden aus Stein oder Eisen oder
sehr große Kometen aus Eis erreichen die Erde in einem Stück und schlagen
riesige Krater.
Die weitaus häufigeren Asteroiden und Meteoroiden kleiner und mittlerer Größe
aus Stein dagegen zerbrechen
alle in der Atmosphäre, wo durch die Explosion ein viel höherer Schaden
angerichtet wird als bei einem Einschlag im Boden.
Dabei nimmt die Energie mit der Größe des Himmelskörpers sehr viel schneller
zu als man glaubt. Beispielsweise hat ein Steinmeteoroid von 200 m
Durchmesser, der die Erde mit 30 km/s trifft (also gar nicht so sehr viel
größer als der wahrscheinliche Auslöser des Tunguska-Ereignisses ist), eine
kinetische Energie von etwa einer Gigatonne TNT (1000 Megatonnen TNT). Das ist
mehr als das 30fache der Tunguska-Explosion. Er
würde in 6 km Höhe explodieren und einen Feuerball von 42 km Durchmesser
erzeugen. Der Blitz der Explosion wäre in 100 km Entfernung 10.000 mal so hell
wie die Sonne. Möglicherweise würde dieser Feuerball sogar einen Krater in den
Boden brennen, obwohl die Reste des Meteoroiden dort nie angekommen wären.
In einem Durchmesser von 140 km gäbe es schwerste Zerstörungen, in mehreren
hundert Kilometern Entfernung wären die Auswirkungen noch spürbar. Wegen der
großen Entfernung würde die Druckwelle lange brauchen, um alle durch die Hitze
entzündeten Brände auszublasen; möglicherweise würden die Brände in dieser
Zeit genug "Glut" erzeugen, um danach wieder aufzuflackern. Apokalyptische
Feuerstürme auf riesigen Flächen würden sich entwickeln. Eine
Katastrophe dieser Art könnte einen kleineren Staat von der Erdoberfläche
verschwinden lassen.
Der Feuerball der Explosion würde aus der Erdatmosphäre ausbrechen und eine
Schicht Gas, vom Boden hochgerissenen Staub und Rauch um die Erde legen, die
noch Wochen und Monate nach der Katastrophe das Sonnenlicht schwächen würden.
Ein "Nuklearer Winter" wäre wahrscheinlich.
Um eine globale Katastrophe auszulösen, braucht es keinen Himmelskörper, der
wie in "Deep Impact" in einem Stück in die Erdoberfläche einschlägt. Schon
Steinmeteoroiden und -asteroiden mittlerer Größe besitzen weitaus mehr Energie
als die größten menschengemachten Atomexplosionen, und sie setzen diese
Energie in sehr zerstörerischen Atmosphärenexplosionen frei.
Ein Krater wird dabei nicht unbedingt erzeugt, und dennoch sind die
Erscheinungen wie Feuerball, Druckwelle, Pilzwolke etc. und ihre verheerenden
Folgen einer sehr großen Wasserstoffbombenexplosion nicht unähnlich. Einzig
Radioaktivität wird nicht freigesetzt.
Das Tunguska-Ereignis von 1908 muß uns heutigen also nicht mehr länger
rätselhaft sein, und trotz aller wissenschaftlichen Neugier sollten wir
hoffen, daß uns ein weiteres Ereignis dieser Art erspart bleibt.